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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 11.03.1999
Aktenzeichen: T-138/94
Rechtsgebiete: 94/215/EGKS, EGKS-Vertrag


Vorschriften:

94/215/EGKS Art. 1
94/215/EGKS Art. 4
EGKS-Vertrag Art. 65
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Die Tatsache, daß sich ein Unternehmen, dessen Beteiligung an einer Preisabsprache mit seinen Konkurrenten erwiesen ist, auf dem Markt nicht in der mit ihnen vereinbarten Weise verhalten hat, ist bei der Bestimmung der Höhe der zu verhängenden Geldbusse nicht zwangsläufig als mildernder Umstand zu berücksichtigen. Ein Unternehmen, das trotz der Absprache mit seinen Konkurrenten eine mehr oder weniger unabhängige Marktpolitik verfolgt, versucht möglicherweise nur, das Kartell zu seinem Vorteil auszunutzen.

2 Eine Herabsetzung der Geldbusse aufgrund einer Kooperation während des Verwaltungsverfahrens ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des beschuldigten Unternehmens es der Kommission ermöglicht hat, eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln leichter festzustellen und gegebenenfalls zu beenden.

3 Die Festsetzung einer Geldbusse durch das Gericht im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ist dem Wesen nach kein streng mathematischer Vorgang. Im übrigen ist das Gericht nicht an die Berechnungen der Kommission gebunden, sondern hat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine eigene Beurteilung vorzunehmen.


Urteil des Gerichts erster Instanz (Zweite erweiterte Kammer) vom 11. März 1999. - COCKERILL-SAMBRE SA gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - EGKS-Vertrag - Wettbewerb - Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Verbänden von Unternehmen und verabredete Praktiken - Preisfestsetzung - Markaufteilung - Informationsaustauschsysteme. - Rechtssache T-138/94.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt

A - Vorbemerkungen

1 Die vorliegende Klage ist auf die Nichtigerklärung der Entscheidung 94/215/EGKS der Kommission vom 16. Februar 1994 in einem Verfahren nach Artikel 65 des EGKS-Vertrags betreffend Vereinbarungen und verabredete Praktiken von europäischen Trägerherstellern (ABl. L 116, S. 1; im folgenden: Entscheidung oder angefochtene Entscheidung) gerichtet, mit der die Kommission die gegen Artikel 65 § 1 EGKS-Vertrag verstossende Beteiligung von 17 europäischen Stahlunternehmen und einem ihrer Wirtschaftsverbände an einer Reihe von Vereinbarungen, Beschlüssen und verabredeten Praktiken zur Festsetzung von Preisen, zur Marktaufteilung und zum Austausch vertraulicher Informationen auf dem Trägermarkt der Gemeinschaft feststellte und gegen vierzehn Unternehmen aus dieser Branche Geldbussen wegen Zuwiderhandlungen zwischen dem 1. Juli 1988 und dem 31. Dezember 1990 festsetzte.

2 Nach der Entscheidung (Randnr. 13) ist die Cockerill-Sambre SA (nachstehend: Cockerill-Sambre) der grösste Stahlhersteller Belgiens. In dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitraum vertrieb die SA Steelinter (nachstehend: Steelinter) den grössten Teil der Stahlproduktion von Cockerill-Sambre, die - mittelbar oder unmittelbar - alle Anteile an Steelinter besaß. Steelinter fusionierte am 30. Dezember 1989 mit Cockerill-Sambre im Wege der Aufnahme durch diese (Klageschrift, Nr. 6). 1990 hatte die Gruppe Cockerill-Sambre einen Umsatz von 203 Milliarden BFR. 1989 - dem letzten Jahr, in dem Cockerill-Sambre Träger herstellte - erreichte ihr Trägerumsatz in der Gemeinschaft 5,74 Milliarden BFR oder umgerechnet 132 Millionen ECU.

...

D - Die angefochtene Entscheidung

3 Die angefochtene Entscheidung, die der Klägerin zusammen mit einem Begleitschreiben von Herrn Van Miert vom 28. Februar 1994 (im folgenden: Schreiben vom 28. Februar 1994) zuging, enthält folgenden verfügenden Teil:

"Artikel 1

Die folgenden Unternehmen haben in dem in dieser Entscheidung beschriebenen Umfang an den jeweils unter ihrem Namen aufgeführten wettbewerbswidrigen Praktiken teilgenommen, die den normalen Wettbewerb im Gemeinsamen Markt verhinderten, einschränkten und verfälschten. Soweit Geldbussen festgesetzt werden, ist die Dauer des Verstosses in Monaten angegeben, ausser im Fall der Aufpreisharmonisierung, wo die Teilnahme an dem Verstoß mit "x" angegeben ist.

...

Cockerill Sambre

a) Austausch vertraulicher Informationen im Rahmen der Träger-Kommission (18) b) Preisfestsetzung in der Träger-Kommission (18)

c) Preisfestsetzung auf dem dänischen Markt(12)

d) Marktaufteilung, "Traverso-System" (3)

e) Marktaufteilung, Frankreich (3)

f) Marktaufteilung, Italien (3)

g) Harmonisierung von Aufpreisen (x)

h) Preisfestsetzung auf dem französischen Markt

i) Preisfestsetzung auf dem italienischen Markt

...

