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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 28.03.2000
Aktenzeichen: C-7/98
Rechtsgebiete: Brüsseler Übereinkommen


Vorschriften:

Brüsseler Übereinkommen
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Zwar können die Vertragsstaaten aufgrund des Vorbehalts in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen selbst festlegen, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, doch gehört die Abgrenzung dieses Begriffes zur Auslegung des Übereinkommens. Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen. (vgl. Randnrn. 22-23)

2 Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf die Berufung auf die Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Absatz 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat, nicht allein darauf stützen, daß das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit auf die Staatsangehörigkeit des Opfers einer Straftat gegründet hat. (vgl. Randnr. 34 und Tenor)

3 Eine Anwendung der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen kommt nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stuende. Damit das Verbot der Nachprüfung der ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit gewahrt bleibt, muß es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln. (vgl. Randnr. 37)

4 Die Anwendung der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nr. 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist in den Ausnahmefällen für zulässig zu erachten, in denen die durch die Rechtsvorschriften des Ursprungsstaats und das Übereinkommen selbst verbürgten Garantien nicht genügt haben, um den Beklagten vor einer offensichtlichen Verletzung seines in der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannten Rechts, sich vor dem Gericht des Ursprungsstaats zu verteidigen, zu schützen. Artikel II des dem Übereinkommen beigefügten Protokolls, wonach Personen, die ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat haben und vor den Strafgerichten eines anderen Vertragsstaats, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, wegen einer lediglich fahrlässig begangenen Straftat verfolgt werden, auch ohne persönliches Erscheinen das Recht auf einen Verteidiger haben, kann deshalb nicht dahin ausgelegt werden, daß er das Gericht des Vollstreckungsstaats daran hinderte, im Rahmen der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat und wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat angeklagt worden ist, zu berücksichtigen, daß das Gericht des Ursprungsstaats diesem das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen. (vgl. Randnrn. 44-45 und Tenor)


Urteil des Gerichtshofes vom 28. März 2000. - Dieter Krombach gegen André Bamberski. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesgerichtshof - Deutschland. - Brüsseler Übereinkommen - Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen - Öffentliche Ordnung. - Rechtssache C-7/98.

Parteien:

In der Rechtssache C-7/98

wegen eines dem Gerichtshof gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof vom Bundesgerichtshofs (Deutschland) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit

Dieter Krombach

gegen

André Bamberski

vorgelegten Ersuchens um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 27 Nummer 1 des genannten Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderter Text - S. 77) und vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1)

erläßt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten J. C. Moitinho de Almeida, D. A. O. Edward, L. Sevón und R. Schintgen sowie der Richter P. J. G. Kapteyn, C. Gulmann, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann (Berichterstatter) und H. Ragnemalm,

Generalanwalt: A. Saggio

Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin

unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen

- von A. Bamberski, vertreten durch Rechtsanwalt H. Klingelhöffer, Ettlingen,

- der deutschen Regierung, vertreten durch Regierungsdirektor R. Wagner, Bundesministerium der Justiz, als Bevollmächtigten,

- der französischen Regierung, vertreten durch K. Rispal-Bellanger, Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, und R. Loosli-Surrans, Chargée de mission in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,

- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater J. L. Iglesias Buhigues, als Bevollmächtigten, im Beistand von Rechtsanwalt B. Wägenbaur, Brüssel,

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der französischen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 2. März 1999,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. September 1999,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 4. Dezember 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Januar 1998, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof drei Fragen nach der Auslegung von Artikel 27 Nummer 1 des genannten Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung der Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, und - geänderter Text - S. 77) und vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1) zu diesem Übereinkommen (im folgenden: Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen A. Bamberski, wohnhaft in Frankreich, und D. Krombach, wohnhaft in Deutschland, wegen der Vollstreckung eines Urteils der Cour d'assises Paris (Frankreich) vom 13. März 1995 in Deutschland, mit dem D. Krombach verurteilt wurde, an A. Bamberski, der vor dem Strafgericht zivilrechtliche Ansprüche geltend gemacht hatte, 350 000 FRF Schadensersatz zu zahlen.

