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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Beschluss verkündet am 22.12.1995
Aktenzeichen: T-219/95 R
Rechtsgebiete: EAG-Vertrag, EMRK


Vorschriften:

EAG-Vertrag Art. 34
EAG-Vertrag Art. 35
EAG-Vertrag Art. 157
EAG-Vertrag Art. 158
EAG-Vertrag Art. 146 Abs. 4
EMRK Art. 6
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Frage der Zulässigkeit der Klage ist grundsätzlich nicht im Rahmen eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes zu untersuchen, da sonst der Entscheidung des Gerichts zur Hauptsache vorgegriffen würde. Sie ist der Prüfung der Klage vorzubehalten, sofern die Klage nicht schon dem ersten Anschein nach offensichtlich unzulässig ist. Ist dies der Fall, weil beispielsweise der Antragsteller eine an einen Mitgliedstaat gerichtete Entscheidung, von der er nicht dem ersten Anschein nach als individuell betroffen angesehen werden kann, mit einer Nichtigkeitsklage angreift, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen.


Beschluss des Präsidenten des Gerichts Erster Instanz vom 22. Dezember 1995. - Marie-Thérèse Danielsson, Pierre Largenteau und Edwin Haoa gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Atomtests eines Mitgliedstaats - Antrag auf einstweilige Anordnung - Artikel 34 EAG-Vertrag - Antrag auf Aussetzung des Vollzugs einer Entscheidung der Kommission betreffend Atomtests. - Rechtssache T-219/95 R.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

1 Die Atolle Mururoa und Fangataufa gehören zu Französisch-Polynesien. Die Hauptstadt von Französisch-Polynesien ist Papeete, das auf der Insel Tahiti, ungefähr 1 200 km in Richtung Westnordwest von Mururoa und Fangataufa, liegt. Die Insel Pitcairn, die das nächstgelegene Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, des Vereinigten Königreichs, darstellt, befindet sich ungefähr 800 km in Richtung Ostsüdost.

2 Mururoa und Fangataufa wurden von den französischen Behörden von 1966 bis 1991 für die Erprobung von Kernwaffen benutzt; 1991 wurden diese Tests aufgrund eines freiwilligen Moratoriums unterbrochen. Explosionen in der Atmosphäre gab es bis 1974; seither fanden nur noch unterirdische Tests statt.

3 Am 13. Juni 1995 kündigten die französischen Behörden an, daß sie beabsichtigten, eine Reihe zusätzlicher Atomtests auf Mururoa abzuhalten. Am 28. Juli 1995 forderte das Europäische Parlament die Kommission auf, dafür Sorge zu tragen, daß die Artikel 34 und 35 EAG-Vertrag genauestens beachtet würden (Europe Nr. 6532 vom 29. Juli 1995).

4 Artikel 34 EAG-Vertrag lautet wie folgt:

"Jeder Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebieten besonders gefährliche Versuche stattfinden sollen, ist verpflichtet, zusätzliche Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz zu treffen; er hat hierzu vorher die Stellungnahme der Kommission einzuholen.

Besteht die Möglichkeit, daß sich die Auswirkungen der Versuche auf die Hoheitsgebiete anderer Mitgliedstaaten erstrecken, so ist die Zustimmung der Kommission erforderlich."

5 Artikel 35 verpflichtet die Mitgliedstaaten, die notwendigen Einrichtungen zur ständigen Überwachung des Gehalts der Luft, des Wassers und des Bodens an Radioaktivität sowie zur Überwachung der Einhaltung der Grundnormen zu schaffen; er verpflichtet sie auch, der Kommission den Zugang zu diesen Überwachungseinrichtungen und die Prüfung von deren Arbeitsweise und Wirksamkeit zu ermöglichen.

6 Am 11. August 1995 stimmte die Französische Republik einem Treffen französischer Sachverständiger mit Sachverständigen der Kommission, das am 25. August 1995 stattfand, und der Entsendung einer Abordnung der Kommission an Ort und Stelle der Tests zu.

7 Am 5. September 1995 wurde der erste Test auf Mururoa unternommen.

8 Am 6. September 1995 teilte der Präsident der Kommission, Jacques Santer, dem Europäischen Parlament mit, daß die Kommission nicht zur Anwendbarkeit des Artikels 34 Stellung nehmen könne, bestätigte jedoch deren Absicht, sich an einer Abordnung zur wissenschaftlichen Bewertung zu beteiligen.

9 Eine Nachprüfung im Rahmen von Artikel 35 EAG-Vertrag fand vom 18. bis 29. September 1995 statt, und die aus drei Beamten der Kommission gebildete Kontrollgruppe veröffentlichte ihren Bericht am 3. Oktober 1995. Sie gelangte zu dem Ergebnis, daß das geprüfte Überwachungssystem und die erhaltenen Informationen unter dem Gesichtspunkt der grundlegenden Sicherheitsbestimmungen zufriedenstellende Situation zeigten, erklärte jedoch, daß sie zu bestimmten Anlagen keinen Zugang habe erhalten können und daß ihr bestimmte Informationen nicht gegeben worden seien.

10 Der zweite Atomtest der Serie fand am 1. Oktober 1995 statt.

11 Am 23. Oktober 1995, vier Tage vor dem dritten Test, gab die Kommission eine abschließende Stellungnahme zur Frage der Anwendung des Artikels 34 auf die fraglichen Atomtests ab. Diese Stellungnahme, die im Protokoll der 1266. Sitzung der Kommission in Brüssel am 23. Oktober 1995 wiedergegeben ist, das zu den Akten gereicht worden ist, wurde vom Präsidenten der Kommission am nächsten Tag dem Europäischen Parlament in der Plenarsitzung vorgelegt (Europäisches Parlament, ausführlicher Sitzungsbericht, 24. Oktober 1995, S. 32 und 33).

