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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 27.10.1993
Aktenzeichen: C-92/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, RiLi 83/201


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 177
RiLi 83/201 Art. 6
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. In die öffentliche Verwaltung eingegliederte Stellen, denen der Betrieb des öffentlichen Telekommunikationsnetzes und der Vertrieb von Endgeräten übertragen worden ist, verlieren aufgrund dieses Umstands nicht die Qualifikation als öffentliche Unternehmen im Sinne des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Artikels 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 88/301. Denn eine Stelle, die wirtschaftliche Tätigkeiten industrieller oder kommerzieller Art ausübt, muß nicht notwendig eine vom Staat getrennte Rechtspersönlichkeit besitzen, um als öffentliches Unternehmen angesehen zu werden. Wäre dies nicht der Fall, so würden die Wirksamkeit der Bestimmungen der fraglichen Richtlinie sowie die Einheitlichkeit ihrer Anwendung in allen Mitgliedstaaten beeinträchtigt.

2. Einzelne Direktionen ein und derselben Behörde, die mit dem Betrieb des öffentlichen Netzes, der Durchführung der Handelspolitik im Bereich der Telekommunikation, der Festschreibung der technischen Spezifikationen, der Kontrolle ihrer Anwendung und der Zulassung der Endgeräte zugleich betraut ist, können nicht als unabhängig im Sinne des Artikels 6 der Richtlinie 88/301 angesehen werden, wonach die mit der Festschreibung der technischen Spezifikationen, der Kontrolle ihrer Anwendung und der Zulassung betraute Stelle von den im Bereich der Telekommunikation Waren und/oder Dienstleistungen anbietenden öffentlichen oder privaten Unternehmen unabhängig sein muß.

3. Artikel 6 der Richtlinie 88/301 steht einer nationalen Regelung entgegen, die es den Wirtschaftsteilnehmern unter Strafandrohung verbietet, Endgeräte herzustellen, einzuführen, zum Zweck des Verkaufs zu besitzen, zu verkaufen oder zu vertreiben, ohne durch Vorlage einer Zulassung oder einer anderen, als gleichwertig angesehenen Urkunde nachgewiesen zu haben, daß diese Geräte bestimmten wesentlichen Anforderungen entsprechen, die insbesondere mit der Sicherheit der Benutzer und dem einwandfreien Betrieb des Netzes zusammenhängen, wenn nicht gewährleistet ist, daß die Stelle, die die Zulassung erteilt oder eine andere, gleichwertige Urkunde ausstellt und die technischen Spezifikationen festschreibt, denen diese Geräte genügen müssen, unabhängig ist von allen Wirtschaftsteilnehmern, die Waren und/oder Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation anbieten.


URTEIL DES GERICHTSHOFES VOM 27. OKTOBER 1993. - STRAFVERFAHREN GEGEN ANNICK TAILLANDIER, VERHEIRATETE NENY. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DE POLICE DE VICHY - FRANKREICH. - RICHTLINIE 88/301/EWG DER KOMMISSION - UNABHAENGIGKEIT DER MIT DER REGELUNG BETRAUTEN STELLE - STRAFSANKTIONEN. - RECHTSSACHE C-92/91.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal de police Vichy (Frankreich) hat mit Urteil vom 5. März 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 13. März 1991, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 88/301/EWG der Kommission vom 16. Mai 1988 über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikations-Endgeräte (ABl. L 131, S. 73) zur Vorabentscheidung vorgelegt, um die Vereinbarkeit der mit dem französischen Dekret Nr. 85-712 vom 11. Juli 1985 zur Durchführung des Gesetzes vom 1. August 1905 und betreffend Geräte, die zum Anschluß an das staatliche Telekommunikationsnetz geeignet sind, eingeführten Regelung mit dieser Richtlinie beurteilen zu können.

2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Annick Taillandier, die angeklagt ist, am 5. April 1990 Telekommunikations-Endgeräte (Fernsprechgeräte) verkauft zu haben, ohne die in den Artikeln 1 bis 7 des vorgenannten Dekrets vorgesehene Zulassung erhalten zu haben. Die Angeklagte und Berufungsführerin macht jedoch geltend, dieses Dekret sei wegen Verstosses gegen die Richtlinie 88/301 rechtswidrig.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß nach dem obengenannten Dekret Geräte, die zum Anschluß an das öffentliche Netz geeignet sind, nur dann für den Inlandsmarkt hergestellt, zur Überführung in den freien Verkehr eingeführt, zum Zweck des Verkaufs besessen, zum Kauf angeboten, unentgeltlich abgegeben oder entgeltlich vertrieben werden dürfen, wenn sie den Bestimmungen des Dekrets entsprechen und einer Reihe von Vorschriften zur Wahrung des einwandfreien Betriebs des Netzes und der Sicherheit der Benutzer genügen (Artikel 3 und 4). Zum Nachweis dafür, daß die Geräte diesen Erfordernissen entsprechen, müssen die betreffenden Wirtschaftsteilnehmer einen Bericht einer vom Industrieministerium zugelassenen Stelle, eine nach dem Code des Postes et Télécommunications (Gesetz über das Post- und Fernmeldewesen) erteilte Zulassung, eine nach dem Gesetz über den Schutz und die Information der Verbraucher erteilte Eignungsbescheinigung oder einen anderen, durch Verordnung des Industrieministers als gleichwertig anerkannten Nachweis vorlegen (Artikel 6). Artikel 7 des Dekrets erklärt den Verstoß gegen die Verpflichtung, die Zulässigkeit der fraglichen Geräte nachzuweisen, für strafbar.

