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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 13.12.1999
Aktenzeichen: T-190/95
Rechtsgebiete: EGV, Verordnung (EWG) Nr. 123/85, Verordnung (EG) Nr. 1475/95, Verordnung (EWG) Nr. 17/62


Vorschriften:

EGV Art. 173 (jetzt EGV Art. 230)
EGV Art. 85 (jetzt EGV Art. 81)
Verordnung (EWG) Nr. 123/85
Verordnung (EG) Nr. 1475/95
Verordnung (EWG) Nr. 17/62
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1 Die Klagefristen sind zwingenden Rechts und stehen nicht zur Disposition des Gerichts oder der Parteien; ein Beteiligter kann die Anwendung des Artikels 175 Absatz 2 EG-Vertrag (jetzt Artikel 232 Absatz 2 EG) nicht unter Berufung auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes verhindern, indem er sich auf seine Kontakte mit der Kommission nach der Aufforderung zur Stellungnahme bezieht. Weder die Erklärungen der Kommission in ihrem Schriftwechsel mit dem Beteiligten noch ihre öffentlichen Äusserungen können daher die Zulässigkeit eine Untätigkeitsklage beeinflussen.

2 Handlungen oder Entscheidungen, gegen die die Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 230 EG) gegeben ist, sind Maßnahmen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, die die Interessen des Klägers beeinträchtigen, indem sie seine Rechtslage erheblich verändern. Das blosse Schweigen eines Organs kann solche Wirkungen nicht erzeugen, es sei denn, daß diese Folge ausdrücklich in einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts vorgesehen ist.

Fehlt eine ausdrückliche Bestimmung, die eine Frist festsetzt, bei deren Ablauf von einer stillschweigenden Entscheidung eines Organs, das zur Stellungnahme aufgefordert worden ist, ausgegangen wird, und die den Inhalt dieser Entscheidung festlegt, so kann die Untätigkeit eines Organs nicht einer Entscheidung gleichgesetzt werden, ohne daß das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags in Frage gestellt wird.

Da die Verordnungen Nr. 17 und Nr. 99/63 nicht vorsehen, daß das Schweigen der Kommission auf einen Antrag auf Übermittlung von Dokumenten eine stillschweigende Ablehnungsentscheidung darstellt, kann ein solches Schweigen im Rahmen eines Verfahrens über die Anwendung der Wettbewerbsregeln nicht als anfechtbare Entscheidung angesehen werden.

3 Die Klageschrift muß nach den Artikeln 19 der Satzung des Gerichtshofes und 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts den Streitgegenstand angeben und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so deutlich und genau sein, daß dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, möglich ist. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemässe Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, daß die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf denen die Klage beruht, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich, aus dem Wortlaut der Klageschrift selbst hervorgehen.

Um diesen Erfordernissen zu genügen, muß eine Klage auf Ersatz des von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schadens die Tatsachen anführen, anhand deren sich das dem Organ vom Kläger vorgeworfene Verhalten bestimmen lässt, die Gründe angeben, aus denen nach Auffassung des Klägers ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten und dem ihm angeblich entstandenen Schaden besteht, sowie Art und Umfang dieses Schadens bezeichnen.


Urteil des Gerichts erster Instanz (Erste Kammer) vom 13. Dezember 1999. - Société de distribution de mécaniques et d'automobiles (Sodima) gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Wettbewerb - Vertrieb von Kraftfahrzeugen - Prüfung von Beschwerden - Klage wegen Untätigkeit, Nichtigerklärung und Schadensersatz - Unzulässigkeit. - Verbundene Rechtssachen T-190/95 und T-45/96.

Parteien:

In den verbundenen Rechtssachen T-190/95 und T-45/96

Société de distribution de mécaniques et d'automobiles (Sodima), in Konkurs befindliche Gesellschaft französischen Rechts mit Sitz in Istres (Frankreich), vertreten durch den Konkursverwalter Rechtsanwalt Dominique Rafoni, Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Jean-Claude Fourgoux, Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Pierrot Schiltz, 4, rue Béatrix de Bourbon, Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Rechtsberater Giuliano Marenco und Guy Charrier, zur Kommission abgeordneter nationaler Beamter, sodann durch G. Marenco und Loïc Guérin, zur Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Beklagte,

erstens wegen Feststellung der Untätigkeit der Kommission, weil diese es rechtswidrig unterlassen hat, zu einer Beschwerde der Klägerin gemäß Artikel 85 EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) und der Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16) Stellung zu nehmen, zweitens wegen Nichtigerklärung einer angeblichen stillschweigenden Entscheidung über die Weigerung, der Klägerin Dokumente zu übermitteln, drittens wegen Nichtigerklärung einer angeblichen stillschweigenden Entscheidung über die Verbindung der Beschwerde der Klägerin mit anderen Beschwerden und viertens wegen Schadensersatz

erläßtDAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter J. Pirrung und M. Vilaras,