12 Nach dem Standpunkt der Kommission, wie ihn deren Präsident Santer erläuterte, ist Artikel 34 sowohl auf militärische Tests als auch auf zivile Tests anwendbar; ein Test sei als besonders gefährlich im Sinne dieses Artikels anzusehen, wenn er für Arbeitskräfte oder die Bevölkerung das spürbare Risiko einer bedeutsamen Belastung durch radioaktive Strahlen bedeute. Ein Test, der die Explosion eines Sprengkörpers beinhalte, könne ein Risiko dieser Art schaffen und könne daher unter bestimmten Voraussetzungen als "besonders gefährlich" angesehen werden.

13 Die Kommission gelangte auf dieser Grundlage und nachdem sie auf ihr Ersuchen von den französischen Behörden zusätzliche Informationen erhalten hatte, zu dem Ergebnis, daß die in Französisch-Polynesien durchgeführten Tests kein spürbares Risiko einer erheblichen Belastung der Arbeitskräfte oder der Bevölkerung durch radioaktive Strahlen darstellten. Eine wissenschaftliche Bewertung habe gezeigt, daß selbst im schlimmsten Fall die Grundnormen eingehalten würden. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß Artikel 34 daher keine Anwendung finde.

14 Diese Stellungnahme ist die Handlung, deren Nichtigerklärung drei Privatpersonen, Frau Danielsson, Herr Largenteau und Herr Haoa, die auf Tahiti wohnen, mit ihrer Klage im Verfahren zur Hauptsache begehren (Rechtssache T-219/95) und für die sie die Aussetzung des Vollzugs im vorliegenden Verfahren der einstweiligen Anordnung beantragen (Rechtssache T-219/95 R). Die Klageschrift und die Antragsschrift sind am 2. Dezember 1995 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden.

15 In ihrer Antragsschrift im Verfahren der einstweiligen Anordnung beantragen die Antragsteller,

° die Aussetzung der Entscheidung der Kommission vom 23. Oktober 1995 betreffend die französischen Atomtests, bis das Gericht über die Klage im Verfahren zur Hauptsache entschieden oder die Kommission eine neue Entscheidung aufgrund von Artikel 34 EAG-Vertrag unter Berücksichtigung der anwendbaren Bestimmungen und ihrer allgemeinen Rechtspflichten erlassen hat;

° eine einstweilige Anordnung an die Kommission, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die den Antragstellern durch den Vertrag verliehenen Rechte zu wahren und zu schützen, einschließlich derjenigen Maßnahmen, die gewährleisten sollen, daß die Französische Republik den Bestimmungen des Vertrages in vollem Umfang nachkommt, bis das Gericht über die Klage im Verfahren zur Hauptsache entschieden oder die Kommission eine neue Entscheidung aufgrund von Artikel 34 EAG-Vertrag getroffen hat;

° die sofortige Aussetzung der Entscheidung der Kommission vom 23. Oktober 1995, auch bevor die Kommission Stellung genommen hat, bis der Präsident des Gerichts über den Antrag auf einstweilige Anordnungen entschieden hat, und

° die Verurteilung der Kommission zur Tragung der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung.

16 Mit Schriftsatz, der am 12. Dezember 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Französische Republik ihre Zulassung als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission beantragt.

17 Die Parteien haben am 15. Dezember 1995 mündlich verhandelt.

Entscheidungsgründe

18 Nach den Artikeln 157 und 158 EAG-Vertrag in Verbindung mit Artikel 4 des Beschlusses 88/591/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. Oktober 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 319, S. 1) in der durch den Beschluß 93/350/Euratom, EGKS, EWG des Rates vom 8. Juni 1993 (ABl. L 144, S. 21) geänderten Fassung kann das Gericht, wenn es dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der angefochtenen Handlung aussetzen oder die sonstigen erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

19 Nach Artikel 104 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts müssen die Anträge auf Erlaß einstweiliger Anordnungen die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen. Die beantragten Maßnahmen müssen vorläufig in dem Sinne sein, daß sie der Entscheidung zur Hauptsache nicht vorgreifen (vgl. Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 7. November 1995 in der Rechtssache T-168/95 R, Eridania u. a./Rat, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 14).

Vorbringen der Parteien

Zur Zulässigkeit der Klage im Verfahren der Hauptsache

20 Erstens machen die Antragsteller geltend, daß die angefochtene Handlung eine Entscheidung sei, mit der die Kommission entweder im Sinne von Artikel 34 Absatz 2 ihre Zustimmung zu den französischen Atomtests auf Mururoa erteilt oder die Anwendbarkeit von Artikel 34 auf diese Tests verneint habe. In beiden Fällen handele es sich um eine endgültige Handlung im Rahmen der Bestimmungen des Vertrages, die rechtliche Wirkungen entfalte.

21 Die Antragsteller machen geltend, im Unterschied zu der in Artikel 34 Absatz 1 vorgesehenen Stellungnahme sei die Zustimmung im Sinne des Absatzes 2 erforderlich, damit der betroffene Mitgliedstaat die fraglichen Tests durchführen könne. Im vorliegenden Fall ergebe sich aus wissenschaftlichen Daten, daß die Möglichkeit bestehe, daß sich die Auswirkungen der Tests auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, nämlich die Insel Pitcairn, erstrecken könnten, und daher sei nach dem Vertrag die Zustimmung der Kommission erforderlich. Diese Zustimmung stelle eine anfechtbare Handlung dar, genau wie eine Entscheidung der Kommission, mit der eine staatliche Beihilfe genehmigt werde.

