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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 26.06.1990
Aktenzeichen: C-8/89
Rechtsgebiete: VO Nr. 2727/75/EWG, EWGV


Vorschriften:

VO Nr. 2727/75/EWG Art. 4 b
EWGV Art. 40
EWGV Art. 43
EWGV Art. 177
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Die zusätzliche Mitverantwortungsabgabe kann nicht als steuerliche Belastung angesehen werden; ihre Rechtmässigkeit kann daher nicht anhand von Kriterien beurteilt werden, die dem Steuerrecht entnommen sind. Die Abgabe stellt nämlich eine Maßnahme der Agrarpolitik dar, die das Wachstum auf dem durch strukturelle Überschüsse gekennzeichneten Getreidemarkt dadurch begrenzen und verhindern soll, daß sie einen unmittelbaren Druck auf den an die Getreideerzeuger gezahlten Preis ausübt. Dieser wirtschaftliche Zweck und die angestrebte abschreckende Wirkung rechtfertigen es auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit, daß die Abgabe zum Zeitpunkt der Vermarktung des Getreides vorläufig - und vorbehaltlich ihrer vollständigen oder teilweisen Erstattung für den Fall, daß am Ende des fraglichen Wirtschaftsjahres festgestellt wird, daß die garantierte Hoechstmenge nicht überschritten worden ist oder daß ihre Überschreitung einen bestimmten Prozentsatz nicht übersteigt - erhoben wird.

2. Nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit sind Maßnahmen, durch die den Wirtschaftsteilnehmern finanzielle Belastungen auferlegt werden, nur rechtmässig, wenn sie zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Bei der gerichtlichen Nachprüfung der Beachtung dieser Voraussetzungen ist allerdings zu berücksichtigen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, der seiner politischen Verantwortung, die ihm die Artikel 40 und 43 EWG-Vertrag übertragen, entspricht.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (FUENFTE KAMMER) VOM 26. JUNI 1990. - VINCENZO ZARDI GEGEN CONSORZIO AGRARIO PROVINCIALE DI FERRARA. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA DI COPPARO - ITALIEN. - LANDWIRTSCHAFT - ZUSAETZLICHE MITVERANTWORTUNGSABGABE AUF DEM GETREIDESEKTOR. - RECHTSSACHE C-8/89.

Entscheidungsgründe:

1 Die Pretura di Copparo hat mit Beschluß vom 14. Dezember 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Januar 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Gültigkeit des Artikels 4 b der Verordnung ( EWG ) Nr. 2727/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide in der durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 1097/88 des Rates vom 25. April 1988 ( ABl. L 110, S. 7 ) geänderten Fassung und nach der Gültigkeit der Verordnung ( EWG ) Nr. 1432/88 der Kommission vom 26. Mai 1988 mit Durchführungsbestimmungen für die Mitverantwortungsabgabe auf Getreide ( ABl. L 131, S. 37 ) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Vincenzo Zardi, Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebes in Copparo ( Italien ), und dem Consorzio agrario provinciale di Ferrara. Letzteres hatte vom Kaufpreis für eine Partie von 1 186,42 Doppelzentnern Mais, die es vom Kläger gekauft hatte, einen Betrag in Höhe von 1 019 372 LIT als zusätzliche Mitverantwortungsabgabe auf Getreide abgezogen.

3 Mit seiner Klage bei der Pretura di Copparo beantragt der Kläger die Verurteilung des Consorzio agrario provinciale di Ferrara zur Erstattung des einbehaltenen Betrages mit der Begründung, die Bestimmungen über die Erhebung dieser Abgabe verstießen gegen die fundamentalen Grundsätze der Verhältnismässigkeit und der Gleichbehandlung.

