Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 29.06.1995
Aktenzeichen: T-32/91
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag, VerfO Gerichtshof, GO Kommission


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 86
EWG-Vertrag Art. 191
EWG-Vertrag Art. 173
VerfO Gerichtshof Art. 48 § 2
GO Kommission Art. 12
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts sieht weder eine Frist noch eine besondere Form für das ° zulässige ° Vorbringen eines neuen Angriffsmittels vor. Insbesondere muß nach dieser Bestimmung das Vorbringen zur Vermeidung des Ausschlusses nicht unverzueglich oder innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Zutagetreten der dort genannten rechtlichen oder tatsächlichen Gründe erfolgen. Das Vorbringen eines Angriffsmittels kann grundsätzlich nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Ausschluß ausdrücklich und eindeutig geregelt ist, da er die Möglichkeit der betroffenen Partei einschränkt, alles vorzutragen, was erforderlich ist, um ihren Ansprüchen zum Erfolg zu verhelfen.

2. Die Feststellung der Rechtsakte gemäß Artikel 12 Absatz 1 der Geschäftsordnung der Kommission, die vor der Annahme der Rechtsakte durch das Kollegium der Kommissionsmitglieder und vor deren Zustellung oder Veröffentlichung erfolgen muß, soll die Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt. Damit kann im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle geprüft werden. Infolgedessen ist die Feststellung eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag, und eine vor ihrer Feststellung zugestellte Entscheidung ist unabhängig davon, ob zwischen dem angenommenen und dem veröffentlichten oder zugestellten Text Abweichungen bestehen, mit einem wesentlichen Formfehler behaftet.

3. Nach Erhebung einer Klage gegen einen Rechtsakt, der aufgrund eines Verstosses gegen wesentliche Formvorschriften fehlerhaft ist, kann das Organ, das diesen Rechtsakt erlassen hat, diesen Fehler nicht durch eine einfache rückwirkende Berichtigung heilen, indem es z. B. einen vor seiner Feststellung zugestellten Rechtsakt feststellt.

Dies gilt vor allem dann, wenn dem Kläger durch die Entscheidung eine Geldbusse auferlegt worden ist, da durch eine Berichtigung nach Erhebung der Klage dem auf diesen Fehler gestützten Angriffsmittel die Grundlage entzogen würde. Eine solche Lösung verstieße gegen die Rechtssicherheit und die Interessen des einzelnen, der von einer Bußgeldentscheidung betroffen ist.


URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (ERSTE ERWEITERTE KAMMER) VOM 29. JUNI 1995. - SOLVAY SA GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - WETTBEWERB - MISSBRAUCH EINER BEHERRSCHENDEN STELLUNG - GESCHAEFTSORDNUNG DER KOMMISSION - FESTSTELLUNG EINER VOM KOLLEGIUM DER KOMMISSIONSMITGLIEDER ANGENOMMENEN ENTSCHEIDUNG. - RECHTSSACHE T-32/91.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

Wirtschaftlicher Hintergrund

1 Das Erzeugnis, das Gegenstand des Verfahrens ist, ist Soda. Soda wird für die Glasherstellung (schwere Soda) und in der chemischen Industrie sowie in der Metallbearbeitung (leichte Soda) verwendet. Zu unterscheiden ist zwischen Natursoda (schwere Soda), die hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Amerika abgebaut wird, und synthetischer Soda (schwere und leichte Soda), die in Europa in einem von der Klägerin vor 100 Jahren erfundenen Verfahren hergestellt wird.

2 Im entscheidungserheblichen Zeitraum gab es in der Gemeinschaft sechs Hersteller von synthetischer Soda:

° die Klägerin, in der Gemeinschaft und weltweit der grösste Hersteller, mit einem Marktanteil innerhalb der Gemeinschaft von fast 60 % (und sogar 70 % innerhalb der Gemeinschaft ohne das Vereinigte Königreich und Irland);

° Imperial Chemical Industries plc, der zweitgrösste Hersteller in der Gemeinschaft, mit einem Marktanteil im Vereinigten Königreich von mehr als 90 %;

° die "kleinen" Hersteller: Chemische Fabrik Kalk sowie Matthes & Weber (Deutschland), Akzo (Niederlande) und Rhône-Poulenc (Frankreich), die zusammen einen Anteil von etwa 26 % halten.