4 Zur Durchführung des Dekrets Nr. 85-712 gab der Minister für industrielle Weiterentwicklung und Aussenhandel am 1. November 1985 eine Bekanntmachung über die Endgeräte heraus, die an das Telekommunikationsnetz des Staates angeschlossen werden können. In der Bekanntmachung wird u. a. genau angegeben, auf welche Art und Weise der Nachweis für die Zulässigkeit der Endgeräte erbracht werden kann. Dazu heisst es in der Bekanntmachung, daß das Centre national d' études des télécommunications (CNET; Staatliches Studienzentrum für Telekommunikation) vom Industrieminister ermächtigt worden sei, den Bericht nach Artikel 6 des Dekrets Nr. 85-712 zu erstellen, daß die Zulassung nach dem Code des Postes et Télécommunications von der Generaldirektion "Telekommunikation" für die Geräte erteilt werde, die den Spezifikationen der Liste im Anhang zur Bekanntmachung entsprächen, und daß die in Artikel 6 vorgesehenen anderen Nachweismethoden später eingeführt würden. Die mündliche Verhandlung vor dem Gerichtshof hat nicht ergeben, ob das Verfahren zur Ausstellung anderer Urkunden als der Zulassung und des CNET-Berichts nach der Bekanntmachung vom November 1985 auch eingeführt worden ist.

5 Da das Tribunal de police Vichy der Auffassung ist, das Strafverfahren werfe ein Problem der Auslegung der fraglichen Gemeinschaftsregelung auf, hat es dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verbietet die Richtlinie der Kommission vom 16. Mai 1988 über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikations-Endgeräte ein Verfahren, wie es die durch das Dekret Nr. 85-712 vom 11. Juli 1985 eingeführte Regelung vorsieht, wonach für Fernsprechgeräte, die den Verbrauchern zum Kauf angeboten werden, bei der nationalen Gesellschaft für Telekommunikation eine Zulassung beantragt werden muß und eine Geldstrafe von 1 300 bis 2 500 FF verhängt wird, wenn die genannten Geräte nicht mit einer Angabe über diese Zulassung versehen sind?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Die Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob Artikel 6 der Richtlinie 88/301 einer nationalen Regelung wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht, entgegensteht, die es den Wirtschaftsteilnehmern unter Strafandrohung verbietet, Endgeräte herzustellen, einzuführen, zum Zweck des Verkaufs zu besitzen, zu verkaufen oder zu vertreiben, ohne durch Vorlage einer Zulassung oder einer anderen, als gleichwertig angesehenen Urkunde nachgewiesen zu haben, daß diese Geräte bestimmten wesentlichen Anforderungen entsprechen, die insbesondere mit der Sicherheit der Benutzer und dem einwandfreien Betrieb des Netzes zusammenhängen, wenn nicht gewährleistet ist, daß die Stelle, die die Zulassung erteilt oder eine andere, gleichwertige Urkunde ausstellt und die technischen Spezifikationen festschreibt, denen diese Geräte genügen müssen, von allen Wirtschaftsteilnehmern unabhängig ist, die Waren und/oder Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation anbieten.

8 Artikel 6 der Richtlinie 88/301 bestimmt: "Die Mitgliedstaaten gewährleisten, daß ab 1. Juli 1989 die Festschreibung der... Spezifikationen und die Kontrolle ihrer Anwendung sowie die Zulassung von einer Stelle vorgenommen werden, von der die im Bereich der Telekommunikation Waren und/oder Dienstleistungen anbietenden öffentlichen oder privaten Unternehmen unabhängig sind."

9 Aus den Akten geht hervor, daß nach dem Dekret Nr. 86-129 vom 28. Januar 1986 (Artikel 13 bis 15) die Generaldirektion "Telekommunikation" des Ministeriums für das Post- und Fernmeldewesen mit dem Betrieb des öffentlichen Netzes, der Durchführung der Handelspolitik im Bereich der Telekommunikation, der Festschreibung der technischen Spezifikationen, der Kontrolle ihrer Anwendung und der Zulassung der Endgeräte betraut war. Die französische Regierung hat vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen, daß das Centre national d' études des télécommunications (CNET), dessen Bericht als der Zulassung gleichwertig gelte, als Forschungsstelle zur Generaldirektion "Telekommunikation" gehöre.

10 Durch das Dekret Nr. 89-327 vom 19. Mai 1989 zur Änderung des Dekrets Nr. 86-129 wurde die Festschreibung der technischen Spezifikationen, die Kontrolle ihrer Anwendung und die Zulassung von Endgeräten der bei demselben Ministerium neu geschaffenen Direktion für allgemeine Regelungen übertragen.

