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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 17.04.1997
Aktenzeichen: C-90/95 P
Rechtsgebiete: EG-Satzung


Vorschriften:

EG-Satzung Artikel 49
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts unterliegt im allgemeinen strengen Voraussetzungen. So ist zwar jedem Gemeinschaftsorgan, das feststellt, daß ein von ihm erlassener Rechtsakt rechtswidrig ist, das Recht zuzuerkennen, diesen Rechtsakt innerhalb eines angemessenen Zeitraums rückwirkend zurückzunehmen, doch kann dieses Recht durch das Erfordernis eingeschränkt werden, das berechtigte Vertrauen des Adressaten des Rechtsakts in dessen Rechtmässigkeit zu beachten. Insoweit ist für die Beurteilung der Frage, ob der Adressat eines Verwaltungsakts ein berechtigtes Vertrauen erwirbt, der Zeitpunkt der Zustellung des Rechtsakts und nicht der seines Erlasses oder seiner Rücknahme maßgeblich.

Das berechtigte Vertrauen in die Rechtmässigkeit eines begünstigenden Verwaltungsakts kann, wenn es einmal erworben ist, später nicht erschüttert werden. Unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache überwiegt kein öffentliches Interesse das Interesse des Begünstigten an der Aufrechterhaltung einer Lage, die er als dauerhaft ansehen konnte. Nichts deutet darauf hin, daß der Begünstigte den Verwaltungsakt durch falsche oder unvollständige Angaben erwirkt hätte.

Ein Urteil des Gerichts, das die Feststellung enthält, daß der Kläger zwar zum Zeitpunkt des Erlasses einer - fast drei Monate danach zurückgenommenen - Entscheidung noch auf den Anschein der Rechtmässigkeit habe vertrauen und die Aufrechterhaltung dieser Entscheidung habe verlangen können, daß dieses Vertrauen aber danach sehr schnell so stark erschüttert worden sei, daß er zu dem Zeitpunkt, zu dem das betreffende Organ die streitige Rücknahmeentscheidung getroffen habe, keinen Grund mehr gehabt habe, ein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung zu setzen, ist rechtsfehlerhaft.


Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 17. April 1997. - Henri de Compte gegen Europäisches Parlament. - Beamte - Entscheidung, mit der eine Berufskrankheit anerkannt wird - Rücknahme eines Verwaltungsakts - Berechtigtes Vertrauen - Angemessene Frist - Rechtsmittel. - Rechtssache C-90/95 P.

Entscheidungsgründe:

1 Herr de Compte hat mit Schriftsatz, der am 24. März 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 49 der EG-Satzung und den entsprechenden Vorschriften der EGKS- und der EAG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Januar 1995 in den Rechtssachen T-90/91 und T-62/92 (De Compte/Parlament, Slg. ÖD 1995, II-1; nachstehend: angefochtenes Urteil) eingelegt wegen Aufhebung dieses Urteils mit Ausnahme der darin ausgesprochenen Verurteilung des Parlaments, an den Rechtsmittelführer 200 000 BFR als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen.

2 Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich, daß der Rechtsmittelführer ein ehemaliger Beamter des Parlaments ist, wo er Rechnungsführer war, und sich seit dem 1. Januar 1989 im Ruhestand befindet.

3 Am 18. Januar 1988 erließ die Anstellungsbehörde eine Entscheidung, mit der gegen den Rechtsmittelführer die Disziplinarstrafe der Rückstufung von Besoldungsgruppe A 3, Dienstaltersstufe 8, nach Besoldungsgruppe A 7 verhängt wurde.

4 Diese Entscheidung wurde am Ende eines Disziplinarverfahrens erlassen, das nach der Feststellung von Unregelmässigkeiten in der Rechnungsführung des Parlaments, für die der Rechtsmittelführer verantwortlich sein soll, eingeleitet worden war.

