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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäischer Gerichtshof
Urteil verkündet am 04.05.2006
Aktenzeichen: C-98/04
Rechtsgebiete: Richtlinie 85/337/EWG


Vorschriften:

Richtlinie 85/337/EWG Art. 2 Abs. 1
Richtlinie 85/337/EWG Art. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

URTEIL DES GERICHTSHOFES (Zweite Kammer)

4. Mai 2006(*)

"Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 85/337/EWG - Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten - Kein Antrag auf Genehmigung und Prüfung vor der Durchführung eines Projekts - Unzulässigkeit der Klage"

Parteien:

In der Rechtssache C-98/04

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG, eingereicht am 26. Februar 2004,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch F. Simonetti und M. Shotter als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, zunächst vertreten durch K. Manji, dann durch M. Bethell als Bevollmächtigte im Beistand von P. Sales und J. Maurici, Barristers, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter J. Makarczyk (Berichterstatter) und R. Schintgen,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,

Kanzler: K. Sztranc, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Juni 2005,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2005

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

1 Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40) in der Fassung der Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 (ABl. L 73, S. 5, im Folgenden: Richtlinie 85/337) verstoßen hat, indem es den Artikeln 2 Absatz 1 und 4 dieser Richtlinie nicht nachgekommen ist.

Rechtlicher Rahmen

Das Gemeinschaftsrecht

2 Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 85/337 lautet:

"Im Sinne dieser Richtlinie sind:

Projekt:

- die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen,

- sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen;

Projektträger:

Person, die die Genehmigung für ein privates Projekt beantragt, oder die Behörde, die ein Projekt betreiben will;

Genehmigung:

Entscheidung der zuständigen Behörde oder der zuständigen Behörden, aufgrund deren der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält."

3 Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen unter anderem aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht unterworfen und einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert."

4 Artikel 4 der Richtlinie sieht vor:

"(1) Projekte des Anhangs I werden vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen.

(2) Bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 anhand

a) einer Einzelfalluntersuchung

oder

b) der von den Mitgliedstaaten festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien,

ob das Projekt einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen werden muss.

Die Mitgliedstaaten können entscheiden, beide unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren anzuwenden.

(3) Bei der Einzelfalluntersuchung oder der Festlegung von Schwellenwerten bzw. Kriterien im Sinne des Absatzes 2 sind die relevanten Auswahlkriterien des Anhangs III zu berücksichtigen.

(4) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die gemäß Absatz 2 getroffenen Entscheidungen der zuständigen Behörden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden." Das nationale Recht

5 Section 171 A (a) des Town and Country Planning Act 1990 (Raumordnungsgesetz 1990) in der Fassung des Planning and Compensation Act 1991 (Gesetz über Raumplanung und Entschädigung, im Folgenden: TCPA) sieht vor:

"Im Sinne dieses Gesetzes sind

a) die Durchführung eines Bauvorhabens ohne die erforderliche Baugenehmigung oder

b) die Nichterfüllung der mit der Baugenehmigung verbundenen Bedingungen und Auflagen

Verstöße gegen das Bau- und Raumordnungsrecht."

6 Section 171 B TCPA bestimmt:

"1. Ist gegen das Bau- oder Planungsrecht verstoßen worden, indem ohne eine entsprechende Genehmigung bauliche, technische oder bergbauliche Anlagen errichtet oder andere Maßnahmen in, auf, unter oder über dem Erdboden durchgeführt worden sind, können nach Ablauf von vier Jahren nach dem Zeitpunkt, zu dem die genannten Vorhaben im Wesentlichen abgeschlossen worden sind, keine Zwangsmaßnahmen mehr festgesetzt werden.

2. Ist gegen das Bau- oder Planungsrecht verstoßen worden, indem die Nutzung eines einzelnen zu Wohnzwecken bestimmten Hauses geändert worden ist, können nach Ablauf von vier Jahren nach dem Zeitpunkt der Zuwiderhandlung keine Zwangsmaßnahmen mehr festgesetzt werden.

3. In allen anderen Fällen eines Verstoßes gegen das Bau- oder Planungsrecht können nach Ablauf von zehn Jahren nach dem Zeitpunkt der Zuwiderhandlung keine Zwangsmaßnahmen mehr festgesetzt werden.

..."

7 Nach Section 172 (1) TCPA kann die örtliche Bau- und Planungsbehörde einen Aufforderungsbescheid erlassen, wenn ihrer Meinung nach

"a) ein Verstoß gegen das Bau- oder Planungsrecht vorliegt und

b) der Erlass eines solchen Bescheids unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Bauleitplans und anderer einschlägiger Erwägungen zweckmäßig ist".