Das Übereinkommen

3 Das Übereinkommen ist nach seinem Artikel 1 Absatz 1 "in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne daß es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt".

4 Es regelt die Frage der Zuständigkeit in seinem Artikel 2 Absatz 1 grundsätzlich so, daß Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Staates zu verklagen sind. Gemäß Artikel 3 Absatz 2 darf sich der Kläger nicht auf bestimmte exorbitante Zuständigkeiten stützen, so in Frankreich nicht auf die Zuständigkeiten nach den Artikeln 14 und 15 des Zivilgesetzbuchs.

5 Das Übereinkommen enthält außerdem eine Reihe spezieller Zuständigkeitsregeln. So heißt es in seinem Artikel 5:

"Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem anderen Vertragsstaat verklagt werden:

...

4. wenn es sich um eine Klage auf Schadensersatz oder auf Wiederherstellung des früheren Zustands handelt, die auf eine mit Strafe bedrohte Handlung gestützt wird, vor dem Strafgericht, bei dem die öffentliche Klage erhoben ist, soweit dieses Gericht nach seinem Recht über zivilrechtliche Ansprüche erkennen kann".

6 Als Grundregel für die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen bestimmt Artikel 31 Absatz 1 des Übereinkommens, daß die in einem Vertragsstaat ergangenen Entscheidungen, die in diesem Staat vollstreckbar sind, in einem anderen Vertragsstaat vollstreckt werden, wenn sie dort auf Antrag eines Berechtigten mit der Vollstreckungsklausel versehen worden sind.

7 Gemäß Artikel 34 Absatz 2 kann der Antrag "nur aus einem der in Artikel 27 und 28 angeführten Gründe abgelehnt werden".

8 Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens bestimmt:

"Eine Entscheidung wird nicht anerkannt:

1. wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung des Staates, in dem sie geltend gemacht wird, widersprechen würde".

9 Artikel 28 Absatz 3 des Übereinkommens lautet:

"Die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaats darf, unbeschadet der Bestimmungen des ersten Absatzes, nicht nachgeprüft werden; die Vorschriften über die Zuständigkeit gehören nicht zur öffentlichen Ordnung im Sinne des Artikels 27 Nummer 1."

10 Die Artikel 29 und 34 Absatz 3 des Übereinkommens bestimmen:

"Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls auf ihre Gesetzmäßigkeit nachgeprüft werden."

11 Artikel II des dem Übereinkommen beigefügten Protokolls (im folgenden: Protokoll), das nach Artikel 65 des Übereinkommens dessen Bestandteil ist, lautet:

"Unbeschadet günstigerer innerstaatlicher Vorschriften können Personen, die ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat haben und die vor den Strafgerichten eines anderen Vertragsstaats, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, wegen einer fahrlässig begangenen Straftat verfolgt werden, sich von hierzu befugten Personen verteidigen lassen, selbst wenn sie persönlich nicht erscheinen.

Das Gericht kann jedoch das persönliche Erscheinen anordnen; wird diese Anordnung nicht befolgt, so braucht die Entscheidung, die über den Anspruch aus einem Rechtsverhältnis des Zivilrechts ergangen ist, ohne daß sich der Angeklagte verteidigen konnte, in den anderen Vertragsstaaten weder anerkannt noch vollstreckt zu werden."

Der Ausgangsrechtsstreit

12 Gegen D. Krombach wurde in Deutschland wegen des Todes einer vierzehnjährigen französischen Staatsangehörigen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Das Verfahren wurde eingestellt.

13 Auf eine Strafanzeige von A. Bamberski, des Vaters des jungen Mädchens, wurde auch in Frankreich, dessen Gerichte sich wegen der französischen Staatsangehörigkeit des Opfers für zuständig erachteten, gegen D. Krombach ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das dazu führte, daß gegen ihn durch Urteil der Untersuchungskammer der Cour d'appel Paris Anklage vor der Cour d'assises Paris (Schwurgericht) erhoben wurde.