5 Das am 30. September 1982 eingeleitete Disziplinarverfahren wurde von der Anstellungsbehörde am 14. Januar 1983 zunächst eingestellt. Es wurde am 13. April 1983 wiederaufgenommen und führte am 24. Mai 1984 zu einer ersten Disziplinarstrafe, nämlich der Einstufung in eine niedrigere Dienstaltersstufe. Diese Entscheidung wurde jedoch durch das Urteil des Gerichtshofes vom 20. Juni 1985 in der Rechtssache 141/84 (De Compte/Parlament, Slg. 1985, 1951) aufgehoben, weil das Verfahren aufgrund der Vernehmung von Zeugen in Abwesenheit des Rechtsmittelführers mit einem Mangel behaftet war. Das am 24. Juni 1987 wiederaufgenommene Disziplinarverfahren führte am 18. Januar 1988 zur Rückstufung des Rechtsmittelführers nach Besoldungsgruppe A 7.

6 Durch Urteil vom 17. Oktober 1991 in der Rechtssache T-26/89 (De Compte/Parlament, Slg. 1991, II-781) wies das Gericht die Klage des Rechtsmittelführers gegen die gegen ihn verhängte Disziplinarstrafe der Rückstufung als unbegründet ab. Das gegen dieses Urteil eingelegte Rechtsmittel wurde durch das Urteil des Gerichtshofes vom 2. Juni 1994 in der Rechtssache C-326/91 P (De Compte/Parlament, Slg. 1994, I-2091) zurückgewiesen. Mit am 20. Juni 1996 beim Gericht erster Instanz eingereichtem Schriftsatz beantragte der Rechtsmittelführer aufgrund von Artikel 125 der Verfahrensordnung des Gerichts die Wiederaufnahme des mit dem Urteil vom 17. Oktober 1991 (De Compte/Parlament) abgeschlossenen Verfahrens.

7 Kurze Zeit nach dem Disziplinarverfahren, das zu seiner Rückstufung führte, beantragte der Rechtsmittelführer am 14. Juni 1988 beim Parlament, das Verfahren auf Anerkennung einer Berufskrankheit einzuleiten und ihm gemäß Artikel 17 Absatz 1 der Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten (nachstehend: Regelung) die in Artikel 73 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften vorgesehenen Leistungen zu gewähren.

8 In einem ärztlichen Bericht vom 30. Juni 1989 erklärte der vom Organ bestellte Arzt gemäß Artikel 19 der Regelung, daß der Rechtsmittelführer nicht an einer Berufskrankheit leide. Der Rechtsmittelführer widersprach dem auf der Grundlage dieses ärztlichen Berichts erstellten Entwurf einer Entscheidung, mit der sein Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit abgelehnt wurde.

9 Deshalb wurde gemäß Artikel 23 der Regelung ein Ärzteausschuß gebildet, der in seinem Gutachten vom 22. Januar 1991 zu folgendem Ergebnis kam:

"1. Henri de Compte leidet an einer schweren anxiodepressiven, melancholieartigen und paranoiden Dekompensation, die in ursächlichem Zusammenhang mit der Berufstätigkeit steht und in einer Streßsituation eingetreten ist, die auf Anschuldigungen zurückzuführen ist, die als feindselig erlebt wurden und zu einer beruflichen Rückstufung sowie einer psychischen Beeinträchtigung geführt haben.

2. Der Betroffene hat sich diese Krankheit infolge aussergewöhnlicher Krankheitsursachen zugezogen, denen er bei der Ausübung seines Dienstes ausgesetzt war.

3. Es handelt sich nicht um eine Verschlimmerung einer bestehenden Krankheit.

4. Die Faktoren, die die Krankheit verursacht haben, sind die subjektiven und objektiven Erlebnisse infolge der Anschuldigungen, die gegenüber dem Betroffenen erhoben wurden. Diese beiden Arten von Erlebnissen haben auf der Grundlage einer paranoiden Veranlagung gleichwertig und bestimmend gewirkt.