3 Die Klägerin hat Werke in Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Portugal und Österreich und ist in diesen Ländern sowie in der Schweiz, den Niederlanden und Luxemburg mit eigenen Verkaufsorganisationen tätig. Ausserdem ist sie der grösste Salzhersteller in der Gemeinschaft und befindet sich daher in einer sehr günstigen Position für die Lieferung des wichtigsten Rohstoffes für synthetische Soda.

4 Im entscheidungserheblichen Zeitraum war der Gemeinschaftsmarkt durch eine Aufteilung entsprechend den nationalen Grenzen gekennzeichnet, da die Hersteller in der Regel ihren Absatz auf diejenigen Mitgliedstaaten konzentrierten, in denen sie über Produktionsanlagen verfügten.

Verwaltungsverfahren

5 Nachdem die Kommission 1989 bei den wichtigsten Sodaherstellern der Gemeinschaft unangemeldet Nachprüfungen durchgeführt und diese durch die Einholung von Auskünften ergänzt hatte, übersandte sie der Klägerin mit Schreiben vom 13. März 1990 eine Mitteilung der Beschwerdepunkte, die in mehrere Teile gegliedert war und in der der Klägerin u. a. ein Verstoß gegen Artikel 86 EWG-Vertrag zur Last gelegt wurde.

6 Am 28. Mai 1990 nahm die Klägerin zu dieser Mitteilung der Beschwerdepunkte schriftlich Stellung. Mit Schreiben vom 29. Mai 1990 lud die Kommission die Klägerin zu einer vom 25. bis 27. Juni 1990 vorgesehenen Anhörung ein. Die Klägerin lehnte mit Schreiben vom 14. Juni 1990 diese Einladung ab.

7 Nach den Akten hat das Kollegium der Kommissionsmitglieder nach Beendigung dieses Verfahrens auf seiner 1 040. Sitzung vom 17. und 19. Dezember 1990 die Entscheidung 91/299/EWG in einem Verfahren nach Artikel 86 EWG-Vertrag (IV/33.133-C: Soda ° Solvay, ABl. 1991, L 152, S. 21, nachstehend: Entscheidung) erlassen. In dieser Entscheidung wird im wesentlichen festgestellt, daß die Klägerin auf dem Sodamarkt des kontinentalen Westeuropas eine beherrschende Stellung innehabe und diese von etwa 1983 an mißbräuchlich im Sinne des Artikels 86 EWG-Vertrag ausgenutzt habe. Infolgedessen ist mit dieser Entscheidung eine Geldbusse von 20 Millionen ECU gegen sie festgesetzt worden.

8 Die Entscheidung wurde der Klägerin mit eingeschriebenem Brief vom 1. März 1991 zugestellt. Aus den Akten ergibt sich, daß Nummer 63 der Entscheidungsbegründung im zugestellten Text nicht enthalten war und bei der Numerierung der Gründe in diesem Text die Nummer 64 unmittelbar auf die Nummer 62 folgte.

9 Es ist unstreitig (siehe nachstehend Randnr. 31), daß die zugestellte Entscheidung nicht gemäß dem seinerzeit geltenden Artikel 12 Absatz 1 der Geschäftsordnung 63/41/EWG der Kommission vom 9. Januar 1963 (ABl. 1963, Nr. 17, S. 181), die nach Artikel 1 des Beschlusses 67/426/EWG der Kommission vom 6. Juli 1967 (ABl. 1967, Nr. 147, S. 1) vorläufig weiterhin gilt und zuletzt durch Beschluß 86/61/EWG, Euratom, EGKS der Kommission vom 8. Januar 1986 (ABl. L 72, S. 34) geändert worden ist (im folgenden: Geschäftsordnung), durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt worden ist.