Kanzler: H. Jung

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 1999,

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

1 Die Klägerin war seit 1984 als Peugeot-Vertragshändlerin tätig. Die Automobiles Peugeot SA, die Kraftfahrzeuge der Marken Peugeot und Citroën herstellt (im folgenden: PSA), kündigte den Vertragshändlervertrag zu einem Zeitpunkt, der aus den Akten nicht hervorgeht. Am 17. Dezember 1992 erklärte die Klägerin die Zahlungseinstellung. Am 24. Juli 1996 fiel sie in Konkurs.

2 Bei den französischen Gerichten ist ein Rechtsstreit zwischen der Klägerin und der PSA anhängig, in dem die Klägerin beantragt, die PSA zur Erfuellung ihrer Verbindlichkeiten in Höhe von 14 Millionen FRF zu verurteilen.

3 Am 1. Juli 1994 reichte die Klägerin bei der Kommission gegen die PSA eine Beschwerde nach Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, und der Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember 1984 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. 1985, L 15, S. 16) ein. Die Klägerin bat die Kommission, die Vergünstigung der Gruppenfreistellung nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 123/85 vom 12. Dezember 1984 und Artikel 8 der Verordnung Nr. 17 zu entziehen und einstweilige Maßnahmen zu erlassen.

4 Die Kommission übermittelte der PSA am 5. August 1994 die Beschwerde der Klägerin mit einer Liste der von dieser vorgelegten Belege zur Stellungnahme. Am 26. Oktober 1994 richtete die Kommission, bei der mehrere gleichartige Beschwerden anhängig waren, ein Auskunftsersuchen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 an die PSA.

5 Da die PSA bei der Kommission die Übermittlung sämtlicher von der Klägerin vorgelegter Dokumente beantragt hatte, fragte die Kommission die Klägerin, ob sie wegen Geschäftsgeheimnissen Einwände dagegen habe. Die Klägerin stimmte der Übermittlung der Dokumente unter dem Vorbehalt zu, daß diese nicht an Dritte weitergegeben oder in anderen Verfahren bei den Dienststellen der Kommission verwendet würden.

6 Die Klägerin beantragte bei der Kommission mit Schreiben vom 13. Dezember 1994 und 16. Januar 1995, sodann mit Schreiben vom 23. Januar, 7. Februar und 1. März 1995, ihr das an die PSA gerichtete Auskunftsersuchen und die Stellungnahme der PSA zu ihrer Beschwerde zu übermitteln, ohne eine Antwort zu erhalten.

7 Am 15. Februar 1995 beantwortete die PSA das Auskunftsersuchen der Kommission, widersprach aber einer Übermittlung ihrer Antwort an die Klägerin, da darin Geschäftsgeheimnisse enthalten seien. Am 27. Februar 1995 gab die PSA gegenüber der Kommission eine Stellungnahme zur Beschwerde der Klägerin ab.

8 In einem Schreiben vom 14. März 1995 forderte die Klägerin die Kommission zur sofortigen Stellungnahme nach Artikel 175 EG-Vertrag auf.

9 Die Klägerin hat am 12. Oktober 1995 die Klage in der Rechtssache T-190/95 eingereicht, die sie am 17. Mai 1996 ergänzt hat. Mit gesondertem Schriftsatz vom 8. Dezember 1995 hat die Kommission eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben; die Entscheidung darüber ist durch Beschluß vom 30. Januar 1997 dem Endurteil vorbehalten worden.

10 Mit Schreiben vom 4. Januar 1996 forderte die Klägerin die Kommission erneut auf, der PSA die Beschwerdepunkte zu übermitteln.