5. Der Zeitpunkt der Konsolidierung der Verletzungen ist der 20. Januar 1983.

6. Der Invaliditätsgrad beträgt 40 % (vierzig vom Hundert).

7. Es ist keine besondere Behandlung erforderlich, die eine oder mehrere Reisen einschließt.

8. Es ist keine Hilfe durch eine dritte Person erforderlich."

10 Am 24. Januar 1991 erließ die Anstellungsbehörde eine Entscheidung, mit der sie feststellte, daß der Rechtsmittelführer an einer Berufskrankheit leide, die zu einem Grad der dauernden Teilinvalidität von 40 % geführt habe, und beschloß, ihm einen Betrag von 9 147 091 BFR zu zahlen.

11 Mit Entscheidung vom 18. April 1991 nahm die Anstellungsbehörde jedoch die Entscheidung vom 24. Januar 1991 rückwirkend zurück. Diese Rücknahmeentscheidung wurde im wesentlichen mit dem Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofes vom 21. Januar 1987 in der Rechtssache 76/84 (Rienzi/Kommission, Slg. 1991, 315) begründet, wonach eine Krankheit nur dann als Berufskrankheit eingestuft werden könne, wenn sie bei oder anläßlich der ordnungsgemässen Dienstausübung durch den Betroffenen entstanden sei.

12 Im vorliegenden Fall habe die Krankheit des Rechtsmittelführers ihre Ursache aber in den Anschuldigungen, die im wesentlichen auf den Umständen im Zusammenhang mit den Unregelmässigkeiten der Rechnungsführung beruhten, für die er verantwortlich sei und die Grund für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn und für die Disziplinarstrafe gewesen seien, zu der dieses Verfahren geführt habe.

13 In der Entscheidung vom 18. April 1991 hieß es ausserdem, daß sich die Anstellungsbehörde beim Erlaß der Entscheidung vom 24. Januar 1991 auf eine fehlerhafte Auslegung des Begriffes "ursächlicher Zusammenhang mit der Berufstätigkeit" gestützt habe, soweit sie sich die Schlußfolgerungen des Ärzteausschusses zu eigen gemacht habe. Sie habe folglich einen Fehler bei der Auslegung des Begriffes der Berufskrankheit im Sinne von Artikel 73 des Statuts und Artikel 3 Absatz 2 der Regelung begangen, so daß sie berechtigt gewesen sei, die Entscheidung vom 24. Januar 1991 rückwirkend zurückzunehmen, um den Grundsatz der Gesetzmässigkeit zu wahren.

14 In ihrem verfügenden Teil sah die Entscheidung vom 18. April 1991 vor, daß die damit zurückgenommene Entscheidung "durch eine weitere Entscheidung ersetzt [wird], die unter Berücksichtigung des Urteils erlassen wird, das in der Rechtssache T-26/89, De Compte/Parlament, ergehen wird"; der Rechtsmittelführer hatte mit seiner Klage in dieser Rechtssache die Entscheidung vom 18. Januar 1988 über die Rückstufung angefochten.

15 Am 4. Juni 1991 legte der Rechtsmittelführer eine Beschwerde gegen diese Entscheidung vom 18. April 1991 ein, die am 23. September 1991 von der Anstellungsbehörde zurückgewiesen wurde.

16 Nach Erlaß des Urteils des Gerichts vom 17. Oktober 1991 (De Compte/Parlament, a. a. O.) erließ die Anstellungsbehörde am 20. Januar 1992 die Entscheidung, die im verfügenden Teil der Entscheidung vom 18. April 1991 über die Rücknahme der Entscheidung vom 24. Januar 1991, mit der die Krankheit als Berufskrankheit anerkannt worden war, vorgesehen war.

17 Diese Entscheidung vom 20. Januar 1992 wurde im wesentlichen damit begründet, daß eine Krankheit nur dann als "Berufskrankheit" angesehen werden könne, wenn ihre Ursache in der ordnungsgemässen Dienstausübung durch den Betroffenen liege. Im vorliegenden Fall liege ihre Ursache in den gegen ihn gerichteten Anschuldigungen, die im Rahmen des Disziplinarverfahrens, das zur Verhängung einer Disziplinarstrafe gegen ihn geführt habe, untersucht worden seien. Die Begründetheit dieser Disziplinarstrafe sei durch das Urteil des Gerichts vom 17. Oktober 1991 (De Compte/Parlament, a. a. O.) bestätigt worden.

