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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.04.1993
Aktenzeichen: C-65/92
Rechtsgebiete: Verordnung Nr. 1408/71/EWG vom 14.06.1971, Verordnung Nr. 2001/83/EWG vom 02.06.1983


Vorschriften:

Verordnung Nr. 1408/71/EWG vom 14.06.1971
Verordnung Nr. 2001/83/EWG vom 02.06.1983
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Rechtsvorschriften, die in einem Mitgliedstaat allen alten Einwohnern einen gesetzlich geschützten Anspruch auf eine Mindestrente geben, sind in Ansehung der Arbeitnehmer oder der ihnen Gleichgestellten, die in diesem Staat Beschäftigungszeiten zurückgelegt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt und einen Rentenanspruch haben, dem Gebiet der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 51 des Vertrages zuzuordnen, selbst wenn sie für andere Gruppen von Begünstigten anders einzuordnen sein sollten.

Eine Leistung, die alten Einwohnern gewährt wird, deren Einkünfte nicht das gesetzlich garantierte Mindesteinkommen erreichen und die den Begünstigten zusätzliche Einkünfte in Höhe des Unterschieds zwischen diesem Mindesteinkommen und einem Teil der ihnen zustehenden Einkünfte jeder Art sichert, ist daher eine "Leistung bei Alter" im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71.

2. Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, nach dem eine Neuberechnung der Leistungen gemäß Artikel 46 der Verordnung nicht vorzunehmen ist, wenn die Änderung einer der Leistungen auf Ereignissen beruht, die mit der persönlichen Situation des Arbeitnehmers nichts zu tun haben, sondern Folge der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ist, kann nicht angewendet werden, wenn es um eine Leistung bei Alter geht, die dem Begünstigten ein Mindesteinkommen sichern soll, Ausgleichsfunktion hat und deren Höhe sich naturgemäß nach Maßgabe der Entwicklung des garantierten Mindesteinkommens, das regelmässig angehoben wird, und nach Maßgabe der Entwicklung der Einkünfte des Betroffenen ändert.

Die Anwendung dieser Bestimmung würde nämlich dazu führen, daß zum einen die Zunahme der Einkünfte, die sich für den Betroffenen aus einer Anhebung der Rente ergibt, die ihm aufgrund wohlerworbener Rechte in einem anderen Mitgliedstaat gewährt wird, nicht berücksichtigt würde und daß der Betroffene systematisch Einkünfte erhalten würde, die über dem gesetzlich garantierten Mindesteinkommen lägen, und daß zum anderen nicht nur der Wanderarbeitnehmer begünstigt, sondern auch der mit dem garantierten Einkommen verfolgte Zweck verfälscht und das System der innerstaatlichen Regelung erschüttert würde.

Daher ist bei der Festsetzung und Anpassung einer Leistung zur Sicherung eines gesetzlich garantierten Mindesteinkommens, die einem Arbeitnehmer zusteht, der in einem Mitgliedstaat eine unselbständige Beschäftigung ausgeuebt hat, in diesem Staat wohnt, zu Lasten dieses Staates eine Altersrente bezieht und zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats ebenfalls eine Altersrente bezieht, Artikel 51 Absatz 2 anzuwenden. Aufgrund dessen muß bei einer Änderung des garantierten Einkommens oder der Einkünfte des Begünstigten eine Neuberechnung der Leistung vorgenommen werden.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 22. APRIL 1993. - OFFICE NATIONAL DES PENSIONS GEGEN RAFFAELE LEVATINO. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: COUR DE CASSATION - BELGIEN. - ARTIKEL 46 UND 51 DER VERORDNUNG (EWG) NR. 1408/71 - ANWENDUNG AUF DAS AELTEREN PERSONEN GARANTIERTE EINKOMMEN. - RECHTSSACHE C-65/92.

Entscheidungsgründe:

1 Die belgische Cour de cassation hat mit Urteil vom 10. Februar 1992, beim Gerichtshof eingegangen am 4. März 1992 gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 3, 46 und 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6, im folgenden: Verordnung) kodifizierten Fassung zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Office national des pensions (im folgenden: ONP), dem für die Zahlungen von Leistungen bei Alter zuständigen belgischen Träger, und R. Levatino, der das von seiner Mutter, Caterina Milazzo, betriebene Verfahren aufgenommen hat.