11 Am 27. März 1996 hat die Klägerin die Klage in der Rechtssache T-45/96 erhoben.

12 Die Kommission teilte der Klägerin am 27. Januar 1997 nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, 127, S. 2268) ihre Absicht mit, die Beschwerde zurückzuweisen. Im Anhang zu diesem Schreiben übermittelte die Kommission der Klägerin die von der PSA erhaltenen Informationen, die nicht unter das Geschäftsgeheimnis fielen. Am 13. März 1997 antwortete die Klägerin, sie sei nicht in der Lage, sich gebührend zu äußern, da ihr nur ein Teil der Akten übermittelt worden sei.

13 Mit Entscheidung vom 5. Januar 1999 wies die Kommission die Beschwerde zurück. Die Klägerin hat gegen diese Entscheidung Klage erhoben (Rechtssache T-62/99).

14 Mit Beschluß vom 21. Januar 1999 hat der Präsident der Ersten Kammer des Gerichts entschieden, die Rechtssachen T-190/95 und T-45/96 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und Entscheidung zu verbinden.

15 Die Parteien haben in der Sitzung am 2. März 1999 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

16 Mit am 25. März 1999 bei der Kanzlei der Gerichts eingegangenem Schreiben hat die Klägerin die Verbindung der Rechtssache T-62/99 mit den vorliegenden verbundenen Rechtssachen beantragt. Sie hat mitgeteilt, daß sie in diesem Fall ihren Antrag auf Feststellung der Untätigkeit zurücknehmen würde.

17 Da die vorliegenden Rechtssachen entscheidungsreif sind, hält das Gericht es nicht für angebracht, die Rechtssachen antragsgemäß zu verbinden.

Anträge der Parteien

18 In der Rechtssache T-190/95 beantragt die Klägerin,

- die Untätigkeit der Kommission festzustellen;

- die stillschweigende Entscheidung über die Weigerung, ihr Dokumente zu übermitteln, für nichtig zu erklären;

- die stillschweigende Entscheidung über die Verbindung der Akten für nichtig zu erklären;

- die außervertragliche Haftung der Kommission festzustellen und sie zum Schadensersatz in Höhe von 200 000 EUR pro Jahr seit dem 14. März 1995 zu verurteilen;

- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

19 Die Kommission beantragt,

- die Klage als unzulässig abzuweisen;

- hilfsweise,

- die Untätigkeitsklage und die Klage aus außervertraglicher Haftung der Kommission als gegenstandslos und zudem als unbegründet abzuweisen;

- die Klage auf Nichtigerklärung der angeblichen stillschweigenden Entscheidungen über die Weigerung, ihr Dokumente zu übermitteln, und die Verbindung der Akten als unbegründet abzuweisen;

- der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

20 In der Rechtssache T-45/96 beantragt die Klägerin,

- die Untätigkeit der Kommission festzustellen;

- die stillschweigende Entscheidung über die Weigerung, ihr Dokumente zu übermitteln, für nichtig zu erklären;

- die stillschweigende Entscheidung über die Verbindung der Akten für nichtig zu erklären;

- die außervertragliche Haftung der Kommission festzustellen und diese zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 200 000 EUR pro Jahr seit dem 14. März 1995 zu verurteilen;

- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

21 Die Kommission beantragt,

- die Untätigkeits- und die Nichtigkeitsklage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen;

- der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

Zur Zulässigkeit der Klage in der Rechtssache T-190/95

Zum Antrag auf Feststellung der Untätigkeit

Vorbringen der Parteien

22 Die Kommission ist der Auffassung, die Untätigkeitsklage sei verspätet, hilfsweise, gegenstandslos, da sie an die Klägerin eine Mitteilung im Sinne des Artikels 6 der Verordnung Nr. 99/63 gerichtet habe.

23 Die Klägerin macht geltend, ihre Klage sei nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes für zulässig zu erklären. Die Übermittlung der Klage durch die Kanzlei des Gerichts an die Kommission könne zudem als erneute Aufforderung zur Stellungnahme angesehen werden, so daß die Voraussetzungen für die Anwendung des Artikels 175 Absatz 2 EG-Vertrag (jetzt Artikel 232 Absatz 2 EG) erfuellt seien.

Beurteilung durch das Gericht

24 Die Aufforderung der Klägerin an die Kommission zur Stellungnahme datiert vom 14. März 1995. Aus den Akten geht zwar nicht hervor, wann die Kommission dieses Schreiben erhalten hat, die Klägerin bestreitet aber nicht, daß bei Klageerhebung die insgesamt viermonatige Frist nach Artikel 175 Absatz 2 EG-Vertrag abgelaufen war.