11 Es ergibt sich also aus den fraglichen Rechtsvorschriften, daß in dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum verschiedene Direktionen des französischen Ministeriums für das Post- und Fernmeldewesen mit dem Betrieb des öffentlichen Netzes, der Durchführung der Handelspolitik im Bereich der Telekommunikation, der Festschreibung der technischen Spezifikationen, der Kontrolle ihrer Anwendung und der Zulassung der Endgeräte zugleich betraut waren.

12 Unter diesen Umständen ist im Lichte der Bestimmungen des Artikels 6 der Richtlinie zum einen zu prüfen, ob die französische Verwaltung des Post- und Fernmeldewesens als öffentliches Unternehmen im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen ist, und zum anderen, ob das Kriterium der Unabhängigkeit der mit der Festschreibung der Spezifikationen, der Kontrollen und der Zulassung betrauten Stelle beachtet worden ist.

13 Als Unternehmen definiert Artikel 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie "Güter oder Dienstleistungen anbietende öffentliche oder private Einrichtungen, denen der Staat besondere oder ausschließliche Rechte betreffend die Einfuhr, die Vermarktung, die Einrichtung, die Inbetriebsetzung und die Wartung von Telekommunikations-Endgeräten gewährt".

14 In die öffentliche Verwaltung eingegliederte Stellen, denen, wie im Ausgangsverfahren, der Betrieb des öffentlichen Netzes und der Vertrieb von Endgeräten übertragen worden ist, verlieren aufgrund dieses Umstands nicht die Qualifikation als öffentliche Unternehmen. Wie der Gerichtshof nämlich im Zusammenhang mit der Richtlinie 80/723/EWG der Kommission vom 25. Juni 1980 über die Transparenz der finanziellen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen (ABl. L 195, S. 35) festgestellt hat, muß eine Stelle, die wirtschaftliche Tätigkeiten industrieller oder kommerzieller Art ausübt, nicht notwendig eine vom Staat getrennte Rechtspersönlichkeit besitzen, um als öffentliches Unternehmen angesehen zu werden. Wäre dies nicht der Fall, so würde die Wirksamkeit der Bestimmungen der fraglichen Richtlinie sowie die Einheitlichkeit ihrer Anwendung in allen Mitgliedstaaten beeinträchtigt (vgl. Urteil vom 16. Juni 1987 in der Rechtssache 118/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, 2599, Randnr. 13).

15 Zum Erfordernis der Unabhängigkeit der Stelle, die mit der Festschreibung der Spezifikationen, der Kontrolle ihrer Anwendung sowie der Zulassung betraut ist, genügt die Feststellung, daß einzelne Direktionen ein und derselben Behörde nicht als voneinander unabhängig im Sinne des Artikels 6 der Richtlinie angesehen werden können.

16 Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Artikel 6 der Richtlinie 88/301 einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Wirtschaftsteilnehmern unter Strafandrohung verbietet, Endgeräte herzustellen, einzuführen, zum Zweck des Verkaufs zu besitzen, zu verkaufen oder zu vertreiben, ohne durch Vorlage einer Zulassung oder einer anderen, als gleichwertig angesehenen Urkunde nachgewiesen zu haben, daß diese Geräte bestimmten wesentlichen Anforderungen entsprechen, die insbesondere mit der Sicherheit der Benutzer und dem einwandfreien Betrieb des Netzes zusammenhängen, wenn nicht gewährleistet ist, daß die Stelle, die die Zulassung erteilt oder eine andere, gleichwertige Urkunde ausstellt und die technischen Spezifikationen festschreibt, denen diese Geräte genügen müssen, von allen Wirtschaftsteilnehmern unabhängig ist, die Waren und/oder Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation anbieten.

Kostenentscheidung:

Kosten

17 Die Auslagen der Regierungen der Französischen Republik und des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

auf die ihm vom Tribunal de police Vichy mit Urteil vom 5. März 1991 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 6 der Richtlinie 88/301/EWG der Kommission vom 16. Mai 1988 über den Wettbewerb auf dem Markt für Telekommunikations-Endgeräte steht einer nationalen Regelung entgegen, die es den Wirtschaftsteilnehmern unter Strafandrohung verbietet, Endgeräte herzustellen, einzuführen, zum Zweck des Verkaufs zu besitzen, zu verkaufen oder zu vertreiben, ohne durch Vorlage einer Zulassung oder einer anderen, als gleichwertig angesehenen Urkunde nachgewiesen zu haben, daß diese Geräte bestimmten wesentlichen Anforderungen entsprechen, die insbesondere mit der Sicherheit der Benutzer und dem einwandfreien Betrieb des Netzes zusammenhängen, wenn nicht gewährleistet ist, daß die Stelle, die die Zulassung erteilt oder eine andere, gleichwertige Urkunde ausstellt und die technischen Spezifikationen festschreibt, denen diese Geräte genügen müssen, von allen Wirtschaftsteilnehmern unabhängig ist, die Waren und/oder Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation anbieten.

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