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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 20.03.1991
Aktenzeichen: C-93/90
Rechtsgebiete: EWGV, VO Nr. 1408/71/EWG


Vorschriften:

EWGV Art. 177
VO Nr. 1408/71/EWG Art. 51
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine von einem Mitgliedstaat einem Arbeitnehmer gewährte Rente, die aufgrund nationaler Antikumulierungsvorschriften betragsmässig so festgestellt worden ist, daß sie zusammen mit einer von einem anderen Mitgliedstaat gewährten Leistung anderer Art eine bestimmte Hoechstgrenze nicht übersteigt, darf im Falle späterer Änderungen der anderen Leistung aufgrund der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage weder gemäß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 noch gemäß einer anderen gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift geändert werden, um ein Überschreiten der Hoechstgrenze zu verhindern.


URTEIL DES GERICHTSHOFES (DRITTE KAMMER) VOM 20. MAERZ 1991. - ERMINIA CASSAMALI GEGEN OFFICE NATIONAL DES PENSIONS. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE BRUXELLES - BELGIEN. - SOZIALE SICHERHEIT - LEISTUNGEN BEI ALTER - ANPASSUNG UND NEUBERECHNUNG VON LEISTUNGEN. - RECHTSSACHE C-93/90.

Entscheidungsgründe:

1 Das Tribunal du travail Brüssel hat mit Urteil vom 19. März 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung von Artikel 51 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, (ABl. L 149, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Klägerin des Ausgangsverfahrens und dem Office national des pensions (ONP), dem für die Gewährung von Leistungen bei Alter zuständigen belgischen Träger.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß die Klägerin in Italien und in Belgien berufstätig war.

4 Aufgrund ihrer beruflichen Laufbahn konnte sie Ansprüche auf eine Altersrente in Italien und zwei Altersrenten in Belgien - eine aufgrund ihrer Arbeitnehmertätigkeit und eine aufgrund ihrer selbständigen Tätigkeit - erwerben. Seit 1. Oktober 1976 stehen ihr in diesen beiden Staaten Ansprüche auf Altersrente zu. Zu diesem Zeitpunkt beliefen sich die drei Renten auf insgesamt 78 868 BFR.

5 Der Klägerin, deren Ehegatte vor seinem Tod in Belgien berufstätig gewesen war, wurde darüber hinaus ab diesem Zeitpunkt eine Hinterbliebenenrente nach belgischem Recht gewährt. Diese hätte 98 127 BFR betragen müssen.

6 Bei der Berechnung dieser Hinterbliebenenrente berücksichtigte der zuständige belgische Träger, die Caisse nationale des pensions de retraite et de survie, deren Rechtsnachfolger 1987 das ONP wurde, jedoch die Antikumulierungsvorschrift des Artikels 52 der belgischen königlichen Verordnung vom 21. Dezember 1967. Danach kann eine Hinterbliebenenrente mit einer oder mehreren Altersrenten oder sonstigen gleichgestellten Leistungen, die aufgrund belgischer oder ausländischer Rechtsvorschrift gewährt werden, nur bis zu einer bestimmten Hoechstgrenze kumuliert werden.

7 Im Fall der Klägerin betrug diese Hoechstgrenze am 1. Oktober 1976 139 277 BFR; der Gesamtbetrag der ihr eigentlich zustehenden belgischen und italienischen Altersrente sowie der belgischen Hinterbliebenenrente belief sich dagegen auf 176 995 BFR und überstieg damit die Hoechstgrenze um 37 718 BFR. Die vom belgischen Träger schließlich festgestellte Hinterbliebenenrente wurde deshalb um diesen Betrag gekürzt und demgemäß mit dem 1. Oktober 1976 von 98 127 BFR auf 60 409 BFR herabgesetzt.

8 Bei den späteren Terminen berechnete der belgische Träger die Hinterbliebenenrente weiterhin so, daß der kumulierte Betrag der der Klägerin gewährten Renten die Hoechstgrenze nach der nationalen Regelung nicht überstieg. Da die italienische Altersrente aufgrund der italienischen Rentenindexierungsregelung beträchtlich anstieg, ergab sich eine Verringerung des tatsächlichen Betrags der Hinterbliebenenrente der Klägerin.

