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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 22.03.1990
Aktenzeichen: C-83/89
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 222/77


Vorschriften:

EWGV Art. 177
EWGV Art. 9
EWGV Art. 10
VO Nr. 222/77 Art. 10
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Aus einem Drittland in die Gemeinschaft eingeführte Waren sind als im freien Verkehr befindlich anzusehen, wenn die Einfuhrförmlichkeiten erfuellt und die verschiedenen Zölle entrichtet worden sind, ohne daß danach zu unterscheiden ist, ob die Waren in einem Mitgliedstaat befördert werden, in dem die Einfuhrförmlichkeiten erfuellt und die verschiedenen Zölle entrichtet worden sind, oder ob die Waren nach ordnungsgemässer Erfuellung der Einfuhrförmlichkeiten und Entrichtung der verschiedenen Zölle in einem Mitgliedstaat in der Folge in einen anderen Mitgliedstaat eingeführt werden.

2. Die Regelung des gemeinschaftlichen Versandverfahrens, wie sie sich aus der Verordnung Nr. 222/77 in der Fassung der Verordnung Nr. 983/79 ergibt, ist dahin auszulegen, daß im Fall der Beförderung von Waren, die nicht zu kommerziellen Zwecken bestimmt sind, die Erklärung des Reisenden, der sie mitführt oder in dessen sonstigem Reisegepäck sie enthalten sind, genügt, um sie als Gemeinschaftswaren anzusehen. Der Reisende muß jedoch ein internes gemeinschaftliches Versandpapier vorlegen, wenn an der Richtigkeit dieser Erklärung aus objektiven Gründen Zweifel bestehen.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 22. MAERZ 1990. - OPENBAAR MINISTERIE ET MINISTER VAN FINANCIEN GEGEN VINCENT HOUBEN. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: HOF VAN BEROEP ANTWERPEN - BELGIEN. - FREIER WARENVERKEHR - IM FREIEN VERKEHR BEFINDLICHE WAREN - BEWEISLAST. - RECHTSSACHE C-83/89.

Entscheidungsgründe:

1 Der Hof van beröp Antwerpen hat mit Urteil vom 10. März 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung einiger Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über in der Gemeinschaft beförderte Waren zur Vorabentscheidung vorgelegt. In den Fragen geht es im wesentlichen um die Bedeutung des Ausdrucks "im freien Verkehr befindliche Waren" im Sinne der Artikel 9 Absatz 2 und 10 Absatz 1 EWG-Vertrag sowie um die Beweislast für die Erfuellung der Förmlichkeiten bei der Einfuhr dieser Waren in die Gemeinschaft und die Zahlung der möglicherweise geschuldeten Zölle.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren, das von dem Openbaar Ministerie ( Staatsanwaltschaft ) und, als betreibender Partei, dem Minister van Financiën ( Finanzminister ) des Königreichs Belgien gegen Vincent Houben eingeleitet worden ist, dem vorgeworfen wird, bei seiner Einreise aus der Bundesrepublik Deutschland nach Belgien im Besitz einer in sein Fahrzeug eingebauten Stereoanlage japanischer Herstellung gewesen zu sein, ohne die gesetzlich vorgeschriebene Anmeldung vorgenommen und die für diese Einfuhr geschuldeten Zölle entrichtet zu haben.

3 Die Rechtbank van eerste aanleg Tongeren, vor der Vincent Houben angeklagt wurde, sprach ihn mit Urteil vom 26. November 1986 mangels Beweises frei. Gegen dieses Urteil legten das Openbaar Ministerie und der Minister van Financiën als betreibende Partei vor dem Hof van beröp Antwerpen Berufung ein, der, um entscheiden zu können, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat :

"Kann eine Ware, die aus einem Drittland in einen Mitgliedstaat eingeführt worden ist, bei ihrer Einfuhr in einen anderen Mitgliedstaat als 'im freien Verkehr' befindlich angesehen werden, auch wenn die Einfuhrabgabe im ersten Mitgliedstaat nicht entrichtet wurde?

Gesetzt den Fall, daß kein 'freier Verkehr' vorliegt, sofern nicht die Einfuhrförmlichkeiten ordnungsgemäß erfuellt und überdies die Zölle entrichtet wurden, ist dann von der Vermutung auszugehen, daß diese Verpflichtungen erfuellt sind, wenn die Waren in einem Mitgliedstaat angetroffen werden, oder muß von der Vermutung ausgegangen werden, daß diese Verpflichtungen nicht erfuellt sind, es sei denn, der Besitzer der Waren beweist das Gegenteil?

Allgemeiner ausgedrückt : Hat der Importeur von aus einem Drittland stammenden Waren, wenn er diese Waren aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat einführt, zu beweisen, daß er im ersten Mitgliedstaat Zölle gezahlt hat, um die Annahme zu ermöglichen, daß sich die Waren in der EWG im freien Verkehr befinden?"