3 Der Akte ist zu entnehmen, daß C. Milazzo, eine italienische Staatsbürgerin, in Belgien ihren Wohnsitz hatte. Ab 1. Oktober 1967 erhielt sie eine Altersrente für Arbeiter in Belgien und ab 1. November 1967 auch eine Altersrente in Italien.

4 Ausserdem erhielt sie ab 1. Januar 1973 das in dem ° geänderten ° belgischen Gesetz vom 1. April 1969 vorgesehene garantierte Einkommen für alte Menschen (im folgenden: garantiertes Einkommen).

5 Das garantierte Einkommen ist eine Leistung, die den Begünstigten zusätzliche Einkünfte in Höhe des Unterschieds zwischen den gesetzlich garantierten Mindesteinkünften und einem Teil der ihnen zustehenden Einkünfte jeder Art sichert.

6 Das garantierte Einkommen erhält jede in Belgien wohnhafte Person, die älter ist als 65 Jahre (Männer) bzw. 60 Jahre (Frauen) und deren Einkünfte die gesetzlich garantierte Mindesthöhe nicht erreichen.

7 Nach dem belgischen Gesetz in der Fassung des Gesetzes vom 8. August 1980, die galt, als die im Ausgangsverfahren streitige Entscheidung getroffen wurde, hing die Zahlung dieser Leistung an Ausländer aber davon ab, ob ein Gegenseitigkeitsabkommen zwischen Belgien und dem Staat, um dessen Angehörigen es ging, bestand oder ob dieser Staatsbürger eine belgische Altersrente für Arbeitnehmer erhielt. Der ausländische Staatsbürger musste ausserdem mindestens während der fünf Jahre vor Erwerb des Anspruchs in Belgien gewohnt haben.

8 In Artikel 10 des Gesetzes heisst es:

"Vom garantierten Einkommen werden Alters- und Hinterbliebenenrenten sowie alle anderen Zuwendungen abgezogen, die der Antragsteller oder sein Ehegatte aufgrund einer durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeführten verbindlichen belgischen Rentenregelung... oder aufgrund einer verbindlichen ausländischen Rentenregelung erhält...

Bei der Anwendung dieses Artikels wird ausserdem nur der tatsächlich gezahlte Betrag berücksichtigt..."

9 Gemäß diesen Vorschriften kürzte die Caisse de pension de retraite et de survie, an deren Stelle 1987 das ONP getreten ist, ab 1. April 1984 das C. Milazzo zustehende garantierte Einkommen, um so den letzten bekannten Betrag ihrer ausländischen Rente zu berücksichtigen. Diese Entscheidung wurde C. Milazzo am 6. März 1984 zugestellt.

10 Dagegen rief C. Milazzo das Tribunal du travail Lüttich an und machte geltend, Artikel 51 der Verordnung lasse nicht zu, daß eine Neuberechnung des garantierten Einkommens durchgeführt werde, um die auf die Entwicklung der Lebenshaltungskosten zurückgehende Anhebung der italienischen Rente zu berücksichtigen.

11 Im Urteil vom 16. September 1987 stimmte das Tribunal du travail Lüttich der Ansicht der Klägerin zu und verurteilte das ONP, R. Levatino, ihrem Erben, die der Klägerin für die Zeit vom 1. April 1984 bis zu ihrem Ableben am 26. August 1984 zustehenden rückständigen Beträge des garantierten Einkommens zu zahlen, "ohne irgendeinen Abzug unter Hinweis darauf vorzunehmen, daß die ursprüngliche Klägerin eine ausländische Rente bezogen hat".

12 Gegen dieses Urteil legte das ONP Berufung bei der Cour du travail Lüttich ein. Dabei machte es geltend, Artikel 51 der Verordnung gelte nicht für die Neuberechnung des garantierten Einkommens, denn er beziehe sich nur auf Leistungen, die gemäß Artikel 46 der Verordnung festgesetzt werden, was auf das garantierte Einkommen nicht zutreffe.

13 Dem folgte die Cour du travail Lüttich in ihrem Urteil vom 3. Februar 1989 nicht. Sie bestätigte die Verurteilung des ONP, R. Levatino die C. Milazzo für die Zeit vom 1. April 1984 bis zum 26. August 1984 zustehenden rückständigen Beträge des garantierten Einkommens zu zahlen, "ohne die Änderungen der italienischen Rente zu berücksichtigen, die sich aus der Erhöhung der Preise und damit dem Anstieg des Index ergaben".