18 Im verfügenden Teil der Entscheidung vom 20. Januar 1992 wird festgestellt, daß "Herr de Compte nicht an einer Berufskrankheit im Sinne der Regelung zur Sicherung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften bei Unfällen und Berufskrankheiten leidet".

19 Am 10. April 1992 legte der Rechtsmittelführer gegen die Entscheidung vom 20. Januar 1992 Beschwerde ein. Diese Beschwerde wurde am 4. Juni 1992 durch die Anstellungsbehörde zurückgewiesen.

20 Am 19. Dezember 1991 erhob der Rechtsmittelführer in der Rechtssache T-90/91 beim Gericht Klage auf Aufhebung der Entscheidung vom 18. April 1991 über die Rücknahme der Entscheidung vom 24. Januar 1991, mit der das Vorliegen einer Berufskrankheit anerkannt worden war, sowie der Entscheidung vom 23. September 1991, mit der seine Beschwerde vom 4. Juni 1991 zurückgewiesen worden war. Ausserdem klagte er auf Verurteilung des Parlaments, an ihn 9 147 091 BFR zu zahlen.

21 Am 4. September 1992 erhob der Rechtsmittelführer in der Rechtssache T-62/92 beim Gericht Klage auf Aufhebung der Entscheidung vom 20. Januar 1992, mit der festgestellt worden war, daß er nicht an einer Berufskrankheit leide, und der Entscheidung vom 4. Juni 1992, mit der seine Beschwerde vom 8. April 1992 zurückgewiesen worden war. Ausserdem klagte er auf Verurteilung des Parlaments, an ihn 9 147 091 BFR zu zahlen.

22 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht die Klagen abgewiesen und das Parlament verurteilt, an den Rechtsmittelführer 200 000 BFR als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen.

Das Rechtsmittel

23 Der Rechtsmittelführer beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben mit Ausnahme der darin ausgesprochenen Verurteilung des Parlaments, an ihn 200 000 BFR als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen, und, sofern der Gerichtshof selbst über den Rechtsstreit entscheidet, seinen ursprünglichen Anträgen stattzugeben. Ausserdem beantragt der Rechtsmittelführer, dem Rechtsmittelgegner die Kosten beider Instanzen aufzuerlegen.

24 Das Parlament beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und dem Rechtsmittelführer die Kosten aufzuerlegen.

25 Zur Begründung seines Rechtsmittels rügt der Rechtsmittelführer folgendes: Erstens habe das Gericht die Verpflichtung zur Begründung von Urteilen verletzt, die insbesondere bedeute, daß die angeführten Gründe rechtlich zulässig, d. h. ausreichend, erheblich, rechtsfehlerfrei und tatsächlich richtig sein müssten; zweitens habe es gegen Artikel 73 des Statuts und Artikel 3 der Regelung verstossen; drittens habe es die allgemeinen Rechtsgrundsätze verletzt, die für das Gemeinschaftsrecht gälten, und zwar insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit, von Treu und Glauben, des Vertrauensschutzes und der Fürsorgepflicht, das Gebot, innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden, sowie den Grundsatz, daß jeder Rechtsakt der Verwaltung auf rechtlich zulässigen, d. h. erheblichen, rechtsfehlerfreien und tatsächlich richtigen Gründen beruhen müsse.

Die Rücknahme der Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 24. Januar 1991

26 Wie sich aus Randnummer 52 des angefochtenen Urteils ergibt, ist das Gericht davon ausgegangen, daß das Parlament durch die angefochtene Entscheidung vom 18. April 1991 die Entscheidung vom 24. Januar 1991, mit der das Vorliegen einer Berufskrankheit anerkannt worden war, innerhalb eines Zeitraums von ungefähr zwei Monaten und fünfundzwanzig Tagen, also weniger als drei Monaten, zurückgenommen habe.