4 In Anbetracht dessen hat die Pretura di Copparo das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt :

"Sind Artikel 4 b der Verordnung ( EWG ) Nr. 2727/75 über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide, eingeführt durch Artikel 1 der Verordnung ( EWG ) Nr. 1097/88 des Rates vom 25. April 1988, und die Verordnung ( EWG ) Nr. 1432/88 der Kommission vom 26. Mai 1988 nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit gültig, soweit sie die Getreideerzeuger verpflichten, die zusätzliche Mitverantwortungsabgabe zum Zeitpunkt der Vermarktung des Erzeugnisses voll zu entrichten, bevor das Ereignis der Überschreitung der von den Gemeinschaftsorganen festgesetzten garantierten Hoechstmengen eingetreten ist und unabhängig davon, ob dieses Ereignis ganz oder teilweise eintreten kann?"

5 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, der fraglichen Gemeinschaftsbestimmungen, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

6 Artikel 4 b der Verordnung Nr. 2727/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 in der durch die Verordnung Nr. 1097/88 des Rates vom 25. April 1988 geänderten Fassung enthält im wesentlichen folgende Regelung : Bei Festsetzung der Preise bestimmt der Rat für einen Zeitraum von drei Wirtschaftsjahren eine garantierte Hoechstmenge für alle Getreidearten. Von den Erzeugern wird eine zusätzliche Mitverantwortungsabgabe in Höhe von 3 % des für Weichweizen geltenden Interventionspreises auf alle während des fraglichen Wirtschaftsjahres vermarkteten Getreidearten erhoben. Die zusätzliche Abgabe wird dem Erzeuger voll erstattet, wenn die Getreideerzeugung des betreffenden Wirtschaftsjahres der garantierten Hoechstmenge entspricht oder darunter liegt; sie wird teilweise erstattet, wenn die garantierte Hoechstmenge um weniger als 3 % überschritten wird. Dagegen erfolgt keine Erstattung, wenn die garantierte Hoechstmenge um mehr als 3 % überschritten wird.

7 Die Verordnung Nr. 1432/88 der Kommission vom 26. Mai 1988 enthält Durchführungsbestimmungen für die zusätzliche Mitverantwortungsabgabe, und zwar insbesondere über den anspruchsbegründenden Tatbestand, die Erhebung und die Erstattung dieser Abgabe.

8 Aus den Gründen des Vorlagebeschlusses und dem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung ergibt sich, daß die Vorabentscheidungsfrage in Wirklichkeit zwei Aspekte aufweist. Zum einen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern durch die Gemeinschaftsbestimmungen eine finanzielle Belastung in Höhe des Gesamtbetrags der zusätzlichen Mitverantwortungsabgabe auferlegt werden darf, bevor die Abgabe und ihre Höhe sicher und endgültig feststehen. Zum anderen wird Auskunft darüber begehrt, ob diese Bestimmungen deshalb gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstossen, weil sie eine derartige finanzielle Belastung bereits zum Zeitpunkt der Vermarktung des Getreides auferlegen.

9 Zum ersten Gesichtspunkt der Frage ist festzustellen, daß in der zusätzlichen Mitverantwortungsabgabe keine steuerliche Belastung gesehen werden kann. Die Abgabe stellt vielmehr eine Maßnahme der Agrarpolitik dar, die das Wachstum auf dem durch strukturelle Überschüsse gekennzeichneten Getreidemarkt dadurch begrenzen und verhindern soll, daß sie einen unmittelbaren Druck auf den an die Getreideerzeuger gezahlen Preis ausübt. Es ist daher nicht angebracht, die Rechtmässigkeit der Abgabe anhand von Kriterien zu beurteilen, die dem Steuerrecht entnommen sind. Ausserdem ist auch im Rahmen des nationalen Steuerrechts die Möglichkeit einer vorgezogenen Auferlegung von finanziellen Belastungen anerkannt. Die Regelung, daß diese Abgabe im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Vermarktung des Getreides vorläufig - und vorbehaltlich ihrer vollständigen oder teilweisen Erstattung für den Fall, daß am Ende des fraglichen Wirtschaftsjahres festgestellt wird, daß die garantierte Hoechstmenge nicht überschritten worden ist oder daß ihre Überschreitung einen bestimmten Prozentsatz nicht übersteigt - erhoben wird, findet ihre Rechtfertigung in dem mit der Gemeinschaftsverordnung verfolgten wirtschaftlichen Zweck.