14 Gegen dieses Urteil rief das ONP die belgische Cour de cassation an. Es machte im wesentlichen geltend, die Artikel 46 und 51 der Verordnung seien für die Berechnung des garantierten Einkommens nicht einschlägig und ihre Anwendung könne eine Verletzung des in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung darstellen.

15 Da die Cour de cassation der Ansicht ist, für die Entscheidung des Rechtsstreits komme es auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Artikel 46 und 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahin auszulegen, daß sie im Fall des Zusammentreffens einer nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gezahlten Leistung bei Alter mit einer nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gezahlten Zusatzleistung zu einer Leistung bei Alter des Arbeitnehmers, die einem alten Menschen ein Einkommen unabhängig von der Dauer der Versicherungszeiten garantiert, anwendbar sind, wenn diese Anwendung geeignet ist, den Wanderarbeitnehmer gegenüber dem Arbeitnehmer, der nicht Wanderarbeitnehmer ist, zu begünstigen, obwohl nach Artikel 3 Absatz 1 dieser Verordnung alle Angehörigen der Mitgliedstaaten gleich zu behandeln sind?

16 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, der einschlägigen Regelung, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

17 Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage wissen, ob die Artikel 46 und 51 der Verordnung bei der Festlegung und der Anpassung einer Leistung wie des garantierten Einkommens, die ein Arbeitnehmer erhält, der in einem Mitgliedstaat einer unselbständigen Beschäftigung nachgegangen ist, der in diesem Staat wohnt, und von ihm eine Altersrente bezieht und der ausserdem in einem anderen Mitgliedstaat eine Altersrente erhält, anwendbar sind, und zwar auch dann, wenn dies dazu führen kann, daß der Wanderarbeitnehmer gegenüber einem Arbeitnehmer, der diese Eigenschaft nicht besitzt, begünstigt wird.

18 Artikel 46 der Verordnung bezieht sich auf die Festsetzung der Leistungen bei Alter, und in Artikel 51 der Verordnung ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen die "nach Artikel 46 festgestellten" Leistungen angehoben oder neu berechnet werden müssen.

19 Artikel 51 besteht aus zwei Absätzen. Absatz 1 bestimmt, daß in einem Fall, in dem die Leistungen in den betreffenden Mitgliedstaaten um einen Prozentsatz oder einen bestimmten Betrag geändert werden, um so einen Anstieg der Lebenshaltungskosten, eine Änderung des Lohnniveaus oder andere Anpassungsgründe zu berücksichtigen, dieser Prozentsatz oder Betrag unmittelbar für die nach Artikel 46 festgestellten Leistungen gilt, ohne daß eine Neuberechnung nach Artikel 46 vorzunehmen ist. Absatz 2 dagegen schreibt vor, daß eine Neuberechnung nach Artikel 46 vorzunehmen ist, wenn das Feststellungsverfahren oder die Berechnungsmethode für die Leistungen geändert wird.

20 Auf ein Vorabentscheidungsersuchen in einem Rechtsstreit, in dem es gerade um das im belgischen Gesetz vom 1. April 1969 vorgesehene garantierte Einkommen für alte Menschen ging, hat der Gerichtshof im Urteil vom 22. Juni 1972 in der Rechtssache 1/72 (Frilli, Slg. 1972, 457, Randnr. 18) festgestellt, daß im Falle von Arbeitnehmern oder ihnen Gleichgestellten, die in einem Mitgliedstaat Beschäftigungszeiten zurückgelegt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt und einen Rentenanspruch haben, Rechtsvorschriften, die allen alten Einwohnern einen gesetzlich geschützten Anspruch auf eine Mindestrente geben, in Ansehung dieser Arbeitnehmer dem Gebiet der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 51 des Vertrages und der dazu ergangenen Durchführungsvorschriften zuzurechnen seien, selbst wenn sie für andere Gruppen von Begünstigten anders einzuordnen sein sollten.

21 Eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren fragliche ist demnach als eine "Leistung bei Alter" im Sinne der Verordnung anzusehen. Gemäß Artikel 44 der Verordnung müssen die Leistungsansprüche in einem solchen Fall nach den Vorschriften des Kapitels 3 von Titel III der Verordnung festgestellt werden, d. h. insbesondere nach den Artikeln 46 und 51.

22 Das ONP ist der Ansicht, Artikel 46 gelte nicht für eine Leistung wie das garantierte Einkommen, weil es sich hier um eine beitragsfreie Leistung handele, deren Höhe sich nur nach den Einkünften des Begünstigten richte.