14 Die Anklage und die vor dem Strafgericht erhobene Zivilklage des Vaters des Opfers (im folgenden: Adhäsionsverfahren) wurden D. Krombach zugestellt. Obwohl sein persönliches Erscheinen angeordnet worden war, blieb er der Hauptverhandlung fern. Die Cour d'assises Paris wandte daraufhin das Abwesenheitsverfahren nach den Artikeln 627 ff. der französischen Strafprozeßordnung an. Gemäß deren Artikel 630, wonach für den abwesenden Angeklagten kein Verteidiger auftreten darf, erließ sie ihr Urteil, ohne die von D. Krombach bevollmächtigten Verteidiger gehört zu haben.

15 Mit Urteil vom 9. März 1995 verurteilte die Cour d'assises D. Krombach wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge ohne Tötungsabsicht zu 15 Jahren Zuchthaus. Mit weiterem Urteil vom 13. März 1995 verurteilte sie ihn im Adhäsionsverfahren ferner - ebenfalls in Abwesenheit - zur Zahlung von 350 000 FRF Schadensersatz an A. Bamberski.

16 Auf Antrag von A. Bamberski ordnete der Vorsitzende einer Zivilkammer des örtlich zuständigen Landgerichts Kempten an, das Urteil vom 13. März 1995 mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. D. Krombach erhob dagegen zunächst Beschwerde beim Oberlandesgericht und nach deren Zurückweisung Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof. Zur Begründung macht er geltend, er habe sich vor seiner Verurteilung durch das französische Gericht nicht wirksam verteidigen können.

17 Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Können die Vorschriften über die Zuständigkeit dann zur öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens gehören, wenn der Ursprungsstaat gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaats hat (Artikel 2 Absatz 1 des Brüsseler Übereinkommens), seine Zuständigkeit allein auf die Staatsangehörigkeit des Verletzten (wie in Artikel 3 Absatz 2 des Übereinkommens betreffend Frankreich) gestützt hat?

Falls die Frage zu 1. verneint wird:

2. Darf das Gericht des Vollstreckungsstaats (Artikel 31 Absatz 1 des Übereinkommens) im Rahmen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens berücksichtigen, daß das Strafgericht des Ursprungsstaats die Verteidigung des Schuldners durch einen Rechtsanwalt in einem zivilrechtlichen Adhäsionsverfahren (Artikel II des Protokolls) zurückgewiesen hat, weil der in einem anderen Vertragsstaat wohnende Beklagte wegen einer vorsätzlichen Straftat angeklagt und nicht persönlich erschienen ist?

Falls auch die Frage zu 2. verneint wird:

3. Darf das Gericht des Vollstreckungsstaats im Rahmen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens berücksichtigen, daß das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit allein auf die Staatsangehörigkeit des Verletzten gestützt (siehe oben Frage 1) und zusätzlich dem Beklagten die Vertretung durch einen Rechtsanwalt (siehe oben Frage 2) verwehrt hat?

Vorbemerkungen

18 Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Begriff "öffentliche Ordnung des Vollstreckungsstaats" im Sinne von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens auszulegen ist.

19 Das Übereinkommen soll durch ein einfaches und schnelles Vollstreckungsverfahren soweit wie möglich die Freizügigkeit von Urteilen herstellen (vgl. z. B. Urteile vom 2. Juni 1994 in der Rechtssache C-414/92, Solo Kleinmotoren, Slg. 1994, I-2237, Randnr. 20, und vom 29. April 1999 in der Rechtssache C-267/97, Coursier, Slg. 1999, I-2543, Randnr. 25).

20 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich, daß dieses Verfahren ein eigenständiges und geschlossenes System darstellt, das von den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten unabhängig ist, und daß es der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Gemeinschaftsrechtsordnung sowie die Ziele des Übereinkommens gemäß dem ihm zugrunde liegenden Artikel 220 EG-Vertrag (jetzt Artikel 293 EG) erfordern, daß die Vorschriften des Übereinkommens und die dazu ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofes in allen Vertragsstaaten einheitlich angewandt werden (vgl. insbesondere Urteil vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-432/93, SISRO, Slg. 1995, I-2269, Randnr. 39).