25 Die Klägerin kann die Anwendung des Artikels 175 Absatz 2 EG-Vertrag nicht unter Berufung auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes verhindern, indem sie sich auf ihre Kontakte mit der Kommission nach der Aufforderung zur Stellungnahme bezieht. Die Klagefristen sind zwingenden Rechts und stehen nicht zur Disposition des Gerichts oder der Parteien (z. B. Beschluß des Gerichts vom 3. Februar 1998 in der Rechtssache T-68/96, Polyvios/Kommission, Slg. 1998, II-153, Randnr. 43). Weder die Erklärungen der Kommission in ihrem Schriftwechsel mit der Klägerin noch ihre öffentlichen Äußerungen können daher die Zulässigkeit der Klage beeinflussen.

26 Jedenfalls beziehen sich die von der Klägerin im vorliegenden Fall angeführten Erklärungen auf die Art und Weise, wie die Kommission die Beschwerde behandeln wollte, und die Tätigkeit der Kommission auf dem Automobilsektor im allgemeinen; sie enthalten aber keine Angaben, die hinsichtlich der Klagefrist gemäß Artikel 175 Absatz 2 EG-Vertrag Verwirrung stiften könnten.

27 Die Klägerin kann sich auch nicht auf das Urteil des Gerichtshofes vom 16. Februar 1993 in der Rechtssache C-107/91 (ENU/Kommission, Slg. 1993, I-599) berufen. Dieses Urteil betrifft nicht die in Rede stehende Frist, sondern die ganz andere Frage, ob die Aufforderung zur Stellungnahme innerhalb angemessener Frist an das betreffende Gemeinschaftsorgan gerichtet worden ist (Randnrn. 23 und 24 des Urteils).

28 Schließlich stehen sowohl der Wortlaut als auch die Systematik von Artikel 175 EG-Vertrag der Auffassung entgegen, daß allein die Übermittlung der Klage als Aufforderung zur Stellungnahme anzusehen ist.

29 Der Antrag auf Feststellung der Untätigkeit ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

Zur Zulässigkeit des Antrags auf Nichtigerklärung

Vorbringen der Parteien

30 Die Klägerin ist der Auffassung, das Schweigen der Kommission auf ihr Schreiben vom 14. März 1995 stelle eine stillschweigende Entscheidung dar, die den Charakter einer anfechtbaren Handlung habe; außerdem habe die Kommission eine stillschweigende Entscheidung über die Verbindung der verschiedenen Beschwerden erlassen.

Beurteilung durch das Gericht

31 Handlungen oder Entscheidungen, gegen die die Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 230 EG) gegeben ist, sind Maßnahmen, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen, die die Interessen des Klägers beeinträchtigen können, indem sie seine Rechtsstellung in qualifizierter Weise verändern (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 11. November 1981 in der Rechtssache 60/81, IBM/Kommission, Slg. 1981, 2639, Randnr. 9). Das bloße Schweigen eines Organs kann solche Wirkungen nicht erzeugen, es sei denn, daß diese Folge ausdrücklich in einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts vorgesehen ist.

32 Das Gemeinschaftsrecht sieht in besonderen Fällen vor, daß das Schweigen eines Organs eine Entscheidung darstellt, wenn das Organ zur Stellungnahme aufgefordert worden ist und sich bis zum Ablauf einer bestimmten Frist nicht geäußert hat. Fehlt eine solche ausdrückliche Bestimmung, die eine Frist festsetzt, bei deren Ablauf von einer stillschweigenden Entscheidung ausgegangen wird, und die den Inhalt dieser Entscheidung festlegt, so kann die Untätigkeit eines Organs nicht einer Entscheidung gleichgesetzt werden, ohne daß das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags in Frage gestellt wird.

33 Die Verordnungen Nr. 17 und Nr. 99/63 sehen nicht vor, daß das Schweigen der Kommission auf einen Antrag auf Übermittlung von Dokumenten eine stillschweigende Ablehnungsentscheidung darstellt. Der Beschwerdeführer kann, wenn sein Antrag nicht beschieden wird, entweder die Kommission nach Artikel 175 EG-Vertrag zur Stellungnahme auffordern und gegebenenfalls Untätigkeitsklage erheben oder eine sich daraus ergebende Rechtswidrigkeit im Rahmen einer Klage auf Nichtigerklärung der von der Kommission am Ende des Verfahrens erlassenen Entscheidung geltend machen.