22 Hilfsweise, für den Fall, daß die angefochtene Handlung in der Weigerung bestehe, Artikel 34 EAG-Vertrag anzuwenden, machen die Antragsteller geltend, daß eine solche Weigerung in gleicher Weise angefochten werden könne wie die Handlung, die zu ergreifen das betroffene Organ ablehne (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 23. Februar 1961 in der Rechtssache 30/59, Steenkolenmijnen/Hohe Behörde, Slg. 1961, 1).

23 Zweitens machen die Antragsteller geltend, daß die angefochtene Handlung sie im Sinne von Artikel 146 Absatz 4 EAG-Vertrag unmittelbar betreffe.

24 Nach einer Erörterung der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts (insbesondere Urteile des Gerichtshofes vom 16. Mai 1991 in der Rechtssache C-358/89, Extramet Industrie/Rat, Slg. 1991, I-2501, und vom 18. Mai 1994 in der Rechtssache C-309/89, Codorniu/Rat, Slg. 1994, I-1853; Urteil des Gerichts vom 14. September 1995 in den verbundenen Rechtssachen T-480/93 und T-483/93, Antillean Rice Mills u. a./Kommission, Slg. 1995, II-0000) vertreten die Antragsteller die Ansicht, sie seien individuell betroffen, da die Entscheidung der Kommission sie besonders schwer treffe, denn diese habe es unterlassen, die schwerwiegenden Auswirkungen angemessen zu berücksichtigen, die die Atomtests auf ihre Gesundheit haben könnten.

25 Die Antragsteller sind insbesondere der Ansicht, sie gehörten zur Bevölkerung, für deren Schutz Artikel 30 EAG-Vertrag die Grundnormen des Kapitels 3 festsetze und der somit ein individuelles Recht verliehen werde. Sie fielen somit unter die Definition in Randnummer 67 des bereits zitierten Urteils Antillean Rice Mills u. a./Kommission, wonach "eine Verpflichtung der Kommission aufgrund spezifischer Bestimmungen, die Folgen einer beabsichtigten Handlung auf die Lage bestimmter Personen zu berücksichtigen, diese letzteren [individualisiert]". Ihr Fall unterscheide sich von der Rechtssache Greenpeace u. a./Kommission (Beschluß vom 9. August 1995 in der Rechtssache T-585/93, Slg. 1995, II-0000), in der die Kläger keine Verletzung einer Bestimmung hätten rügen können, die ihnen einen echten individuellen Schutzanspruch verliehen hätte. Es sei nicht hinnehmbar, daß eine Person, deren individuelle Rechte bedroht oder verletzt seien, keine Nichtigkeitsklage nach Artikel 146 EAG-Vertrag erheben könne.

26 Zur Stützung ihrer Ansicht, daß sie durch die angefochtene Maßnahme unmittelbar betroffen seien, machen die Antragsteller auch geltend, daß sie vor den nationalen Gerichten keinen Rechtsschutz gegen diese Entscheidung erhalten könnten und daß einer der Hauptgründe für die Ablehnung direkter Klagen einzelner somit auf ihren Fall nicht anwendbar sei. Sie beziehen sich auf die Rechtssache Les Verts/Parlament (Urteil vom 23. April 1986 in der Rechtssache 294/83, Slg. 1986, 1339, Randnr. 23), in der der Gerichtshof die Notwendigkeit eines umfassenden Rechtsschutzsystems bekräftigt habe, innerhalb dessen ihm die Überprüfung der Rechtmässigkeit der Handlungen der Organe übertragen sei. In diesem Zusammenhang machen die Antragsteller schließlich geltend, daß es für die Möglichkeit, Klage gegen allgemeine oder individuelle Maßnahmen der nationalen Behörden zu erheben, in den Rechtsschutzsystemen der Mitgliedstaaten in der Regel genüge, ein unmittelbares persönliches Interesse zu haben; das Gemeinschaftsrecht müsse so weit wie möglich nach diesen allgemeinen, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Grundsätzen ausgelegt werden.

27 Zudem würde es einen Verstoß gegen die Artikel 6 und 13 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im folgenden: Europäische Menschenrechtskonvention) darstellen, die ein Grundrecht auf Gehör durch ein Gericht und ein Recht auf eine wirksame Beschwerde garantierten, wenn den Antragstellern die Befugnis zur Erhebung einer solchen Klage abgesprochen würde.

28 Drittens machen die Antragsteller geltend, daß die angefochtene Entscheidung sie im Sinne von Artikel 146 Absatz 4 EAG-Vertrag unmittelbar betreffe, da sie die Französische Republik ermächtige, die fraglichen Tests fortzusetzen, und da die Möglichkeit, daß die Französische Republik ihre Meinung ändern könnte, rein theoretisch sei (vgl. Urteil vom 27. April 1995 in der Rechtssache T-442/93, AAC u. a./Kommission, Slg. 1995, II-1329, Randnrn. 45 und 46). Zudem betreffe sie die Handlung, die sie zu veranlassen suchten, nämlich die Weigerung der Kommission, ihre Zustimmung zu den Tests zu erteilen, unmittelbar, da diese Handlung der Französischen Republik keine andere Wahl lassen würde, als ihre Tests einzustellen (vgl. Urteil vom 16. Juni 1970 in der Rechtssache 69/69, Alcan u. a./Kommission, Slg. 1970, 385).

29 Aufgrund dieses Vorbringens vertreten die Antragsteller die Ansicht, daß ihre Klage im Verfahren zur Hauptsache zumindest nicht offensichtlich unzulässig sei.