4 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

5 Die vorgelegten Fragen können in den beiden folgenden Fragen zusammengefasst werden.

6 Die erste Frage geht dahin, ob und unter welchen Voraussetzungen eine aus einem Drittland eingeführte Ware als in der Gemeinschaft "im freien Verkehr" befindlich angesehen werden kann, auch wenn die Einfuhrförmlichkeiten nicht erfuellt und die Zölle nicht entrichtet worden sind.

7 Die zweite Frage zielt darauf ab, wer bei der Einfuhr aus einem Mitgliedstaat in einen anderen die Beweislast dafür trägt, daß sich die Waren, die Reisende mitführen oder die in ihrem sonstigen Reisegepäck enthalten sind, in der Gemeinschaft im freien Verkehr befinden.

Zur ersten Frage

8 Die Antwort auf diese Frage ist in Artikel 10 Absatz 1 EWG-Vertrag zu finden, wonach "als im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich... Waren aus dritten Ländern (( gelten )), für die in dem betreffenden Mitgliedstaat die Einfuhr-Förmlichkeiten erfuellt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind ".

9 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Dezember 1976 in der Rechtssache 41/76 ( Donckerwolcke, Slg. 1976, 1921 ) ausgeführt hat, sind unter im freien Verkehr befindlichen Waren diejenigen Waren aus Drittländern zu verstehen, die entsprechend den in Artikel 10 aufgestellten Voraussetzungen ordnungsgemäß in irgendeinen Mitgliedstaat eingeführt worden sind.

10 Diese Bestimmung unterscheidet nämlich nicht zwischen dem Fall aus einem Drittland eingeführter Waren, die in einem Mitgliedstaat befördert werden, in dem die Einfuhrförmlichkeiten erfuellt und die verschiedenen Zölle entrichtet worden sind, und dem Fall solcher Waren, die nach ordnungsgemässer Erfuellung der Einfuhrförmlichkeiten und Entrichtung der verschiedenen Zölle in einem Mitgliedstaat in der Folge in einen anderen Mitgliedstaat eingeführt werden.

11 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß die Artikel 9 und 10 EWG-Vertrag dahin auszulegen sind, daß aus einem Drittland in die Gemeinschaft eingeführte Waren als im freien Verkehr befindlich anzusehen sind, wenn die Einfuhrförmlichkeiten erfuellt und die verschiedenen Zölle entrichtet worden sind.

Zur zweiten Frage

12 Für die Antwort auf diese Frage ist darauf hinzuweisen, daß zur Zeit der Ereignisse des Ausgangsverfahrens dieses Beweisproblem durch die Verordnung ( EWG ) Nr. 222/77 des Rates vom 13. Dezember 1976 über das gemeinschaftliche Versandverfahren ( ABl. 1977, L 38, S. 1 ) in der Fassung der Verordnung ( EWG ) Nr. 983/79 des Rates vom 14. Mai 1979 ( ABl. L 123, S. 1 ) geregelt war. Es ist also diese Regelung auszulegen.

13 Die Verordnung Nr. 222/77 sieht zwei gemeinschaftliche Versandverfahren vor. Das eine, das sogenannte externe gemeinschaftliche Versandverfahren, gilt nach Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung Nr. 222/77 im wesentlichen für Waren, die nicht die Voraussetzungen der Artikel 9 und 10 EWG-Vertrag erfuellen, d. h. für Waren, die aus Drittländern stammen und sich in der Gemeinschaft nicht im freien Verkehr befinden. Diese Waren sind gemäß Artikel 12 Absatz 1 der Verordnung Nr. 222/77 mit einer Versandanmeldung T 1 zum Versand anzumelden. Diese von der zuständigen Zollbehörde ausgestellte Anmeldung stellt den Nachweis dafür dar, daß diese Waren keinen Gemeinschaftscharakter haben.

14 Das andere, das sogenannte interne gemeinschaftliche Versandverfahren, gilt nach Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung im wesentlichen für Waren, die die Voraussetzungen der Artikel 9 und 10 EWG-Vertrag erfuellen, d. h. für Waren, die aus den Mitgliedstaaten stammen oder sich in der Gemeinschaft im freien Verkehr befinden und als "Gemeinschaftswaren" bezeichnet werden. Diese Waren sind gemäß Artikel 39 Absatz 1 der Verordnung mit einer Versandanmeldung T 2 zum Versand anzumelden. Diese von der zuständigen Zollbehörde ausgestellte Anmeldung stellt den Nachweis für den Gemeinschaftscharakter dieser Waren dar.

15 In besonderen Bestimmungen der Verordnung Nr. 222/77 sind daneben Fälle vorgesehen, in denen Gemeinschaftswaren nicht im internen gemeinschaftlichen Versandverfahren befördert werden.

16 Für diese Gemeinschaftswaren, die nicht im internen gemeinschaftlichen Versandverfahren befördert werden, wenn dieses nicht zwingend vorgeschrieben ist, ist in der Verordnung ( EWG ) Nr. 223/77 der Kommission vom 22. Dezember 1976 über Durchführungsbestimmungen und Vereinfachungsmaßnahmen des gemeinschaftlichen Versandverfahrens ( ABl. L 38, S. 20 ) als Nachweis das Versandpapier T 2 L vorgesehen, dessen Inhalt dem des Versandpapiers T 2 des internen gemeinschaftlichen Versandverfahrens entspricht ( siehe 9. Begründungserwägung und Artikel 1 Absatz 8 der Verordnung Nr. 223/77 ).