34 Es kann daher nicht als anfechtbare Entscheidung angesehen werden, daß die Kommission dem Antrag der Klägerin, ihr bestimmte Dokumente zu übermitteln, nicht entsprochen hat.

35 Im vorliegenden Fall gab es bei Klageerhebung auch keine Rechtshandlung, die entsprechend der Lösung in den Urteilen des Gerichtshofes vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-19/93 P (Rendo u. a./Kommission, Slg. 1995, I-3319, Randnrn. 28 und 29) und des Gerichts vom 12. Dezember 1996 in der Rechtssache T-16/91 RV (Rendo u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1827) als teilweise Ablehnungsentscheidung ausgelegt werden kann. Die Klägerin hat zwar einen Teil der Dokumente, die sie verlangt hatte, im Anhang zur Mitteilung nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 vom Januar 1997 erhalten. Da diese Übermittlung jedoch nach Erhebung der Klagen, um die es im vorliegenden Urteil geht, erfolgt ist, kann sie nicht im Rahmen dieses Rechtsstreits angefochten werden.

36 Was sodann die angebliche stillschweigende Entscheidung über die Verbindung der Akten angeht, so genügt die Feststellung, daß die Klägerin weder bewiesen hat, daß eine solche Entscheidung erlassen worden ist, noch dargetan hat, inwiefern eine Verbindung der Akten sie belasten könnte. Insbesondere ist der Vorwurf, die Kommission habe von der Klägerin vorgelegte Dokumente anderen Beschwerdeführern übermittelt, nirgendwo in den Akten belegt.

37 Der Antrag auf Nichtigerklärung ist somit unzulässig.

Zur Zulässigkeit des Antrags auf Schadensersatz

Vorbringen der Parteien

38 Die Kommission macht geltend, die Unzulässigkeit der Schadensersatzklage ergebe sich aus der Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage. Außerdem entspreche die Klageschrift nicht den Anforderungen des Artikels 19 der EG-Satzung des Gerichtshofes, der nach Artikel 46 Absatz 1 dieser Satzung auf das Gericht anwendbar sei, und des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts. Wenn schließlich die Untätigkeitsklage gegenstandslos sei, gelte dies auch für die Schadensersatzklage.

39 Die Klägerin beruft sich auf die Selbständigkeit der Klagearten. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, nach der die Untätigkeitsklage gegenstandslos werde, wenn das beklagte Organ sich im Laufe des Verfahrens geäußert habe, könne nicht geschlossen werden, daß vorher keine Untätigkeit vorgelegen habe. Die Haftungsklage sei daher nicht gegenstandslos.

40 Die Klägerin wirft der Kommission vor, ihre Beschwerde schleppend bearbeitet zu haben, obwohl sie ihr vollständige Beweise vorgelegt habe. Die Untätigkeit der Kommission habe ihr einen Schaden zugefügt, da dadurch das gegen die PSA vor den französischen Gerichten eingeleitete Verfahren auf Erfuellung ihrer Verbindlichkeiten in Höhe von 14 Millionen FRF verzögert worden sei. Der durch die Untätigkeit der Kommission verursachte Schaden könne in Höhe der Zinsen auf 14 Millionen FRF zum Zinssatz von 10 %, d. h. auf 200 000 EUR pro Jahr, beziffert werden. Sie könne vor den nationalen Gerichten nicht auf Ersatz dieses Schadens klagen.

Beurteilung durch das Gericht

41 Die Klageschrift muß nach den Artikeln 19 der Satzung des Gerichtshofes und 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so deutlich und genau sein, daß dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, möglich ist. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, daß die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf denen die Klage beruht, zumindest in gedrängter Form, aber zusammenhängend und verständlich, aus dem Wortlaut der Klageschrift selbst hervorgehen (Beschluß des Gerichts vom 29. November 1993 in der Rechtssache T-56/92, Koelman/Kommission, Slg. 1993, II-1267, Randnr. 21, und Urteil des Gerichts vom 6. Mai 1997 in der Rechtssache T-195/95, Guérin automobiles/Kommission, Slg. 1997, II-679, Randnr. 20).

42 Um diesen Erfordernissen zu genügen, muß eine Klage auf Ersatz des von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schadens die Tatsachen anführen, anhand deren sich das dem Organ vom Kläger vorgeworfene Verhalten bestimmen läßt, die Gründe angeben, aus denen nach Auffassung des Klägers ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Verhalten und dem ihm angeblich entstandenen Schaden besteht, sowie Art und Umfang dieses Schadens bezeichnen (Urteil des Gerichts vom 18. September 1996 in der Rechtssache T-387/94, Asia Motor France u. a./Kommission, Slg. 1996, II-961, Randnr. 107).