10 Zum zweiten Gesichtspunkt der Vorlagefrage ist darauf hinzuweisen, daß der von dem vorlegenden Gericht angeführte Grundsatz der Verhältnismässigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört. Nach diesem Grundsatz sind Maßnahmen, durch die den Wirtschaftsteilnehmern finanzielle Belastungen auferlegt werden, nur rechtmässig, wenn sie zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen ( Urteil vom 11. Juli 1989 in der Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Randnr. 21 ).

11 Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit dieser Voraussetzungen betrifft, so ist allerdings darauf hinzuweisen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, der seiner politischen Verantwortung, die ihm die Artikel 40 und 43 EWG-Vertrag übertragen, entspricht.

12 Im vorliegenden Fall machen der Kläger des Ausgangsverfahrens und die italienische Regierung geltend, es sei nicht erforderlich gewesen, die Zahlung bereits zum Zeitpunkt der Vermarktung des Getreides zu verlangen. Andere Systeme, wie etwa eine Kaution oder eine Bürgschaft, hätten es ihrer Meinung nach ermöglicht, die Zahlung sicherzustellen und sie dennoch erst zu verlangen, nachdem die Überschreitung der garantierten Hoechstmenge festgestellt worden sei.

13 Es ist erneut darauf hinzuweisen, daß die Erhebung einer zusätzlichen Mitverantwortungsabgabe bereits zum Zeitpunkt der Vermarktung die Erzeuger durch eine Herabsetzung der an sie gezahlten Preise davon abhalten soll, ihre Erzeugung während der fraglichen Wirtschaftsjahre zu steigern, wenn sie am Ende dieser Wirtschaftsjahre die Erstattung der erhobenen Abgabe erreichen wollen. Aus den Akten ist nicht ersichtlich, daß dem Gemeinschaftsgesetzgeber ein offensichtlicher Beurteilungsirrtum unterlaufen wäre, als er andere Systeme als das der Abgabe ausgeschlossen hat, die wegen ihres geringeren Einflusses auf die den Landwirten gezahlten Preise nicht die gleiche abschreckende Wirkung gehabt hätten. Dies wird im übrigen dadurch bestätigt, daß - wie die Kommission angeführt hat - ein Kautions - oder Bürgschaftssystem zu verwaltungstechnischen Schwierigkeiten und erheblichen fixen Verwaltungskosten geführt hätte.

14 Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß die Prüfung der Vorlagefrage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit des Artikels 4 b der Verordnung Nr. 2727/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide in der durch die Verordnung Nr. 1097/88 des Rates vom 25. April 1988 geänderten Fassung oder die Gültigkeit der Verordnung Nr. 1432/88 der Kommission vom 26. Mai 1988 mit Durchführungsbestimmungen für die Mitverantwortungsabgabe auf Getreide beeinträchtigen könnte.

Kostenentscheidung:

Kosten

15 Die Auslagen der italienischen Regierung sowie des Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Fünfte Kammer )

auf die ihm von der Pretura di Copparo mit Beschluß vom 14. Dezember 1988 vorgelegte Frage für Recht erkannt :

Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Artikels 4 b der Verordnung ( EWG ) Nr. 2727/75 des Rates vom 29. Oktober 1975 über die gemeinsame Marktorganisation für Getreide in der durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 1097/88 des Rates vom 25. April 1988 geänderten Fassung oder die Gültigkeit der Verordnung ( EWG ) Nr. 1432/88 der Kommission vom 26. Mai 1988 mit Durchführungsbestimmungen für die Mitverantwortungsabgabe auf Getreide beeinträchtigen könnte.

Ende der Entscheidung

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