21 Artikel 27 des Übereinkommens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes eng auszulegen, da er ein Hindernis für die Verwirklichung eines der grundlegenden Ziele des Übereinkommens bildet (Urteil Solo Kleinmotoren, Randnr. 20). Was speziell die Ordre-Public-Klausel in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens betrifft, so kann sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nur in Ausnahmefällen eine Rolle spielen (Urteile vom 4. Februar 1988 in der Rechtssache 145/86, Hoffmann, Slg. 1988, 645, Randnr. 21, und vom 10. Oktober 1996 in der Rechtssache C-78/95, Hendrikman und Feyen, Slg. 1996, 4943, Randnr. 23).

22 Wenngleich die Vertragsstaaten somit aufgrund des Vorbehalts in Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens selbst festlegen können, welche Anforderungen sich nach ihren innerstaatlichen Anschauungen aus ihrer öffentlichen Ordnung ergeben, gehört doch die Abgrenzung dieses Begriffes zur Auslegung des Übereinkommens.

23 Auch wenn es demnach nicht Sache des Gerichtshofes ist, den Inhalt der öffentlichen Ordnung eines Vertragsstaats zu definieren, hat er doch über die Grenzen zu wachen, innerhalb deren sich das Gericht eines Vertragsstaats auf diesen Begriff stützen darf, um der Entscheidung eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats die Anerkennung zu versagen.

24 Insoweit ist zu beachten, daß das Übereinkommen auf der Grundlage von Artikel 220 EG-Vertrag geschlossen wurde und daß seine Bestimmungen in dem durch diesen Artikel festgelegten Rahmen im Zusammenhang mit dem EG-Vertrag stehen (Urteil vom 10. Februar 1994 in der Rechtssache C-398/92, Mund & Fester, Slg. 1994, I-467, Randnr. 12).

25 Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (vgl. z. B. Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 33). Dabei läßt er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. In diesem Rahmen kommt der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) besondere Bedeutung zu (vgl. z. B. Urteil vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnr. 18).

26 So hat der Gerichtshof ausdrücklich den aus diesen Grundrechten entwickelten allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz anerkannt, daß jedermann Anspruch auf einen fairen Prozeß hat (Urteile vom 17. Dezember 1998 in der Rechtssache C-185/95 P, Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1998, I-8417, Randnrn. 20 f., und vom 11. Januar 2000 in den verbundenen Rechtssachen C-174/98 P und C-189/98 P, Niederlande und Van der Wal/Kommission, Slg. 2000, I-0000, Randnr. 17).

27 Diese Rechtsprechung wird durch Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union (nach Änderung jetzt Artikel 6 Absatz 2 EU) bestätigt. Nach dieser Bestimmung achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts.

28 Die Vorlagefragen sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.

Zur ersten Frage

29 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Gericht des Vollstreckungsstaats im Rahmen der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat, berücksichtigen darf, daß das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit auf die Staatsangehörigkeit des Opfers einer Straftat gestützt hat.

30 Aus dem Wortlaut von Artikel 1 Absatz 1 des Übereinkommens folgt, daß es auch auf zivilrechtliche Entscheidungen eines Strafgerichts Anwendung findet (Urteil vom 21. April 1993 in der Rechtssache C-172/91, Sonntag, Slg. 1993, I-1963, Randnr. 16).

31 Unbeschadet bestimmter in Artikel 28 Absatz 1 des Übereinkommens abschließend aufgeführter Fälle, von denen im Ausgangssachverhalt keiner einschlägig ist, darf das Gericht des Vollstreckungsstaats nach der Regelung des Übereinkommens die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaats nicht nachprüfen. Dieses in Artikel 28 Absatz 3 erster Halbsatz des Übereinkommens niedergelegte Grundprinzip wird durch den zweiten Halbsatz dieser Bestimmung bekräftigt, wonach "die Vorschriften über die Zuständigkeit... nicht zur öffentlichen Ordnung im Sinne des Artikels 27 Nummer 1 [gehören]".