17 Die Verordnungen Nrn. 222/77 und 223/77 stellen somit den Grundsatz auf, daß der Nachweis des Gemeinschaftscharakters einer Ware, sofern keine Ausnahme vorgesehen ist, ausschließlich mit dem Versandpapier T 2 oder dem Versandpapier T 2 L zu erbringen ist.

18 Artikel 49 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 222/77 in der Fassung der genannten Verordnung Nr. 983/79 bestimmt :

"1 ) Das gemeinschaftliche Versandverfahren ist für die Beförderung von Waren, die Reisende mitführen oder die in ihrem sonstigen Reisegepäck enthalten sind, nicht zwingend vorgeschrieben, wenn es sich um Waren handelt, die nicht zu kommerziellen Zwecken bestimmt sind.

2 ) Die Vorschriften des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über den freien Warenverkehr sind auf Waren, die aufgrund von Absatz 1 nicht im gemeinschaftlichen Versandverfahren befördert werden, anzuwenden,

a ) wenn bei der Anmeldung erklärt wird, daß es sich um Gemeinschaftswaren handelt und kein Zweifel an der Richtigkeit dieser Erklärung besteht;

b ) in anderen Fällen, wenn ein internes gemeinschaftliches Versandsandpapier vorgelegt wird, das zum Nachweis des Gemeinschaftscharakters der Waren ausgestellt worden ist."

19 Nach dieser Vorschrift reicht im Fall der Beförderung von Waren, die nicht zu kommerziellen Zwecken bestimmt sind, eine Erklärung, an deren Richtigkeit kein Zweifel besteht, aus, damit die Waren, die Reisende mitführen oder die in ihrem sonstigen Reisegepäck enthalten sind, als Gemeinschaftswaren angesehen werden; nur bei Zweifeln der Zollbehörde hat der Reisende ein internes gemeinschaftliches Versandpapier ( T 2 oder T 2 L ) vorzulegen.

20 Dabei ist jedoch klarzustellen, daß die Tatsache, daß die fragliche Ware in einem Drittland hergestellt worden ist, für sich allein nicht genügt, um Zweifel im Sinne dieser Vorschrift zu wecken. Die Zweifel der Zollbehörde an der Richtigkeit der Erklärung des Reisenden müssen auf objektiven Faktoren beruhen, die sich z.B. aus den besonderen Umständen der jeweiligen Einfuhr oder aus den Auskünften ergeben, die sie über diese Einfuhr erhalten haben. Subjektive Erwägungen der Kontrollbeamten genügen nicht, um den Reisenden zu zwingen, ein internes gemeinschaftliches Versandpapier vorzulegen.

21 Diese Auslegung entspricht dem Zweck dieser Vorschrift, der darin besteht, die Beförderung der Waren, die nicht zu kommerziellen Zwecken bestimmt sind und die Reisende mitführen oder die in deren sonstigem Gepäck enthalten sind, dadurch zu erleichtern, daß die Reisenden von der Beweislast befreit werden, die sie zwingen würde, die nach dem gemeinschaftlichen Versandverfahren vorgesehenen Förmlichkeiten zu erfuellen.

22 Aufgrund dieser Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, daß die Gemeinschaftsregelung dahin auszulegen ist, daß im Fall der Beförderung von Waren, die nicht zu kommerziellen Zwecken bestimmt sind, die Erklärung des Reisenden, der sie mitführt oder in dessen sonstigem Reisegepäck sie enthalten sind, genügt, um sie als Gemeinschaftswaren anzusehen. Der Reisende muß jedoch ein internes gemeinschaftliches Versandpapier vorlegen, wenn an der Richtigkeit dieser Erklärung aus objektiven Gründen Zweifel bestehen.

Kostenentscheidung:

Kosten

23 Die Auslagen des Königreichs Belgien und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Bestandteil des bei dem nationalen Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF ( Sechste Kammer )

auf die ihm vom Hof van beröp Antwerpen mit Urteil vom 10. März 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt :

1 ) Die Artikel 9 und 10 EWG-Vertrag sind dahin auszulegen, daß aus einem Drittland in die Gemeinschaft eingeführte Waren als im freien Verkehr befindlich anzusehen sind, wenn die Einfuhrförmlichkeiten erfuellt und die verschiedenen Zölle entrichtet worden sind.

2 ) Die Gemeinschaftsregelung ist dahin auszulegen, daß im Fall der Beförderung von Waren, die nicht zu kommerziellen Zwecken bestimmt sind, die Erklärung des Reisenden, der sie mitführt oder in dessen sonstigem Reisegepäck sie enthalten sind, genügt, um sie als Gemeinschaftswaren anzusehen. Der Reisende muß jedoch ein internes gemeinschaftliches Versandpapier vorlegen, wenn an der Richtigkeit dieser Erklärung aus objektiven Gründen Zweifel bestehen.

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