43 Im vorliegenden Fall wirft die Klägerin der Kommission in ihren Schriftsätzen vor, ihre Beschwerde verspätet behandelt zu haben, und meint, sie habe dadurch einen Schaden erlitten.

44 Was indessen Art und Umfang dieses Schadens und den Kausalzusammenhang anbelangt, so spielt die Klägerin lediglich ohne weitere Erläuterung auf eine vor den französischen Gerichten anhängige Schadensersatzklage gegen die PSA an. Sie bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf die "Erfuellung ihrer Verbindlichkeiten", ohne jedoch anzugeben, auf welche Grundlage ihre Klage nach nationalem Recht gestützt ist. Sie führt weder konkret an, in welchem Stadium sich dieses Verfahren befindet, noch, welche Verteidigungsmittel die PSA vorgebracht hat. Sie behauptet zwar, ihre Entschädigung durch das nationale Gericht werde sich verzögern, bis sich die Kommission zu ihrer Beschwerde geäußert habe, macht aber keine konkreten Angaben über den Einfluß einer Entscheidung der Kommission auf die Entscheidung des nationalen Gerichts. Außerdem erwähnt sie einen Antrag der PSA auf aufschiebende Maßnahmen, ohne jedoch auf den Zeitpunkt oder die Begründung dieses Antrags sowie darauf näher einzugehen, wie er beschieden worden ist oder werden könnte.

45 Aus der Klageschrift läßt sich daher weder die Art und der Umfang des Schadens erkennen, den die Klägerin erlitten zu haben meint, noch der Kausalzusammenhang zwischen diesem angeblichen Schaden und dem beanstandeten Verhalten der Kommission. Sie erlaubt es somit weder dem Gemeinschaftsgericht, seine Kontrolle auszuüben, noch der Kommission, sich zu verteidigen.

46 Die Voraussetzungen der Artikel 19 der Satzung des Gerichtshofes und 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts sind daher nicht erfuellt.

47 Die Schadensersatzklage ist somit unzulässig.

Zur Rechtssache T-45/96

Zum Antrag auf Feststellung der Untätigkeit

48 Die vorliegende Untätigkeitsklage hat sich erledigt, da zum einen die Kommission an die Klägerin am 27. Januar 1997 eine Mitteilung nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 gerichtet hat und zum anderen am 5. Januar 1999 eine endgültige Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde der Klägerin erlassen worden ist.

49 Die Untätigkeitsklage hat sich daher erledigt.

Zu den Anträgen auf Nichtigerklärung und auf Schadensersatz

50 In den Rechtssachen T-45/96 und T-190/95 stellt die Klägerin dieselben Anträge, die dieselben angeblichen Entscheidungen und den Ersatz desselben Schadens betreffen. Die Klägerin stützt diese Anträge auf dieselben Klagegründe und Argumente.

51 Die Anträge auf Nichtigerklärung und auf Schadensersatz in der Rechtssache T-45/96 sind daher aus denselben Gründen wie in der Rechtssache T-190/95 unzulässig.

Kostenentscheidung:

Kosten

52 Da die Klägerin mit ihren Anträgen in der Rechtssache T-190/95 unterlegen ist, sind ihr gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts die Kosten aufzuerlegen.

53 In der Rechtssache T-45/96 hat sich die Untätigkeitsklage erledigt, so daß das Gericht nach Artikel 87 § 6 der Verfahrensordnung nach freiem Ermessen über die Kosten entscheiden kann. Hingegen ist die Klägerin mit ihren Anträgen auf Nichtigerklärung und auf Schadensersatz unterlegen. Das Gericht hält es daher für gerechtfertigt, nach Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT

(Erste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Klage in der Rechtssache T-190/95 wird als unzulässig abgewiesen.

2. Der Antrag auf Feststellung der Untätigkeit in der Rechtssache T-45/96 hat sich erledigt.

3. Die Klage in der Rechtssache T-45/96 wird im übrigen als unzulässig abgewiesen.

4. In der Rechtssache T-190/95 trägt die Klägerin die Kosten des Verfahrens. In der Rechtssache T-45/96 trägt jede Partei ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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