9 Die Klägerin erhob hiergegen eine Klage beim Tribunal du travail Brüssel, mit der sie geltend machte, daß diese Berechnungsmethode gegen Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 verstosse.

10 Das vorlegende Gericht hat daraufhin das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

- Erlaubt Artikel 51 der Verordnung Nr. 1408/71 die Neuberechnung einer belgischen Rente wegen einer allein auf den Anstieg der Lebenshaltungskosten zurückzuführenden Erhöhung einer italienischen Rente?

11 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

12 Aus den Akten des Ausgangsverfahrens ergibt sich, daß die beiden Vorlagefragen, die zusammen zu beantworten sind, im wesentlichen dahin gehen, ob in Fällen, in denen die von einem Mitgliedstaat einem Arbeitnehmer gewährte Rente aufgrund nationaler Antikumulierungsvorschriften betragsmässig so festgestellt worden ist, daß sie zusammen mit einer von einem anderen Mitgliedstaat gewährten Leistung gleich welcher Art eine bestimmte Hoechstgrenze nicht übersteigt, Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 oder eine andere gemeinschaftsrechtliche Vorschrift es ermöglicht, die Höhe dieser Rente zu ändern, um bei späteren Änderungen der anderen Leistung aufgrund der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage eine Überschreitung der Hoechstgrenze zu verhindern.

13 Bei der Berechnung der Höhe von Altersrenten, die einem Arbeitnehmer zu gewähren sind, der den Rechtsvorschriften zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten unterlegen hat, hat der zuständige Träger eines jeden dieser Staaten einen Vergleich zwischen dem ausschließlich nach dem nationalen Recht einschließlich seiner Antikumulierungsvorschriften geschuldeten Betrag und dem Betrag anzustellen, der sich nach Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 ergibt. Bei der Feststellung der einzelnen Leistungen ist von diesen beiden Regelungen jeweils die dem Arbeitnehmer günstigere anzuwenden.

14 Wie der Gerichtshof unter anderem im Urteil vom 21. März 1990 in der Rechtssache C-85/89 (Ravida, Slg. 1990, I-1063) ausgeführt hat, führt jede nachträgliche Änderung einer der Leistungen grundsätzlich dazu, daß für jede der Leistungen erneut ein Vergleich zwischen dem nationalen System und dem Gemeinschaftssystem anzustellen ist, um zu ermitteln, welches nach der erfolgten Änderung für den Arbeitnehmer günstiger ist.

15 Der Gerichtshof hat in diesem Urteil jedoch weiter ausgeführt, daß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, um den Verwaltungsaufwand zu verringern, den die erneute Prüfung der Situation des Arbeitnehmers bei jeder Änderung der ihm gewährten Leistungen bedeuten würde, eine Neuberechnung der Leistungen gemäß Artikel 46 und folglich einen erneuten Vergleich zwischen dem nationalen System und dem Gemeinschaftssystem ausschließt, wenn die Änderung einer der Leistungen auf Ereignissen beruht, die mit der persönlichen Situation des Arbeitnehmers nichts zu tun haben, sondern Folge der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind.

16 Gemäß Artikel 51 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist eine Neuberechnung der Altersrenten nur dann vorzunehmen, wenn die Änderung auf Änderungen des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode für die Leistung, insbesondere infolge einer Veränderung in der persönlichen Situation des Arbeitnehmers, beruht.

17 Folglich steht, wie sich aus dem Urteil Ravida vom 21. März 1990 weiter ergibt, Artikel 51 Absatz 1 auch in einer Situation wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht, in der die von einem Mitgliedstaat einem Arbeitnehmer gewährte Hinterbliebenenrente gemäß den im Recht dieses Staats enthaltenen Antikumulierungsvorschriften mit Rücksicht auf eine von einem anderen Mitgliedstaat diesem Arbeitnehmer gewährte Altersrente bei ihrer ursprünglichen Feststellung der Höhe nach begrenzt wurde, einer Neuberechnung wegen erfolgter Anpassungen der Altersrente entgegen, wenn diese Anpassungen die Folge der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sind.