Artikel 4

Wegen der in Artikel 1 genannten und nach dem 30. Juni 1988 (31. Dezember 1988(2) im Fall von Aristrain und Ensidesa) begangenen Verstösse werden folgende Geldbussen festgesetzt:

...

Cockerill Sambre S.A.4 000 000 ECU

... Artikel 6

Diese Entscheidung ist an folgende Unternehmen gerichtet:

...

- Cockerill Sambre S.A.

..."

...

Zum Hilfsantrag, mit dem die Nichtigerklärung von Artikel 4 der Entscheidung oder zumindest die Herabsetzung der Geldbusse begehrt wird

...

Zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlungen

...

4 Was die Berufung der Klägerin auf ihr angeblich wettbewerbsbestimmtes, ja aggressives Marktverhalten betrifft, ist darauf hinzuweisen, daß die Tatsache, daß sich ein Unternehmen, dessen Beteiligung an einer Preisabsprache mit seinen Konkurrenten erwiesen ist, auf dem Markt nicht in der mit ihnen vereinbarten Weise verhalten hat, bei der Bestimmung der Höhe der zu verhängenden Geldbusse nicht zwangsläufig als mildernder Umstand zu berücksichtigen ist (vgl. Urteile des Gerichts Petrofina/Kommission, Randnr. 173, und vom 14. Mai 1998 in der Rechtssache T-308/94, Cascades/Kommission, Slg. 1998, II-925, Randnr. 230). Ein Unternehmen, das trotz der Absprache mit seinen Konkurrenten eine mehr oder weniger unabhängige Marktpolitik verfolgt, versucht möglicherweise nur, das Kartell zu seinem Vorteil auszunutzen. Im vorliegenden Fall lassen die Angaben der Klägerin nicht die Annahme zu, daß ihr wirkliches Marktverhalten geeignet gewesen sein könnte, den wettbewerbswidrigen Wirkungen der festgestellten Zuwiderhandlungen entgegenzuwirken.

...

Zur angeblichen Kooperation der Klägerin mit der Kommission während des Verwaltungsverfahrens

5 Was die angebliche "umfassende oder teilweise Kooperation" betrifft, die die Klägerin während der Untersuchung der Kommission an den Tag gelegt haben will, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß sowohl die Klägerin als auch Steelinter in ihrer Antwort vom 7. November 1991 auf ein Auskunftsverlangen nach Artikel 47 des Vertrages beteuert haben, sie besässen keine Listen mit den Teilnehmern an den Sitzungen der Träger-Kommission und der Eurofer/Scandinavia-Gruppe und auch keinen der Sitzungsberichte, Protokolle oder Berichte über eine Reihe dieser Sitzungen, denen die Anfrage der Kommission galt; es ist aber aktenkundig, daß sie regelmässig solche Schriftstücke erhielten.

6 Ausserdem hat die Klägerin abgesehen von ihrer Teilnahme an einigen dieser Sitzungen keine der ihr angelasteten Tatsachen eingestanden.

7 Die Kommission hat zu Recht die Ansicht vertreten, daß sich die Klägerin mit dieser Erwiderung nicht in einer Weise verhalten habe, die eine Herabsetzung der Geldbusse aufgrund einer Kooperation während des Verwaltungsverfahrens rechtfertige. Eine Herabsetzung aus diesem Grund ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten es der Kommission ermöglicht hat, eine Zuwiderhandlung leichter festzustellen und gegebenenfalls zu beenden (vgl. Urteil Cascades/Kommission, Randnrn. 255 ff.).

...

Zur Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung durch das Gericht

8 Das Gericht hat Artikel 1 der Entscheidung bereits für nichtig erklärt, soweit darin die Teilnahme der Klägerin an einer Vereinbarung über die Aufteilung des italienischen Marktes festgestellt wird (siehe oben, Randnr. 364). Die wegen dieser Zuwiderhandlung von der Kommission festgesetzte Geldbusse ist auf 59 400 ECU beziffert worden.

9 Aus den oben in Randnummern 402 und 411(3) genannten Gründen ist ausserdem bei der Berechnung der Geldbusse wegen der Zuwiderhandlung der Preisfestsetzung auf dem dänischen Markt die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 1988 auszunehmen; dies führt bei der Klägerin nach der von der Kommission angewandten Methode zu einer Herabsetzung der Geldbusse um 13 200 ECU.

10 Schließlich ist der Gesamtbetrag der wegen der Vereinbarungen und verabredeten Praktiken zur Preisfestsetzung verhängten Geldbusse aus den oben dargelegten Gründen (Randnrn. 561 ff.)(4) um 15 % herabzusetzen, weil die Kommission die wettbewerbswidrigen Wirkungen der festgestellten Zuwiderhandlungen in gewissem Umfang überbewertet hat. Unter Berücksichtigung der bereits angesprochenen Abschläge in bezug auf die Preisabsprachen auf dem dänischen Markt führt dies nach der von der Kommission angewandten Berechnungsmethode zu einer Verringerung um 338 600 ECU.