32 Demnach kann einer in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung nicht unter Berufung auf die öffentliche Ordnung des Vollstreckungsstaats die Anerkennung oder Vollstreckung allein mit der Begründung versagt werden, daß das Gericht des Ursprungsstaats nicht die Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens beachtet habe.

33 Angesichts des allgemein gefaßten Wortlauts von Artikel 28 Absatz 3 des Übereinkommens muß dies grundsätzlich auch dann gelten, wenn das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit gegenüber einem im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats wohnhaften Beklagten zu Unrecht aus einer Bestimmung hergeleitet haben sollte, die auf das Kriterium der Staatsangehörigkeit abstellt.

34 Auf die erste Frage ist deshalb zu antworten, daß das Gericht des Vollstreckungsstaats die Berufung auf die Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Absatz 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat, nicht allein darauf stützen darf, daß das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit auf die Staatsangehörigkeit des Opfers einer Straftat gegründet hat.

Zur zweiten Frage

35 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob das Gericht des Vollstreckungsstaats im Rahmen der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat und wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat angeklagt worden ist, berücksichtigen darf, daß das Gericht des Ursprungsstaats ihm das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen.

36 Mit dem Verbot der Nachprüfung einer ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit verbieten es die Artikel 29 und 34 Absatz 3 des Übereinkommens dem Gericht des Vollstreckungsstaats, die Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung nur deshalb abzulehnen, weil die vom Gericht des Ursprungsstaats angewandten Rechtsvorschriften von denen abweichen, die das Gericht des Vollstreckungsstaats im Fall seiner eigenen Befassung mit dem Rechtsstreit angewandt hätte. Ebensowenig darf das Gericht des Vollstreckungsstaats nachprüfen, ob das Gericht des Ursprungsstaats den Fall rechtlich und tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat.

37 Eine Anwendung der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens kommt nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats stuende. Damit das Verbot der Nachprüfung der ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit gewahrt bleibt, muß es sich bei diesem Verstoß um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts handeln.

38 Das in der Vorlagefrage angesprochene Recht auf einen Verteidiger ist für die Gestaltung und Durchführung eines fairen Prozesses von herausragender Bedeutung und gehört zu den Grundrechten, die sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergeben.

39 So hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in mehreren Entscheidungen zu Strafverfahren festgestellt, daß das - wenngleich nicht absolut gegebene - Recht jedes Angeklagten, sich von einem ihm erforderlichenfalls von Amts wegen beizuordnenden Rechtsanwalt tatsächlich verteidigen zu lassen, zu den grundlegenden Merkmalen eines fairen Prozesses gehört und daß ein Angeklagter dieses Recht nicht bereits dadurch verliert, daß er nicht in der Hauptverhandlung zugegen ist (vgl. Urteile des EGMR vom 23. November 1993 im Fall Poitrimol/Frankreich, Serie A, Nr. 277-A, vom 22. September 1994 im Fall Pelladoah/Niederlande, Serie A, Nr. 297-B, und vom 21. Januar 1999 im Fall Van Geyseghem/Belgien, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).

40 Aus dieser Rechtsprechung folgt, daß das nationale Gericht eines Vertragsstaats berechtigt ist, es als eine offensichtliche Grundrechtsverletzung anzusehen, wenn dem Verteidiger eines nicht in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten verwehrt wird, für diesen aufzutreten.