18 Zwar macht das ONP in seinen beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geltend, das Verbot der Neuberechnung in Artikel 51 Absatz 1 beziehe sich nur auf die Berechnung nach Artikel 46, die dem Vergleich zwischen der Leistung nach der nationalen und nach der Gemeinschaftsregelung diene. Das ONP habe die Hinterbliebenenrente neu berechnet, um sicherzustellen, daß die nach der nationalen Antikumulierungsvorschrift vorgesehene Hoechstgrenze trotz der Erhöhungen der von dem anderen Mitgliedstaat gewährten Altersrente eingehalten würde; dies stelle jedoch keine nach Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 unzulässige vergleichende Berechnung dar.

19 Dieses Argument greift nicht durch.

20 Wie sich aus dem Wortlaut des Artikels 51 Absatz 1 ergibt, gelten in der vorliegenden Situation die Erhöhungen, die aufgrund der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage in dem die Altersrente schuldenden Staat erfolgten, unmittelbar für diese Rente. Die Hinterbliebenenrente selbst darf, unabhängig davon, ob sie allein nach dem nationalen System oder nach Artikel 46 der Verordnung Nr. 1408/71 festgestellt wurde, von diesen Erhöhungen nicht beeinflusst, insbesondere nicht hierdurch geändert werden, und zwar auch nicht, um die nationale Vorschrift über die Kumulierungshöchstgrenze weiterhin einzuhalten. Diese Änderung dürfte nämlich nur erfolgen, wenn zuvor sichergestellt worden wäre, daß diese geänderte Hinterbliebenenrente bei weiterer Anwendung des nationalen oder des Gemeinschaftssystems, nach dem sie ursprünglich festgestellt wurde, zumindest ebenso vorteilhaft bliebe, wie bei Anwendung des anderen Systems; dies würde einen erneuten Vergleich dieser beiden Systeme voraussetzen. Gerade dem steht aber Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 entgegen.

21 Es gibt auch keine andere gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, die eine Neuberechnung der Leistungen in Fällen gestatten würde, in denen sie Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 untersagt.

22 Abgesehen von den in Artikel 51 Absatz 2 genannten Fällen einer Änderung des Feststellungsverfahrens oder der Berechnungsmethode für die Leistungen unterliegt eine Leistung bei Alter demgemäß nur den Änderungen in Prozenten oder absoluten Zahlen, die sich aus den nationalen Indexierungsvorschriften des diese Leistung schuldenden Staates ergeben. Dagegen kann sie durch die - aus einem der in Artikel 51 Absatz 1 genannten Gründe eingetretene - Änderung einer anderen Leistung weder unmittelbar noch mittelbar beeinflusst werden.

23 Demnach ist auf die beiden Vorlagefragen des nationalen Gerichts zu antworten, daß eine von einem Mitgliedstaat einem Arbeitnehmer gewährte Rente, die aufgrund nationaler Antikumulierungsvorschriften betragsmässig so festgestellt worden ist, daß sie zusammen mit einer von einem anderen Mitgliedstaat gewährten Leistung gleich welcher Art eine bestimmte Hoechstgrenze nicht übersteigt, im Falle späterer Änderungen der anderen Leistung aufgrund der allgemeinen Entwicklung

der wirtschaftlichen und sozialen Lage weder gemäß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 noch gemäß einer anderen gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift betragsmässig geändert werden darf, um ein Überschreiten der Hoechstgrenze zu verhindern.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

auf die ihm vom Tribunal du travail Brüssel mit Urteil vom 19. März 1990 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Eine von einem Mitgliedstaat einem Arbeitnehmer gewährte Rente, die aufgrund nationaler Antikumulierungsvorschriften betragsmässig so festgestellt worden ist, daß sie zusammen mit einer von einem anderen Mitgliedstaat gewährten Leistung anderer Art eine bestimmte Hoechstgrenze nicht übersteigt, darf im Falle späterer Änderungen der anderen Leistung aufgrund der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Lage weder gemäß Artikel 51 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, noch gemäß einer anderen gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift geändert werden, um ein Überschreiten der Hoechstgrenze zu verhindern.

Ende der Entscheidung

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