8 Nach Section 174 TCPA kann der Eigentümer oder Besitzer des Grundstücks gegen einen solchen Bescheid aus den in dieser Bestimmung genannten Gründen Klage erheben.

9 In Absatz 2 dieser Bestimmung ist folgender Grund angeführt:

"(d) wenn zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids Zwangsmaßnahmen zur Abstellung der Verstöße gegen das Bau- oder Planungsrecht, die in den genannten Handlungen bestehen, nicht mehr möglich sind".

10 Artikel 191 TCPA lautet:

"1. Wer feststellen lassen will,

a) ob die bestehende Nutzung von Gebäuden oder Grundstücken rechtmäßig ist,

b) ob Maßnahmen, die in, auf, über oder unter dem Erdboden durchgeführt worden sind, rechtmäßig sind,

c) ob eine andere Gegebenheit, die nicht den mit einer Genehmigung verbundenen Bedingungen und Auflagen entspricht, rechtmäßig ist,

kann einen entsprechenden Antrag an die örtliche Planungsbehörde unter Angabe des Grundstücks und Beschreibung der Nutzung, der Maßnahme oder einer anderen Gegebenheit richten.

2. Die Nutzungen und Maßnahmen sind im Sinne dieses Gesetzes stets rechtmäßig, wenn

a) keine Zwangsmaßnahmen mehr festgesetzt werden können (sei es, weil es nicht um eine Bebauung geht oder keine Genehmigungspflicht besteht oder die Frist für die Festsetzung von Zwangsmaßnahmen abgelaufen ist oder andere Gründe vorliegen) und

b) sie nicht gegen eine Anordnung eines seinerzeit geltenden Aufforderungsbescheids verstoßen.

3. Eine Gegebenheit, die nicht den mit einer Genehmigung verbundenen Bedingungen und Auflagen entspricht, ist im Sinne dieses Gesetzes stets rechtmäßig, wenn

a) die Frist für die Festsetzung von Zwangsmaßnahmen wegen dieses Verstoßes abgelaufen ist und

b) sie keinen Verstoß gegen eine Anordnung eines seinerzeit geltenden Aufforderungs- oder Erinnerungsbescheids darstellt.

4. Wenn nach Einreichung eines Antrags gemäß dieser Section der örtlichen Planungsbehörde Informationen mitgeteilt werden, die sie davon überzeugen, dass die Nutzung, die Maßnahme oder eine andere Gegebenheit, wie sie im Antrag beschrieben oder in diesem Antrag von der örtlichen Behörde abgeändert oder ersetzt worden ist, seinerzeit rechtmäßig gewesen ist, hat die Behörde die entsprechende Bescheinigung auszustellen; andernfalls ist der Antrag zurückzuweisen.

5. Eine Bescheinigung gemäß dieser Section muss

a) das Grundstück angeben, auf das sie sich bezieht,

b) beschreiben, um welche Nutzung, Maßnahme oder andere Gegebenheit es im betreffenden Fall geht (fällt die Nutzung in eine der Klassen, die in einer Verordnung gemäß Section 55 [2] [f] aufgeführt sind, wird sie durch Bezugnahme auf diese Klasse bestimmt),

c) die Gründe angeben, weshalb die Nutzung, die Maßnahme oder eine andere Gegebenheit als rechtmäßig anzusehen ist und

d) den Zeitpunkt des Antrags auf Erteilung einer Bescheinigung angeben.

6. Die Rechtmäßigkeit einer Nutzung, einer Maßnahme oder einer anderen Gegebenheit, für die eine Bescheinigung gemäß dieser Section ausgestellt worden ist, gilt als endgültig nachgewiesen.

..." Das Vorverfahren

11 Bei der Kommission wurde eine Beschwerde gegen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland eingereicht, mit der dessen Praxis bei der Erteilung der Lawful Development Certificates (Bescheinigung über die bau- und planungsrechtliche Zulässigkeit, im Folgenden: LDC) gemäß Section 191 TCPA im konkreten Fall einer Verschrottungsanlage gerügt wurde, die ohne eine bau- oder planungsrechtliche Genehmigung oder eine Abfallbeseitigungslizenz betrieben wurde und für die eine LDC im Jahr 1993 und eine weitere LDC für einen größeren Schrottplatz im Jahr 1998 erteilt worden waren.