30 Zur Rechtsnatur der angefochtenen Handlung vertritt die Kommission die Ansicht, sie habe mit der Festlegung ihres Standpunkts keine Zustimmung erteilt, sondern sei nur zu dem Schluß gekommen, daß Artikel 34 EAG-Vertrag keine Anwendung finde. Nachdem sie zu diesem Schluß gekommen sei, könne sie eine Zustimmung im Sinne von Artikel 34 Absatz 2 weder erteilen noch ablehnen. Selbst wenn sie zum gegenteiligen Schluß gekommen wäre, hätte sie nur eine nicht bindende Stellungnahme im Sinne von Artikel 34 Absatz 1 abgeben können, da nicht die Möglichkeit im Sinne des Artikels 34 bestehe, daß sich die ionisierenden Strahlen auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats erstreckten. Weder eine nicht bindende Stellungnahme noch gar eine Entscheidung, eine solche Stellungnahme nicht abzugeben, könnten mit einer Klage angefochten werden.

31 Die Kommission vertritt zudem die Ansicht, daß die Antragsteller durch die streitige Maßnahme nicht unmittelbar und individuell betroffen seien. Als Personen, die auf Tahiti wohnten, könnten sie nur von einer Stellungnahme zu den zu treffenden zusätzlichen Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz im Sinne von Artikel 34 Absatz 1 betroffen sein, die nicht mit einer Klage anfechtbar sei. Die Frage der Zustimmung im Sinne von Artikel 34 Absatz 2 stelle sich nur, wenn die Möglichkeit bestehe, daß das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats betroffen sei. Eine Entscheidung über die Erteilung oder Verweigerung dieser Zustimmung könne daher nur Personen unmittelbar und individuell betreffen, die in einem solchen Hoheitsgebiet ° im vorliegenden Fall Pitcairn und nicht Tahiti ° wohnten.

32 Die Berufung der Antragsteller auf das Recht auf Gehör durch ein Gericht und auf eine wirksame Beschwerde aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sei nicht stichhaltig, da diese Rechte nur entstehen könnten, wenn ein individuelles Recht bestehe, das die Gerichte zu schützen hätten. Die Kommission bestreitet ferner, daß die Antragsteller nicht über einen Rechtsbehelf vor den nationalen Gerichten verfügten; im übrigen garantiere Artikel 150 EAG-Vertrag letztlich in allen Fällen den Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten.

33 Die französische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, daß die Bestimmungen des Kapitels 3 des EAG-Vertrags nicht für die nukleare Betätigung im militärischen Bereich gälten. Im übrigen hat sie bestritten, daß die von der Kommission aufgrund von Artikel 34 EAG-Vertrag erlassene streitige Stellungnahme Entscheidungscharakter haben könne.

Zur Glaubhaftmachung der Notwendigkeit einer einstweiligen Anordnung

34 Die Antragsteller berufen sich, um die Risiken darzulegen, denen sie durch die streitigen Tests ausgesetzt seien, auf eine Anzahl öffentlich zugänglicher wissenschaftlicher Gutachten und zitieren diese. Sie unterscheiden zwischen den Risiken aufgrund der kurzfristigen und denjenigen aufgrund der langfristigen Wirkungen.

35 Zu den kurzfristigen Auswirkungen gehörten die Beeinträchtigung der geologischen Struktur und die Freisetzung fluechtiger und gasförmiger Produkte in der Biosphäre. Die Atomtests könnten Erdrutsche verursachen und hätten im übrigen 1979 einen grösseren Erdrutsch unter Wasser hervorgerufen, als ein Nuklearsprengkörper explodiert sei, nachdem er sich beim Absinken in seinen Schacht auf halbem Weg verklemmt habe. Da die geologische Struktur von Mururoa bereits wegen erheblicher, durch frühere Tests verursachte Risse instabil sei, seien weitere grosse Erdrutsche wahrscheinlich. Solche Erdrutsche könnten wie schon in der Vergangenheit Tsunamis oder Flutwellen hervorrufen, die Küstenschäden in so weit entfernt gelegenen Gebieten wie Pitcairn und Tahiti verursachten und Wohnungen wie die von Frau Danielsson gefährdeten. Sie könnten auch radioaktive Stoffe ins Meer freisetzen mit katastrophalen Auswirkungen auf die Nahrungsmittelkette in einem Gebiet wie Französisch-Polynesien, wo Fisch einen erheblichen Teil der Nahrung ausmache.

36 Unbeabsichtigt könnten Spaltprodukte aus nuklearen Abfällen durch die von den Explosionen verursachten Risse in die Biosphäre austreten. 1987 sei nach einer zitierten Untersuchung eine kleine Menge radioaktiven Gases nach einem sowjetischen Atomtest auf der Insel Nowaja Semlja unbeabsichtigt freigesetzt worden, wodurch Luft und Milch in bis zu 2 000 km ° weiter als die Entfernung von Mururoa nach Pitcairn oder Tahiti ° entfernten Gebieten kontaminiert worden seien.

37 Zu den langfristigen Auswirkungen gehöre die fortschreitende Freisetzung radioaktiver Stoffe aus Tests und/oder gelagerten Abfällen durch natürliche oder andere Risse. Solche Freisetzungen erfolgten bereits auf Mururoa in Mengen, die von Wissenschaftlern als höher erachtet würden als diejenigen, die von den französischen Behörden festgestellt worden seien, und die geologischen Strukturen der Insel machten diese dafür ungeeignet, solche Abfälle sicher zurückzuhalten. Die Freisetzung radioaktiver Stoffe, die durch meteorologische Erscheinungen wie Hurrikane verschlimmert werde, könne das örtliche Ökosystem des Meeres schädigen und in die Nahrungskette eindringen.