11 Bei Anwendung der Methode der Kommission müsste die Geldbusse der Klägerin daher um 411 200 ECU herabgesetzt werden.

12 Die Festsetzung einer Geldbusse durch das Gericht im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ist dem Wesen nach kein streng mathematischer Vorgang. Im übrigen ist das Gericht nicht an die Berechnungen der Kommission gebunden, sondern hat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine eigene Beurteilung vorzunehmen.

13 Die allgemeine Vorgehensweise der Kommission bei der Ermittlung des Niveaus der Geldbussen (siehe oben, Randnrn. 522 ff.)(5) ist nach den Umständen des vorliegenden Falles gerechtfertigt. Die in der Festsetzung von Preisen und der Aufteilung von Märkten bestehenden Zuwiderhandlungen, die durch Artikel 65 § 1 des Vertrages ausdrücklich verboten werden, sind als besonders schwerwiegend anzusehen, da sie einen unmittelbaren Eingriff in die wesentlichen Wettbewerbsparameter auf dem betreffenden Markt bedeuten. Auch die der Klägerin zur Last gelegten Systeme zum Austausch vertraulicher Informationen bezweckten in ähnlicher Weise eine Aufteilung der Märkte anhand der traditionellen Handelsströme. Alle bei der Geldbusse berücksichtigten Zuwiderhandlungen wurden nach dem Ende der Krisenregelung und nach entsprechenden Warnungen an die Unternehmen begangen. Nach den Feststellungen des Gerichts bestand der allgemeine Zweck der fraglichen Vereinbarungen und Praktiken gerade darin, die mit dem Wegfall der Regelung für die offensichtliche Krise verbundene Rückkehr zum normalen Wettbewerb zu verhindern oder zu verfälschen. Ausserdem war den Unternehmen die Rechtswidrigkeit der Vereinbarungen und Praktiken bekannt, die sie der Kommission bewusst verheimlichten.

14 Nach alledem und unter Berücksichtigung des Inkrafttretens der Verordnung (EG) Nr. 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Einführung des Euro (ABl. L 162, S. 1) am 1. Januar 1999 ist die Geldbusse auf 3 580 000 EUR festzusetzen.

...

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT

(Zweite erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Artikel 1 der Entscheidung 94/215/EGKS der Kommission vom 16. Februar 1994 in einem Verfahren nach Artikel 65 des EGKS-Vertrags betreffend Vereinbarungen und verabredete Praktiken von europäischen Trägerherstellern wird für nichtig erklärt, soweit der Klägerin darin zur Last gelegt wird, für die Dauer von drei Monaten an einer Vereinbarung über die Aufteilung des italienischen Marktes sowie vom 1. Juli bis zum 3. November 1988 an einer Zuwiderhandlung in Form einer Preisfestsetzung auf dem dänischen Markt teilgenommen zu haben.

2. Die Höhe der in Artikel 4 der Entscheidung 94/215 gegen die Klägerin verhängten Geldbusse wird auf 3 580 000 EUR festgesetzt.

3. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Die Klägerin trägt ihre eigenen Kosten sowie vier Fünftel der Kosten der Beklagten. Die Beklagte trägt ein Fünftel ihrer eigenen Kosten.

(1) - Es sind nur die Randnummern der Gründe des vorliegenden Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für angebracht hält. Abgesehen davon, daß die der Klägerin in der vorliegenden Rechtssache vorgeworfenen Zuwiderhandlungen am 31. Dezember 1989 beendet wurden, stimmen die übrigen Randnummern weitgehend mit denen im Urteil des Gerichts vom 11. März 1999 in der Rechtssache T-141/94 (Thyssen/Kommission, Slg. 1999, II-0000) überein oder ähneln ihnen, ausgenommen vor allem die Randnummern 74 bis 120, 413 bis 422, 566 bis 574 und 614 bis 625 des letztgenannten Urteils, die im vorliegenden Urteil keine Entsprechung haben. Auch die der Klägerin zur Last gelegten Zuwiderhandlungen gegen Artikel 65 § 1 EGKS-Vertrag auf einigen nationalen Märkten stimmen nicht mit denen überein, die der Klägerin in der Rechtssache Thyssen/Kommission zur Last gelegt werden. Im vorliegenden Fall wird die teilweise Nichtigerklärung von Artikel 1 der Entscheidung im wesentlichen damit begründet, daß es keinen Beweis für die Teilnahme der Klägerin an den in Punkt 1 des Tenors des vorliegenden Urteils genannten Zuwiderhandlungen gibt.

(2) - Dieses Datum wird in der deutschen und der englischen Fassung der Entscheidung angegeben. In der französischen und der spanischen Fassung findet sich das Datum des 31. Dezember 1989.

(3) - Vgl. Urteil Thyssen/Kommission, Randnr. 451.

(4) - Vgl. Urteil Thyssen/Kommission, Randnrn. 640 ff.

(5) - Vgl. Urteil Thyssen/Kommission, Randnrn. 577 ff.

Ende der Entscheidung

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