12 Am 8. Februar 2001 richtete die Kommission ein Schreiben an die Regierung des Vereinigten Königreichs, in dem sie unter Bezugnahme auf die Anforderungen der Richtlinie 85/337 um Informationen über das zu jenem Zeitpunkt geltende System der LDC bat

13 Aufgrund der Antwort des Vereinigten Königreichs in seinem Schreiben vom 31. August 2001 war die Kommission der Ansicht, dass die LDC als ein Mittel zur Umgehung der Genehmigungspflicht und der Pflicht einer Umweltverträglichkeitsprüfung angesehen werden könnten, die gemäß der Richtlinie 85/337 vorgeschrieben sind, und übersandte diesem Mitgliedstaat daher am 23. Oktober 2001 ein Mahnschreiben.

14 Mit einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 19. Dezember 2002 forderte die Kommission das Vereinigte Königreich auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Verpflichtungen aus der genannten Richtlinie binnen zwei Monaten vom Eingang dieser Stellungnahme an nachzukommen.

15 Da die Kommission die Stellungnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs in deren Schreiben vom 3. April 2003 für unzureichend hielt, hat sie die vorliegende Klage erhoben. Zur Zulässigkeit der Klage

16 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof von Amts wegen prüfen kann, ob die gemäß Artikel 226 EG für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage geltenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. u. a. Urteile vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-362/90, Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2353, Randnr. 8, und vom 27. Oktober 2005 in der Rechtssache C-525/03, Kommission/Italien, Slg. 2005, I-9405, Randnr. 8 ).

17 Die mit Gründen versehene Stellungnahme nach Artikel 226 EG muss eine zusammenhängende und detaillierte Darlegung der Gründe enthalten, aus denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt ist, dass der betreffenden Mitgliedstaat gegen eine ihm nach dem EG-Vertrag obliegende Verpflichtung verstoßen hat (vgl. u. a. Urteil vom 16. September 1997 in der Rechtssache C-279/94, Kommission/Italien, Slg. 1997, I-4743, Randnrn. 15 und 19).

18 Somit müssen die mit Gründen versehene Stellungnahme und dementsprechend die Klage, die nach ständiger Rechtsprechung, wie sie insbesondere im Urteil vom 1. Dezember 1993 in der Rechtssache C-234/91 (Kommission/Dänemark, Slg. 1993, I-6273, Randnr. 16) zum Ausdruck kommt, nicht auf andere Behauptungen und Gründe gestützt werden kann als die, die in dieser Stellungnahme vorgetragen worden sind, eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des diesem Staat vorgeworfenen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich gebührend verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt.

19 Sowohl im Vorverfahren dieses Rechtsstreits als auch im streitigen Verfahren selbst hat die Kommission ihre Kritik aber auf die Erteilung der LDC konzentriert, soweit dadurch die Genehmigungspflicht und die Pflicht einer Umweltverträglichkeitsprüfung umgangen werden können, die gemäß der Richtlinie 85/337 für Projekte vorgeschrieben sind, bei denen aufgrund ihrer Art, ihrer Größe und ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist.

20 Die Kommission hat keine Rügen speziell gegen das Bestehen von Verjährungsfristen für die Festsetzung von Zwangsmaßnahmen wegen der einschlägigen Regelung widersprechender Anlagen und Bauten vorgetragen, obwohl die Erteilung der LDC schon ihrer Natur nach nicht von einer solchen Verjährungsregelung zu trennen ist. Nach Section 191 TCPA wird eine Bescheinigung über die Rechtmäßigkeit nämlich insbesondere dann erteilt, wenn gegen die in Rede stehende Nutzung oder Maßnahmen keine Zwangsmaßnahme mehr festgesetzt werden kann, sei es, weil es nicht um eine Bebauung geht oder keine Genehmigungs- oder Erlaubnispflicht besteht oder aber weil Verjährung eingetreten ist.

21 Folglich erfüllt die vorliegende Vertragsverletzungsklage nicht die vorstehend genannten Anforderungen einer kohärenten und genauen Darstellung, da dem Gerichtshof nur eine Seite einer rechtlichen Regelung unterbreitet worden ist, die aus zwei voneinander nicht zu trennenden Teilen besteht.

22 Dies gilt umso mehr, als die Argumente der Regierung des Vereinigten Königreichs, mit denen sie die Vertragsverletzung bestreitet, sich im Wesentlichen auf die Verjährungsregelung beziehen, die die Kommission in den Streitgegenstand nicht einbezogen hat und die daher von den Parteien nicht eingehender hat erörtert werden können.

23 Infolgedessen ist die Klage als unzulässig abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

24 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich eine entsprechende Verurteilung der Kommission beantragt hat und die Klage der Letzteren für unzulässig erklärt worden ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften trägt die Kosten des Verfahrens.



Ende der Entscheidung

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