23 Dem kann nicht gefolgt werden.

24 Tatsächlich lassen die Vorschriften der Verordnung die Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers erkennen, beitragsfreie Leistungen bei Alter, wie das garantierte Einkommen, in den Anwendungsbereich des Artikels 46 einzubeziehen.

25 Zum einen bestimmt nämlich Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung ausdrücklich, daß diese für die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme gilt, die sich auf Leistungen bei Alter beziehen.

26 Zum anderen enthält Artikel 46 der Verordnung in Absatz 2 Buchstabe a besondere Bestimmungen für die Feststellung des sogenannten "theoretischen" Betrages beitragsfreier Leistungen.

27 Demnach und weil es an einer ausdrücklichen entgegenstehenden Vorschrift fehlt, gilt Artikel 46 für die Feststellung sozialer Leistungen wie des garantierten Einkommens.

28 Da sich Artikel 51 der Verordnung nach seinem Wortlaut auf die Anpassung der "nach Artikel 46" festgestellten Leistungen bezieht, gilt auch er grundsätzlich für Leistungen wie das garantierte Einkommen.

29 Eine Leistung wie das garantierte Einkommen weist jedoch besondere Merkmale auf. Es ist also zu prüfen, ob Artikel 51 seinem Inhalt nach mit diesen Merkmalen vereinbar ist und ob seine Anwendung nicht zu einer Erschütterung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften führen kann, von der im Urteil zu der Rechtssache Frilli gesprochen wird.

30 Tatsächlich bezweckt die Verordnung nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere das Urteil vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-227/89, Rönfeldt, Slg. 1991, I-323, Randnr. 12) nur eine Koordinierung der einzelstaatlichen Regelungen über die soziale Sicherheit, die mit ihren Unterschieden bestehen bleiben; das innerstaatliche Recht kann sie nicht ändern.

31 Insbesondere hat der Gerichtshof im Urteil in der Rechtssache Frilli (Randnrn. 20 und 21) entschieden, daß zwar die Schwierigkeiten, die die Anwendung der Gemeinschaftsregelung auf Leistungen wie das garantierte Einkommen bereiten könnte, das Recht und die Pflicht der Gerichte nicht schmälern können, den Schutz der Wanderarbeitnehmer in allen Fällen zu gewährleisten, in denen dies möglich ist, daß dieser Schutz aber nur insoweit gewährleistet werden kann und darf, als dadurch das System der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften nicht erschüttert wird.

32 Es ist also zunächst zu untersuchen, ob Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung angewandt werden kann, wenn es um eine Leistung bei Alter wie das garantierte Einkommen geht.

33 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. insbesondere Urteil vom 20. März 1991 in der Rechtssache C-93/90, Cassamali, Slg. 1991, I-1401, Randnrn. 15 und 16) ist Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung so zu verstehen, daß er, um den Verwaltungsaufwand zu verringern, den die erneute Prüfung der Situation des Arbeitnehmers bei jeder Änderung der ihm gewährten Leistungen mit sich bringen würde, eine Neuberechnung der Leistungen gemäß Artikel 46 ausschließt, wenn die Änderung einer der Leistungen auf Ereignissen beruht, die mit der persönlichen Situation des Arbeitnehmers nichts zu tun haben, sondern Folge der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage ist. Nur wenn die Änderung auf Änderungen des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode für die Leistung, insbesondere wegen Veränderung der persönlichen Situation des Arbeitnehmers, beruht, ist eine Neuberechnung der Altersrenten nach Artikel 51 Absatz 2 notwendig.

34 Zweck einer Leistung wie des garantierten Alterseinkommens ist es, die Unzulänglichkeit der dem Betroffenen zur Verfügung stehenden Einkünfte so auszugleichen, daß er das gesetzlich garantierte Mindesteinkommen erreichen kann, wenn er zumindest im Hoheitsgebiet des Staates wohnt, der die Leistung gewährt. Ein Anspruch auf die Leistung besteht, ohne daß eine bestimmte Versicherungszeit oder ° was bestimmte Empfänger anbelangt ° eine bestimmte Wohnzeit zurückgelegt worden ist. Ihre Höhe, die sich nicht nach der Dauer einer Versicherungs- oder Wohnzeit richtet, entspricht dem Unterschied zwischen dem in der innerstaatlichen Regelung festgelegten Mindesteinkommen einerseits und einem Teil der Einkünfte des Begünstigten, zu denen seine einheimischen und ausländischen Renten gehören, andererseits. Wegen der Ausgleichsfunktion dieser Leistung ändert sich ihre Höhe natürgemäß nach Maßgabe der Entwicklung des garantierten Mindesteinkommens, das regelmässig angehoben wird, und nach Maßgabe der Entwicklung der Einkünfte des Betroffenen.