41 Der Bundesgerichtshof wirft indessen die Frage auf, ob das Gericht des Vollstreckungsstaats angesichts des Wortlauts von Artikel II des Protokolls eine solche Rechtsverletzung im Rahmen von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens berücksichtigen dürfe. Artikel II des Protokolls, der eine durch die möglichen zivil- und handelsrechtlichen Folgen eines strafgerichtlichen Urteils gerechtfertigte Erstreckung des Geltungsbereichs des Übereinkommens auf das Gebiet des Strafrechts enthält (Urteil vom 26. Mai 1981 in der Rechtssache 157/80, Rinkau, Slg. 1981, 1391, Randnr. 6), gewährleistet das Recht, sich ohne persönliches Erscheinen vor den Strafgerichten eines Vertragsstaats verteidigen zu lassen, diesem Staat nicht angehörenden und in einem anderen Vertragsstaat wohnenden Personen nur dann, wenn sie wegen einer fahrlässig begangenen Straftat verfolgt werden. Diese Beschränkung ist dahin ausgelegt worden, daß das Übereinkommen das Recht, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich erscheinen zu müssen, offensichtlich solchen Personen versagen wollte, die wegen Straftaten verfolgt werden, deren Schwere eine solche Versagung rechtfertigt (Urteil Rinkau, Randnr. 12).

42 Der Rechtsprechung des Gerichtshofes, die auf der Grundlage der oben in den Randnummern 25 f. dargelegten Prinzipien entwickelt wurde, ist jedoch zu entnehmen, daß die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer den Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts bildet, der auch dann sichergestellt werden muß, wenn eine Regelung für das fragliche Verfahren fehlt (vgl. z. B. Urteile vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-135/92, Fiskano/Kommission, Slg. 1994, I-2885, Randnr. 39, und vom 24. Oktober 1996 in der Rechtssache C-32/95 P, Kommission/Lisrestal u. a., Slg. 1996, I-5373, Randnr. 21).

43 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, daß das Übereinkommen zwar die Vereinfachung der Förmlichkeiten für die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen sicherstellen soll, daß dieses Ziel aber nicht durch eine Beeinträchtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erreicht werden darf (Urteil vom 11. Juni 1985 in der Rechtssache 49/84, Debaecker und Plouvier, Slg. 1985, 1779, Randnr. 10).

44 Aus dieser Entwicklung der Rechtsprechung folgt, daß die Anwendung der Ordre-Public-Klausel in den Ausnahmefällen für zulässig zu erachten ist, in denen die durch die Rechtsvorschriften des Ursprungsstaats und das Übereinkommen selbst verbürgten Garantien nicht genügt haben, um den Beklagten vor einer offensichtlichen Verletzung seines in der EMRK anerkannten Rechts, sich vor dem Gericht des Ursprungsstaats zu verteidigen, zu schützen. Artikel II des Protokolls kann deshalb nicht dahin ausgelegt werden, daß er das Gericht des Vollstreckungsstaats daran hinderte, im Rahmen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens zu berücksichtigen, daß das mit einer Klage auf Schadensersatz wegen einer Straftat befaßte Gericht des Ursprungsstaats dem Verteidiger des wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat verfolgten Angeklagten nur deshalb verwehrt hat, für den Angeklagten aufzutreten, weil dieser nicht in der Hauptverhandlung anwesend war.

45 Auf die zweite Frage ist deshalb zu antworten, daß das Gericht des Vollstreckungsstaats im Rahmen der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat und wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat angeklagt worden ist, berücksichtigen darf, daß das Gericht des Ursprungsstaats diesem das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen.

Zur dritten Vorlagefrage

46 Angesichts der Antwort auf die zweite Frage braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

47 Die Auslagen der deutschen und der französischen Regierung sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 4. Dezember 1997 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 27 Nummer 1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der Fassung der Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland ist wie folgt auszulegen:

1. Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf die Berufung auf die Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat, nicht allein darauf stützen, daß das Gericht des Ursprungsstaats seine Zuständigkeit auf die Staatsangehörigkeit des Opfers einer Straftat gegründet hat.

2. Das Gericht des Vollstreckungsstaats darf im Rahmen der Ordre-Public-Klausel des Artikels 27 Nummer 1 des Übereinkommens im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Staates hat und wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat angeklagt worden ist, berücksichtigen, daß das Gericht des Ursprungsstaats diesem das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen.

Ende der Entscheidung

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