27 In Randnummer 53 hat das Gericht festgestellt, daß ein solcher Zeitraum unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht als unangemessen angesehen werden könne, da zwischen den Parteien unstreitig sei, daß der Rechtsmittelführer nach der Äusserung von Vorbehalten durch die Versicherungsgesellschaft, die ihm die Abfindung für Berufskrankheiten hätte zahlen müssen, bereits zwischen dem 1. und dem 13. März 1991 durch die Dienststellen des Parlaments davon unterrichtet worden sei, daß die Rechtmässigkeit dieser Entscheidung zweifelhaft und ihre Durchführung deshalb problematisch sei. Folglich sei das Vorbringen des Rechtsmittelführers, die Rücknahme der an ihn gerichteten Entscheidung sei erst nach unangemessen langer Zeit erfolgt, unbegründet.

28 Zur Beachtung des berechtigten Vertrauens des Rechtsmittelführers in die Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung hat das Gericht in Randnummer 61 festgestellt, es sei unstreitig, daß der Rechtsmittelführer nach Erlaß der Entscheidung vom 24. Januar 1991 in den ersten beiden Wochen des Monats März 1991, d. h. binnen eineinhalb Monaten, von den Dienststellen des Parlaments darüber informiert worden sei, daß die Durchführung dieser Entscheidung, nämlich die Auszahlung des gemäß Artikel 73 des Statuts bewilligten Betrages, wegen der möglichen Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung gefährdet sei.

29 Das Gericht ist in Randnummer 61 zu folgendem Ergebnis gekommen: "Demnach konnte der Kläger zwar zum Zeitpunkt des Erlasses der zurückgenommenen Entscheidung vom 24. Januar 1991 noch auf den Anschein der Rechtmässigkeit vertrauen und die Beibehaltung dieser Entscheidung verlangen, doch wurde dieses Vertrauen danach sehr schnell [so stark] erschüttert, daß er zu dem Zeitpunkt, zu dem das Parlament die streitige Rücknahmeentscheidung traf, keinen Grund mehr hatte, ein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung zu setzen."

30 Deshalb hat das Gericht in Randnummer 62 die Rüge des Rechtsmittelführers, sein Vertrauen in die Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung vom 24. Januar 1991 sei verletzt worden, zurückgewiesen.

31 In dem vorliegenden Rechtsmittelverfahren wirft der Rechtsmittelführer dem Gericht insbesondere vor, es habe seine Rüge der Verletzung seines Vertrauens in die Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung vom 24. Januar 1991 zurückgewiesen, und macht geltend, daß das Gericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, die Rücknahme der Entscheidung vom 18. April 1991 sei innerhalb eines angemessenen Zeitraums erfolgt.

32 Nach Auffassung des Parlaments gehen diese Rügen rechtlich fehl und sind daher zurückzuweisen. Es verweist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes und macht erstens geltend, daß ein Irrtum der Verwaltung über die anwendbare Regelung niemals ein berechtigtes Vertrauen begründen könne (Urteile vom 11. Dezember 1980 in der Rechtssache 1252/79, Lucchini/Kommission, Slg. 1980, 3753, vom 11. Mai 1983 in den Rechtssachen 311/81 und 30/82, Klöckner-Werke/Kommission, Slg. 1983, 1549, und vom 6. Februar 1986 in der Rechtssache 162/84, Vlachou/Rechnungshof, Slg. 1986, 481).

33 Zweitens habe das Gericht zu Recht hervorgehoben, daß das Parlament den Rechtsmittelführer sehr schnell auf die Zweifel an der Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung hingewiesen habe, als es seinen Fehler bemerkt habe, so daß bei ihm kein berechtigtes Vertrauen habe entstehen können.

34 Drittens sei nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Rücknahme rechtswidriger Rechtsakte zumindest innerhalb eines angemessenen Zeitraums grundsätzlich zulässig; dieser Zeitraum bestimme sich nach dem Datum des Erlasses des Rechtsakts, und der Gerichtshof habe bereits bei mehr als sechs Monate nach ihrem Erlaß zurückgenommenen Entscheidungen anerkannt, daß die Rücknahme innerhalb eines angemessenen Zeitraums erfolgt sei (Urteil vom 12. Juli 1957 in den Rechtssachen 7/56 und 3/57, 4/57, 5/57, 6/57 und 7/57, Algera u. a./Gemeinsame Versammlung, Slg. 1957, 85).