35 Die Anwendung des Artikels 51 Absatz 1 würde nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes dazu führen, daß die Zunahme der Einkünfte, die sich für den Betroffenen aus der Anhebung seiner ausländischen Rente ergibt, nicht berücksichtigt würde und daß der Betroffene systematisch Einkünfte erhalten würde, die über ° und zwar auf Dauer erheblich über ° dem gesetzlich garantierten Mindesteinkommen lägen.

36 Bei dieser Anwendung des Artikels 51 Absatz 1 käme es nicht nur zu einer Begünstigung des Wanderarbeitnehmers, vielmehr würde so der mit dem garantierten Einkommen verfolgte Zweck verfälscht und das System der betreffenden innerstaatlichen Regelung erschüttert.

37 Die Anwendung dieser Bestimmung würde nämlich, weil sie eine Berücksichtigung der Einkünfte ausschließt, die normalerweise vom gesetzlich garantierten Mindesteinkommen abzuziehen sind, die Ergänzungsfunktion einer Leistung beeinträchtigen, deren Höhe sich nach den Einkünften des Betroffenen, deren Unzulänglichkeit ausgeglichen werden soll, richtet.

38 In dieser Hinsicht unterscheidet sich eine Leistung wie das garantierte Einkommen von den Altersrenten, denn deren Wesen und Feststellungsmodus werden, anders als beim garantierten Einkommen, durch die Anwendung des Artikels 51 Absatz 1 nicht verändert, auch wenn dieser die Wanderarbeitnehmer begünstigen kann.

39 Auch wenn die Anwendung des Artikels 51 Absatz 1 wegen des mit dieser Vorschrift verfolgten Zwecks dazu führen kann, daß ein Wanderarbeitnehmer höhere Leistungen erhält als ein Arbeitnehmer aufgrund von Artikel 46 der Verordnung, so darf auf diese Weise doch nicht der mit der Leistung verfolgte Zweck in Frage gestellt werden.

40 Daraus folgt, daß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung entgegen der von R. Levatino und der Kommission vertretenen Ansicht nicht auf Leistungen wie das garantierte Einkommen angewandt werden kann.

41 Sodann ist zu prüfen, ob Artikel 51 Absatz 2 bei dieser Art von Leistungen eingreift.

42 Bestimmungen wie die Artikel 8 und 10 des Gesetzes vom 1. April 1969 haben insgesamt den Zweck, sicherzustellen, daß alle oder ein Teil der Einkünfte des Betroffenen bei der Berechnung der Leistung berücksichtigt werden. Es handelt sich also um Vorschriften, die sich auf die Bestimmung des Leistungsumfangs beziehen und nicht ° wie R. Levatino und die Kommission meinen ° um Vorschriften, die verhindern sollen, daß das garantierte Einkommen mit anderen Leistungen gleicher Art zusammentrifft.

43 So gesehen wirkt sich jede Änderung der Einkünfte des Begünstigten, gleichgültig worauf sie zurückzuführen ist, auf dessen individuelle Lage im Hinblick auf das anwendbare Recht aus und führt zu einer Änderung des für die gezahlte Leistung geltenden Feststellungsmodus. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Begünstigte eine Altersrente aus einem anderen Mitgliedstaat erhält und diese ° namentlich wegen des Anstiegs der Lebenshaltungskosten ° wie im Ausgangsverfahren erhöht oder neu berechnet wird.

44 Artikel 51 Absatz 2 sieht eine Neuberechnung der Leistung bei Änderung des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode vor. Diese Vorschrift ist auf das garantierte Einkommen anzuwenden, dessen Berechnung geändert werden muß, wenn es zu einer Änderung der Höhe des garantierten Einkommens selbst oder der Einkünfte des Begünstigten kommt. Die Höhe des garantierten Einkommens muß also gemäß Artikel 51 Absatz 2 neu berechnet werden.