38 Die Antragsteller zitieren auch Statistiken über die Krebssterblichkeit in Französisch-Polynesien und anderen Gebieten des südlichen Pazifiks, die eine höhere Sterblichkeit in näher bei Mururoa gelegenen Gebieten bewiesen, die nicht mit der Lebensweise in Zusammenhang gebracht werden könne.

39 Sowohl bei den kurzfristigen als auch bei den langfristigen Auswirkungen erhöhten sich die Risiken mit jedem durchgeführten Test.

40 Zu diesen Tatsachenbehauptungen führt die Kommission aus, daß die Unterlagen, auf die sich die Antragsteller stützten, in streng wissenschaftlichem Sinn keineswegs beweiskräftig seien und daß die Schlüsse, die sie zögen, Versuchscharakter hätten und Extrapolationen darstellten.

41 Die Antragsteller bringen sechs Rügen vor, um darzutun, daß ihre Anträge dem ersten Anschein nach begründet seien: Verletzt seien i) Artikel 34 EAG-Vertrag, ii) die Richtlinie 80/836/Euratom des Rates vom 15. Juli 1980 zur Änderung der Richtlinien, mit denen die Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen festgelegt wurden (ABl. L 246, S. 1); iii) der Grundsatz der Vorsorge; iv) Völkergewohnheitsrecht; v) die Menschenrechte und vi) Artikel 162 EAG-Vertrag.

42 Zur Begründung ihrer ersten Rüge machen die Antragsteller im wesentlichen geltend, daß die Kommission durch eine falsche Auslegung des Begriffes "besonders gefährliche Versuche" Artikel 34 EAG-Vertrag verletzt habe. Ihre Definition dieser Versuche als Versuche mit "einem spürbaren Risiko einer erheblichen Belastung der Arbeitskräfte oder der Bevölkerung durch radioaktive Strahlen" sei unzureichend und verkenne die Risiken mittelbarer Schädigung durch Kontamination der Atmosphäre, des Ozeans oder des Bodens.

43 Im Rahmen ihrer zweiten Rüge machen die Antragsteller geltend, daß die Kommission die in Artikel 6 der Richtlinie 80/836/Euratom niedergelegten Grundsätze für die in Kapitel 3 des EAG-Vertrags festgelegten Grundnormen nicht angemessen berücksichtigt habe. Es gebe drei solcher Grundsätze: Tätigkeiten, die eine Strahlenbelastung mit sich brächten, müssten durch die mit dieser Tätigkeit verbundenen Vorteile gerechtfertigt sein, jede Strahlenbelastung sei so niedrig zu halten, wie dies vernünftigerweise erreichbar sei, und die festgelegten Dosisgrenzwerte dürften nicht überschritten werden. Die Kommission habe nur den zuletzt genannten Grundsatz angewandt. Sie habe es versäumt, ihren Verpflichtungen im Zusammenhang mit den beiden zuerst genannten Grundsätzen nachzukommen, indem sie von der Französischen Republik nicht den Nachweis der Rechtfertigung der Tätigkeiten verlangt und keine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen habe, um zu bestimmen, ob die Belastung so niedrig sei, wie dies vernünftigerweise erreichbar sei. Ferner habe die Kommission die Artikel 41 und 42 der Richtlinie, die die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zum wirksamen Schutz der Bevölkerung beträfen, nicht richtig angewandt, indem sie von der Französischen Republik keine vollständige Offenlegung von medizinischen Informationen für Französisch-Polynesien verlangt habe.

44 Im Rahmen ihrer dritten Rüge berufen sich die Antragsteller auf den in Artikel 130r Absatz 2 EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz der Vorsorge, den sie für relevant im Kontext des Artikels 34 EAG-Vertrag halten, der jedoch von der Kommission falsch angewandt worden sei. Dieser Grundsatz verlange ein vorbeugendes Tätigwerden, sobald der ernste Verdacht auf mögliche Schädigung der Gesundheit und der Umwelt bestehe; angesichts der Meinung der von den Antragstellern in ihrem Tatsachenvortrag angeführten Sachverständigen hätte daher eine unabhängige öffentliche Gesundheits- und Umweltverträglichkeitsprüfung erfolgen müssen.

45 Im Rahmen ihrer vierten Rüge machen die Antragsteller geltend, es sei ein Erfordernis des Völkergewohnheitsrechts geworden, eine Umweltverträglichkeitsprüfung und/oder eine Wahrscheinlichkeitsprüfung der Sicherheit für geplante Kernkraftanlagen, Lager für radioaktive Abfälle und Tätigkeiten vorzunehmen, die die Umwelt gefährden könnten. Sie berufen sich insbesondere auf Artikel 206 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982, Artikel 2 des (noch nicht in Kraft getretenen) Übereinkommens vom 25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzueberschreitenden Rahmen und den Grundsatz Nr. 17 der Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung vom 14. Juni 1992, sämtlich Übereinkünfte, an denen die Gemeinschaft und die Französische Republik beteiligt seien. Die Kommission habe es unterlassen, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfuellen, indem sie diese Prüfung nicht durchgeführt habe.

46 Im Rahmen ihrer fünften Rüge machen die Antragsteller geltend, daß die Kommission ihr Recht auf Leben nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 6 des Paktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte beeinträchtigt habe, indem sie sie nicht angemessen gegen die Gefahren für ihre Gesundheit durch eine mögliche Strahlenbelastung und für ihr Leben durch mögliche Flutwellen geschützt habe.