35 Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit unterliegt im allgemeinen strengen Voraussetzungen (vgl. Urteil vom 9. März 1978 in der Rechtssache 54/77, Herpels/Kommission, Slg. 1978, 585, Randnr. 38). Nach ständiger Rechtsprechung ist zwar jedem Gemeinschaftsorgan, das feststellt, daß ein von ihm erlassener Rechtsakt rechtswidrig ist, das Recht zuzuerkennen, diesen Rechtsakt innerhalb eines angemessenen Zeitraums rückwirkend zurückzunehmen, doch kann dieses Recht durch das Erfordernis eingeschränkt werden, das berechtigte Vertrauen des Adressaten des Rechtsakts in dessen Rechtmässigkeit zu beachten (Urteile vom 3. März 1982 in der Rechtssache 14/81, Alpha Steel/Kommission, Slg. 1982, 749, Randnrn. 10 bis 12, vom 26. Februar 1987 in der Rechtssache 15/85, Consorzio Cooperative d'Abruzzo/Kommission, Slg. 1987, 1005, Randnrn. 12 bis 17, vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-248/89, Cargill/Kommission, Slg. 1991, I-2987, Randnr. 20, und vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-365/89, Cargill, Slg. 1991, I-3045, Randnr. 18).

36 Aus Randnummer 61 des angefochtenen Urteils geht hervor, daß der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der zurückgenommenen Entscheidung vom 24. Januar 1991 auf den Anschein der Rechtmässigkeit vertrauen und die Aufrechterhaltung dieser Entscheidung verlangen konnte. Allerdings ist für die Beurteilung der Frage, ob der Adressat eines Verwaltungsakts ein berechtigtes Vertrauen erwirbt, der Zeitpunkt der Zustellung des Rechtsakts und nicht der seines Erlasses oder seiner Rücknahme maßgeblich.

37 In der vorliegenden Rechtssache deutet nichts darauf hin, daß der Rechtsmittelführer die Entscheidung vom 24. Januar 1991 durch falsche oder unvollständige Angaben erwirkt hätte (vgl. sinngemäß Urteile vom 22. März 1961 in den Rechtssachen 42/59 und 49/59, Snupat/Hohe Behörde, Slg. 1961, 111, und vom 12. Juli 1962 in der Rechtssache 14/61, Hoogovens/Hohe Behörde, Slg. 1962, 513).

38 Folglich konnte der Rechtsmittelführer, als er mit der Zustellung der Entscheidung vom 24. Januar 1991 von dieser Kenntnis erhielt, auf den Anschein der Rechtmässigkeit vertrauen und die Aufrechterhaltung dieser Entscheidung verlangen.

39 Zum einen kann das berechtigte Vertrauen in die Rechtmässigkeit eines begünstigenden Verwaltungsakts, wenn es einmal erworben ist, später nicht erschüttert werden. Zum anderen überwiegt in Anbetracht der Umstände der vorliegenden Rechtssache kein öffentliches Interesse das Interesse des Begünstigten an der Aufrechterhaltung einer Lage, die er als dauerhaft ansehen konnte (vgl. in diesem Sinn Urteile vom 22. März 1961, Snupat/Hohe Behörde, a. a. O., und vom 12. Juli 1962, Hoogovens/Hohe Behörde, a. a. O.).

40 Das Gericht hat demnach einen Rechtsfehler begangen, indem es in Randnummer 61 des angefochtenen Urteils davon ausgegangen ist, daß der Rechtsmittelführer zwar zum Zeitpunkt des Erlasses der zurückgenommenen Entscheidung vom 24. Januar 1991 noch auf den Anschein der Rechtmässigkeit habe vertrauen und die Aufrechterhaltung dieser Entscheidung habe verlangen können, daß dieses Vertrauen aber danach sehr schnell so stark erschüttert worden sei, daß er zu dem Zeitpunkt, zu dem das Parlament die streitige Rücknahmeentscheidung getroffen habe, keinen Grund mehr gehabt habe, ein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmässigkeit der zurückgenommenen Entscheidung zu setzen.