45 Absatz 2 von Artikel 51 führt demnach, anders als Absatz 1, nicht dazu, daß ein Wanderarbeitnehmer weit höhere Einkünfte als das gesetzlich garantierte Mindesteinkommen erhält, wenn die ihm in einem anderen Mitgliedstaat zustehenden Leistungen bei Alter angehoben werden. Diese Vorschrift kann also die einschlägige innerstaatliche Regelung nicht erschüttern und ist daher auf eine Leistung wie das garantierte Einkommen anwendbar.

46 Aus alledem folgt, daß eine Leistung wie das garantierte Alterseinkommen, die ein Arbeitnehmer erhält, der in einem Mitgliedstaat eine bezahlte Beschäftigung ausgeuebt hat, in diesem Staat wohnt und zu Lasten dieses Staates eine Altersrente bezieht, nach den Vorschriften der Artikel 46 und 51 Absatz 2 der Verordnung berechnet und angepasst werden muß.

47 Den Akten des vorlegenden Gerichts und insbesondere dem Vorbringen der Kassationsbeschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens ist schließlich zu entnehmen, daß sich die Frage, ob die Vorschriften der Verordnung auch dann anzuwenden sind, wenn sie einen Wanderarbeitnehmer gegenüber einem Arbeitnehmer, der diese Eigenschaft nicht besitzt, begünstigen, nur auf Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung bezieht, der C. Milazzo begünstigen konnte und auf den sich übrigens R. Levatino, ihr Erbe, berufen hat, um die Kürzung anzufechten, die das ONP an dem ihr zustehenden garantierten Einkommen vorgenommen hat.

48 Da Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung auf die Anpassung einer Leistung wie des garantierten Einkommens nicht anwendbar ist, ist auf diesen Punkt nicht einzugehen.

49 Jedenfalls genügt der Hinweis, daß der Gerichtshof im Urteil vom 13. Oktober 1977 in der Rechtssache 22/77 (Mura, Slg. 1977, 1699, Randnrn. 9 und 10) entschieden hat, daß die Gemeinschaftsregelung, auch wenn bei ihrer Anwendung Wanderarbeitnehmer im Verhältnis zu Arbeitnehmern, die das Herkunftsland niemals verlassen haben, bevorzugt würden, dennoch nicht diskriminierend ist, weil sich die Wanderarbeitnehmer nicht in einer Lage befinden, die der Lage von Arbeitnehmern vergleichbar ist, die ihr Land niemals verlassen haben, und daß etwaige Unterschiede zugunsten der Wanderarbeitnehmer nicht die Folge der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, sondern des Fehlens eines gemeinschaftlichen Sozialversicherungssystems oder der mangelnden Vereinheitlichung der bestehenden nationalen Systeme sind, wobei beidem durch die derzeit geltende schlichte Koordinierung nicht abgeholfen werden kann.

50 Daraus folgt, daß die Artikel 46 und 51 der Verordnung eingreifen, auch wenn so Wanderarbeitnehmer im Verhältnis zu Arbeitnehmern, die diese Eigenschaft nicht besitzen, bevorzugt werden.

51 Auf die vorgelegte Frage ist folglich zu antworten, daß die Artikel 46 und 51 Absatz 2 der Verordnung bei der Festsetzung und Anpassung einer Leistung wie des garantierten Einkommens anzuwenden sind, die einem Arbeitnehmer zusteht, der in einem Mitgliedstaat eine unselbständige Beschäftigung ausgeuebt hat, in diesem Staat wohnt, zu Lasten dieses Staates eine Altersrente bezieht und zu Lasten eines anderen Mitgliedstaats ebenfalls eine Altersrente bezieht. Dagegen gilt Artikel 51 Absatz 1 nicht für die Anpassung einer solchen Leistung.

Kostenentscheidung:

Kosten

52 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

auf die ihm von der belgischen Cour de cassation mit Urteil vom 10. Februar 1992 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Die Artikel 46 und 51 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 kodifizierten Fassung sind bei der Festsetzung und Anpassung einer Leistung wie des garantierten Einkommens anwendbar, die einem Arbeitnehmer zusteht, der in einem Mitgliedstaat eine unselbständige Beschäftigung ausgeuebt hat, in diesem Staat wohnt, zu Lasten dieses Staates eine Altersrente bezieht und zu Lasten eines anderen Mitgliedstaates ebenfalls eine Altersrente erhält. Dagegen gilt Artikel 51 Absatz 1 dieser Verordnung nicht für die Anpassung einer solchen Leistung.

Ende der Entscheidung

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