47 Schließlich halten die Antragsteller die Begründung der angefochtenen Maßnahme der Kommission für unzureichend, weil sie leicht zugängliche wissenschaftliche Informationen über Tätigkeiten im Zusammenhang mit nuklearer Strahlung und Methoden zu deren Bewertung nicht berücksichtige.

48 In ihrer schriftlichen Stellungnahme zum Antrag auf einstweilige Anordnung führt die Kommission aus, daß Artikel 34 in Kapitel 3, "Der Gesundheitsschutz", stehe, dessen Gegenstand nach Artikel 30 der "Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen" sei. Mögliche Beeinträchtigungen der Umwelt wie Erdrutsche oder Flutwellen seien nicht zu berücksichtigen, da aus diesen keine Strahlung folgen könne. Die Stellungnahme, die die Kommission gemäß Artikel 34 Absatz 1 abzugeben habe, betreffe zudem nicht die Tests selbst, sondern die zu treffenden zusätzlichen Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz. Der Ausdruck "besonders gefährliche Versuche" sei in diesem Kontext auszulegen, ebenso wie der Begriff "Auswirkungen der Versuche [, die sich] auf die Hoheitsgebiete anderer Mitgliedstaaten erstrecken" im Sinne von Artikel 34 Absatz 2, der auf die Auswirkungen ionisierender Strahlungen auf die Gesundheit von in diesem Hoheitsgebiet lebenden Menschen beschränkt sei.

49 Jedenfalls seien die Untersuchungen der Kommission gründlich gewesen und beruhten auf umfassenden Informationen, zu denen insbesondere der Bericht der Prüfungsgruppe und Dokumente gehörten, von denen einige von den französischen Behörden übermittelt und andere aus unabhängigen Quellen erlangt worden seien. Am 17. Oktober 1995 habe die Kommission von den französischen Behörden zusätzliche Informationen erhalten, die durch das Institut für Transurane in Karlsruhe bestätigt worden seien. Sie habe ihre Stellungnahme vom 23. Oktober 1995 auf alle diese Angaben gestützt.

50 Die französische Regierung bestreitet, daß die von den Antragstellern behaupteten Gefahren bestuenden.

Umstände, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt

51 Nach Ansicht der Antragsteller wäre der Schaden, der ihnen bei einer unmittelbaren Fortsetzung der Atomtests entstehen würde, nicht wiedergutzumachen. Die Gesundheitsrisiken seien erheblich und erhöhten sich mit jeder neuen Explosion. Der Ausgang des Verfahrens zur Hauptsache könne nicht abgewartet werden, da mit dem nächsten Test ab dem 15. Dezember 1995 zu rechnen sei.

52 Zu ihrem Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Maßnahme führen die Antragsteller im Kern aus, daß sie, solange die Kommission keine gültige Entscheidung erlassen habe, und insbesondere solange keine gültige Prüfung der Verträglichkeit der Tests für die Bevölkerung und die Umwelt durchgeführt worden sei, nicht sicher sein könnten, daß ihnen die Tests keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden verursachten.

53 Zum Antrag auf Anordnung an die Kommission machen die Antragsteller geltend, daß die blosse Aussetzung der angefochtenen Handlung nicht genüge, denn in der Vergangenheit hätten die französischen Behörden die Zustimmung der Kommission zu den Atomtests nicht abgewartet.

54 Die Kommission bestreitet, unterstützt von der französischen Regierung, daß den Antragstellern ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen könne, wenn die angefochtene Entscheidung nicht ausgesetzt werde.

Zur Abwägung der Interessen

55 Die Antragsteller machen geltend, daß die von ihnen beantragte Maßnahme für die Kommission oder den betroffenen Mitgliedstaat nicht die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens mit sich bringe und diesen keine Belastung auferlege, die über dasjenige hinausgehe, was für die Gewährleistung des Schutzes erforderlich sei, auf den sie Anspruch hätten. Diese Maßnahme würde die Kommission und die Französische Republik nur verpflichten, das Urteil des Gerichts im Verfahren zur Hauptsache oder eine in gültiger Weise getroffene Entscheidung der Kommission abzuwarten, während die Interessen, die für die Antragsteller auf dem Spiel stuenden, ihre Gesundheit und sogar ihr Leben beträfen.

56 Die Kommission macht nicht geltend, daß ihr die beantragte Maßnahme eine unangemessene Belastung auferlegen würde, sondern betont, daß die Aussetzung oder Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung nur dazu führen könne, daß sie erneut die mögliche Anwendung des Artikels 34 EAG-Vertrag prüfen müsse und daß ihr damit nicht die ° ihr nicht zustehende ° Befugnis verliehen werden könne, die Zustimmung zu den Tests zu verweigern.

57 Die französische Regierung führt aus, angesichts ihres feierlichen Versprechens, ab Mai 1996 keine Atomtests mehr vorzunehmen, würde die Aussetzung der angefochtenen Maßnahme die Weiterführung der in Rede stehenden Tests endgültig verhindern, da die Entscheidung des Gerichts über die Klage im Verfahren zur Hauptsache sicherlich nicht vor diesem Zeitpunkt ergehen werde.

Würdigung durch den Richter der einstweiligen Anordnung

Zum Einwand der offensichtlichen Unzulässigkeit der Klage

58 Nach ständiger Rechtsprechung ist die Frage der Zulässigkeit der Klage grundsätzlich nicht im Rahmen eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes zu untersuchen, da sonst der Entscheidung zur Hauptsache vorgegriffen würde. Sie ist der Prüfung der Klage vorzubehalten, sofern die Klage nicht schon dem ersten Anschein nach offensichtlich unzulässig ist (Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 27. Juni 1991 in der Rechtssache C-117/91 R, Bosman/Kommission, Slg. 1991, I-3353, Randnr. 7, und zuletzt Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 7. November 1995, Eridania u. a./Rat, a. a. O., Randnr. 27).