41 Ohne daß über die Rüge, das Gericht habe zu Unrecht angenommen, daß die Rücknahme der Entscheidung innerhalb eines angemessenen Zeitraums erfolgt sei, und über die anderen vom Rechtsmittelführer vorgetragenen Rügen entschieden zu werden braucht, ist das angefochtene Urteil folglich aufzuheben mit Ausnahme der darin ausgesprochenen, mit dem Rechtsmittel nicht angefochtenen Verurteilung des Parlaments, an den Rechtsmittelführer 200 000 BFR als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen.

42 Gemäß Artikel 54 Absatz 1 Satz 2 seiner EG-Satzung kann der Gerichtshof im Fall der Aufhebung der Entscheidung des Gerichts den Rechtsstreit selbst entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist. Dies ist hier der Fall.

43 Insoweit genügt die Feststellung, daß mit der Rücknahme der Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 24. Januar 1991 durch die Entscheidungen vom 18. April 1991 und vom 20. Januar 1992 gegen den Grundsatz des Schutzes des Vertrauens des Adressaten der erstgenannten Entscheidung verstossen worden ist, so daß die beiden letztgenannten Entscheidungen aufzuheben sind.

Der Antrag auf Schadensersatz

44 Der Rechtsmittelführer hat beantragt, das Parlament zu verurteilen, an ihn 9 147 091 BFR zuzueglich Verzugszinsen in Höhe von jährlich 10 % ab dem 24. Januar 1991 bis zum Tag der tatsächlichen Zahlung zu zahlen.

45 Da es sich um eine Streitsache vermögensrechtlicher Art handelt, in der der Gemeinschaftsrichter gemäß Artikel 91 Absatz 1 Satz 2 des Statuts zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung befugt ist, ist diesem Antrag stattzugeben. Dem Antrag auf Zahlung von Verzugszinsen, der ebenfalls unter die Befugnis des Gerichtshofes zur unbeschränkten Ermessensnachprüfung fällt (vgl. insbesondere Urteil des Gerichts vom 30. November 1993 in der Rechtssache T-15/93, Vienne/Parlament, Slg. 1993, II-1327, Randnr. 42), ist stattzugeben; der Zinssatz ist auf jährlich 8 % ab dem 24. Januar 1991 bis zum Tag der tatsächlichen Zahlung festzusetzen.

Kostenentscheidung:

Kosten

46 Nach Artikel 122 der Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er selbst den Rechtsstreit endgültig entscheidet. Nach Artikel 69 § 2, der gemäß Artikel 118 auf das Rechtsmittelverfahren anwendbar ist, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm ausser den eigenen Kosten sämtliche Kosten aufzuerlegen, die dem Rechtsmittelführer im Verfahren vor dem Gericht und vor dem Gerichtshof entstanden sind.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Urteil des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Januar 1995 in den Rechtssachen T-90/91 und T-62/92 (De Compte/Parlament) wird mit Ausnahme der darin ausgesprochenen Verurteilung des Europäischen Parlaments, an den Rechtsmittelführer 200 000 BFR als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen, aufgehoben.

2. In der Rechtssache T-90/91 wird die Entscheidung vom 18. April 1991 aufgehoben.

3. In der Rechtssache T-62/92 wird die Entscheidung vom 20. Januar 1992 aufgehoben.

4. Das Europäische Parlament wird verurteilt, an den Rechtsmittelführer 9 147 091 BFR zuzueglich Verzugszinsen in Höhe von jährlich 8 % ab dem 24. Januar 1991 bis zum Tag der tatsächlichen Zahlung zu zahlen.

5. Das Europäische Parlament trägt sämtliche Kosten beider Instanzen.

Ende der Entscheidung

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