59 Im vorliegenden Fall hat der Richter der einstweiligen Anordnung daher zu prüfen, ob, wie die Kommission, unterstützt durch die Französische Republik, geltend macht, die Klage auf Nichtigerklärung der Stellungnahme der Kommission vom 23. Oktober 1995, in der sie zu dem Ergebnis gelangt, daß Artikel 34 EAG-Vertrag auf die gegenwärtigen Atomtests in Französisch-Polynesien nicht anwendbar sei, schon dem ersten Anschein nach als offensichtlich unzulässig anzusehen ist.

60 Was die Verkörperung der angefochtenen Handlung angeht, so wurde die endgültige Stellungnahme der Kommission, wiedergegeben im Protokoll ihrer 1266. Tagung in Brüssel vom 23. Oktober 1995, das zu den Akten gereicht worden ist, der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments vom Präsidenten der Kommission am 24. Oktober 1995 vorgelegt (ausführlicher Sitzungsbericht, S. 32 und 33) und gleichzeitig den französischen Behörden übermittelt wurde, wie die Parteien in der mündlichen Verhandlung bestätigt haben.

61 Zum Gegenstand der angefochtenen Handlung geht ausdrücklich aus dem Protokoll sowie aus den Erklärungen des Präsidenten der Kommission vor dem Europäischen Parlament hervor, daß in der streitigen Stellungnahme die Anwendung von Artikel 34 EAG-Vertrag, der bestimmte Verpflichtungen für den betroffenen Mitgliedstaat enthält, mit der Begründung ausgeschlossen wurde, daß die fraglichen Atomtests nicht die in diesem Artikel aufgestellten Voraussetzungen für dessen Anwendung erfuellten, da sie nach der Bewertung der Kommission nicht besonders gefährlich seien.

62 Im vorliegenden Verfahren der einstweiligen Anordnung ist nicht vorab über die Frage zu entscheiden, ob Kapitel 3 des Vertrages betreffend Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen und insbesondere Artikel 34 auf nukleare Tätigkeiten militärischer Art anwendbar sind; dieser von der Kommission vertretenen Auslegung hat die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung widersprochen. Diese Frage ist im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der streitigen Maßnahme zu untersuchen.

63 Im vorliegenden Fall ist zu prüfen, ob die Klage dem ersten Anschein nach die Zulässigkeitsvoraussetzungen in bezug auf die Art der angefochtenen Handlung und auf die Klagebefugnis der Kläger erfuellt.

64 Was erstens die Art der angefochtenen Handlung der Kommission angeht, ergibt sich dem ersten Anschein nach aus ihrem Inhalt sowie aus dem rechtlichen und tatsächlichen Kontext ihres Erlasses, daß sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und nach gefestigter Rechtsprechung als Handlung mit Entscheidungscharakter angesehen werden kann, da sie eine abschließende Stellungnahme der Kommission enthält, die dazu bestimmt ist, Rechtswirkungen zu erzeugen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263, Randnrn. 38 bis 42), denn sie bewirkt jedenfalls, daß die Anwendung des Artikels 34 EAG-Vertrag, der den betroffenen Mitgliedstaat verpflichtet, zusätzliche Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz zu treffen, zu denen er vorher die Stellungnahme der Kommission einzuholen hat, ausgeschlossen wird.

65 Somit ist dem ersten Anschein nach davon auszugehen, daß die angefochtene Handlung Entscheidungscharakter hat.

66 Was zweitens die Klagebefugnis der Kläger angeht, so kann nach Artikel 146 Absatz 4 EAG-Vertrag jede natürliche oder juristische Person unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen.

67 Im vorliegenden Fall sind die Antragsteller nicht die Adressaten der angefochtenen Entscheidung, die an die französische Regierung gerichtet ist. Daher ist zu prüfen, ob sie trotzdem durch diese Entscheidung unmittelbar und individuell betroffen sind.

68 Was die Frage angeht, ob die Antragsteller von der angefochtenen Entscheidung individuell betroffen sind, so können nach ständiger Rechtsprechung "Personen, die nicht Adressat einer Entscheidung sind,... nur dann geltend machen, im Sinne von Artikel 173 des Vertrages individuell betroffen zu sein, wenn diese Entscheidung sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und sie daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten" (vgl. die Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1963 in der Rechtssache 25/62, Plaumann/Kommission, Slg. 1963, 213, 237 f., und vom 2. Februar 1988 in den verbundenen Rechtssachen 67/85, 68/85 und 70/85, Van der Kooy u. a./Kommission, Slg. 1988, 219, Randnr. 14, sowie das Urteil des Gerichts vom 6. Juli 1995 in den verbundenen Rechtssachen T-447/93, T-448/93 und T-449/93, AITEC u. a./Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 34).

69 Die Antragsteller machen geltend, daß sie diese Voraussetzung erfuellten; zur Begründung führen sie an, daß die angefochtene Entscheidung sie besonders schwer treffe und die verhängnisvollen Auswirkungen der streitigen Atomtests auf ihre Gesundheit nicht angemessen berücksichtige, obwohl sie zur Bevölkerung im Sinne von Artikel 30 EAG-Vertrag gehörten, deren Gesundheitsschutz insbesondere im Rahmen der Durchführung des Artikels 34 gewährleistet werden müsse.

70 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden, da die angefochtene Entscheidung dem ersten Anschein nach die Antragsteller nur in ihrer objektiven Eigenschaft als Einwohner von Tahiti in gleicher Weise wie alle anderen in Polynesien wohnhaften Personen betrifft.

71 Selbst wenn man unterstellt, daß die Antragsteller gegebenenfalls im Zusammenhang mit angeblich verhängnisvollen Folgen der fraglichen Atomtests für die Umwelt oder für die Gesundheit der Bevölkerung einen persönlichen Schaden erleiden könnten, würde dieser Umstand allein nicht ausreichen, sie in ähnlicher Weise wie den Adressaten der streitigen Entscheidung zu individualisieren, wie dies Artikel 146 Absatz 4 EAG-Vertrag verlangt, da ein Schaden der von ihnen geltend gemachten Art unterschiedslos alle in dem betreffenden Gebiet wohnenden Personen betreffen kann (vgl. Beschluß Greenpeace u. a./Kommission, a. a. O., Randnrn. 49 bis 55).

72 Die Antragsteller tragen nichts vor, was die Feststellung erlauben könnte, daß die angefochtene Entscheidung sie schon dem ersten Anschein nach wegen bestimmter Eigenschaften oder besonderer Umstände betreffe. Sie tragen auch nicht vor, daß diese Entscheidung sie in einem Rechte verletze, das ihnen spezifisch zustuende und das es erlaubte, sie im Hinblick auf diese Entscheidung aus dem Kreis aller anderen in Polynesien wohnenden Personen herauszuheben (vgl. Urteil Codorniu/Rat, a. a. O., Randnrn. 20 bis 22, und Beschluß vom 23. November 1995 in der Rechtssache C-10/95 P, Asocarne/Rat, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 43).

73 Im rechtlichen Kontext des vorliegenden Rechtsstreits ist insbesondere das Vorbringen der Antragsteller zurückzuweisen, daß das beklagte Organ aufgrund bestimmter besonderer Vorschriften des Vertrages verpflichtet gewesen wäre, die Folgen der beabsichtigten Handlung für ihre Lage zu berücksichtigen, was sie nach gefestigter Rechtsprechung hätte individualisieren können (vgl. die Urteile des Gerichtshofes vom 17. Januar 1985 in der Rechtssache 11/82, Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Slg. 1985, 207, Randnrn. 28 ff., und vom 26. Juni 1990 in der Rechtssache C-152/88, Sofrimport/Kommission, Slg. 1990, I-2477, Randnrn. 11 und 12, sowie das Urteil Antillean Rice Mills u. a./Kommission, a. a. O., Randnr. 67).

74 Dem ersten Anschein nach ergibt sich nämlich keine Verpflichtung dieser Art aus den Bestimmungen des Vertrages, auf die sich die Antragsteller berufen. Eine Untersuchung der einschlägigen Bestimmungen des Kapitels 3 des EAG-Vertrags zeigt im Gegenteil deutlich, daß die Kommission im Rahmen von Artikel 34 verpflichtet ist, die möglichen Auswirkungen der streitigen Atomtests auf die gesamte Bevölkerung und die betroffenen Arbeitskräfte zu prüfen. Artikel 34 ist im Kontext des Kapitels in Verbindung insbesondere mit Artikel 30 auszulegen, der gerade "den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte" betrifft, und verpflichtet die Kommission, die Prüfung der Gefährlichkeit der von einem Mitgliedstaat geplanten Versuche in den Rahmen der Verfolgung des allgemeinen Zwecks zu stellen, der darin besteht, den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitnehmer insgesamt mittels umfassender vorbeugender Aktionen zu gewährleisten, die im Allgemeininteresse liegen. Bei der Durchführung solcher Aktionen ist die Kommission nicht verpflichtet, die besondere Lage jedes einzelnen Bewohners und Arbeitnehmers des von einem bestimmten Test betroffenen geographischen Gebietes zu berücksichtigen, wenn nicht besondere Umstände vorliegen, die eine solche individuelle Berücksichtigung im Rahmen der verfolgten Zwecke rechtfertigen können.

75 Somit war die Kommission dem ersten Anschein nach im vorliegenden Fall nicht verpflichtet, die individuelle Lage der Antragsteller gegenüber derjenigen der übrigen Einwohner Polynesiens bei der Prüfung der mit den fraglichen Atomtests verbundenen Risiken zu berücksichtigen, um bestimmen zu können, ob diese Tests besonders gefährlich im Sinne von Artikel 34 EAG-Vertrag sind.

76 Unter diesen Umständen können die Antragsteller nicht dem ersten Anschein nach als von der streitigen Entscheidung individuell betroffen angesehen werden. Die Klage ist daher dem ersten Anschein nach offensichtlich unzulässig, ohne daß geprüft zu werden braucht, ob die Betroffenen die andere in Artikel 146 Absatz 4 EAG-Vertrag aufgestellte Zulässigkeitsvoraussetzung erfuellen, nach der die Entscheidung sie unmittelbar betreffen muß.

77 Entgegen dem Vorbringen der Antragsteller ist dieses Ergebnis nicht mit dem Recht auf Gehör durch ein Gericht unvereinbar, da der Rechtsschutz des einzelnen im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft nicht nur durch die verschiedenen Klagemöglichkeiten gewährleistet ist, die ihm vor den Gemeinschaftsgerichten unter den vom Vertrag festgesetzten Voraussetzungen offenstehen, sondern auch durch das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Artikel 150 EAG-Vertrag im Rahmen von Klagen, die vor den nationalen Gerichten als den für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zuständigen innerstaatlichen Gerichten erhoben werden.

78 Daher ist der vorliegende Antrag auf einstweilige Anordnung zurückzuweisen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1. Die Französische Republik wird als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.

2. Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 22. Dezember 1995

Ende der Entscheidung

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