Gerichtliches Verfahren

10 Aufgrund dessen hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben, die am 2. Mai 1991 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen worden ist.

11 Das schriftliche Verfahren ist ordnungsgemäß abgelaufen. Nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens hat die Klägerin am 10. April 1992 einen Schriftsatz zur Erweiterung der Klage eingereicht, mit dem sie ein neues Angriffsmittel geltend macht und beantragt, die angefochtene Entscheidung für inexistent zu erklären. Unter Hinweis auf zwei Zeitungsartikel, die im Wall Street Journal vom 28. Februar 1992 und in der Financial Times vom 2. März 1992 erschienen sind, macht sie u. a. geltend, die Kommission habe öffentlich erklärt, es sei jahrelange Praxis, daß vom Kommissionskollegium angenommene Rechtsakte nicht festgestellt würden, und seit 25 Jahren sei keine Entscheidung mehr Gegenstand einer Feststellung gewesen. Diese Erklärungen der Kommission hätten sich auf seinerzeit beim Gericht anhängige Rechtssachen bezogen, die mehrere Klagen betroffen hätten, die gegen eine andere Entscheidung der Kommission, mit der diese ein Kartell im Polyvinylchloridbereich festgestellt habe, erhoben worden seien und die zum Urteil des Gerichts vom 27. Februar 1992 geführt hätten (Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89, BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315, nachstehend: PVC-Urteil).

12 In dieser Klageerweiterung hat die Klägerin erklärt, das Generalsekretariat der Kommission habe ihr mit Schreiben vom 11. Juni 1991 mitgeteilt, daß "Nummer 63 der Entscheidung infolge eines Versehens in dem... zugestellten Text nicht enthalten ist", und habe diese Textstelle über den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung dem Schreiben als Anlage beigefügt. Die Stelle lautet folgendermassen:

(63) Auch der Sonder-Gruppenrabatt von 1,5 % für die Saint-Gobain-Unternehmen war seinem Wesen nach diskriminierend. Zwar war die Saint-Gobain-Gruppe als Ganzes der mit Abstand grösste Abnehmer, doch wurden nach den Verträgen mit Solvay die Käufe des Konzerns auf nationaler Basis aufgesplittet. So spiegelt der Gruppenrabatt keinerlei Kostenvorteile aufgrund der gelieferten Mengen wider, sondern soll (nach eigener Darstellung in den Dokumenten von Solvay) die Treue der Saint-Gobain-Gruppe sichern. Die Folge ist, daß der Saint-Gobain-Tochter in einem Mitgliedstaat möglicherweise ein erheblich besserer Preis von Solvay geboten wird als einem Wettbewerber, der eine ähnliche oder sogar grössere Menge von dem örtlichen Solvay-Werk bezieht.

13 Die Kommission hat zu der Klageerweiterung innerhalb der Frist, die ihr der Präsident der Ersten Kammer gemäß Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung gesetzt hat, schriftlich Stellung genommen.

14 Nachdem der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P (Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555) über das Rechtsmittel gegen das PVC-Urteil des Gerichts entschieden hatte, hat das Gericht (Erste erweiterte Kammer) prozeßleitende Maßnahmen erlassen, durch die es die Kommission insbesondere aufgefordert hat, u. a. die Entscheidung, wie sie seinerzeit durch die Unterschriften des Präsidenten und des Generalsekretärs in den verbindlichen Sprachen festgestellt und dem Protokoll beigefügt worden ist, vorzulegen.

15 Die Kommission hat in ihrer Antwort erklärt, daß sie es für angezeigt halte, nicht auf die Begründetheit des Angriffsmittels der fehlenden Feststellung der Entscheidung einzugehen, solange das Gericht nicht über die Zulässigkeit dieses Angriffsmittels entschieden habe.

16 Das Gericht (Erste erweiterte Kammer) hat der Kommission aufgrund dessen mit Beschluß vom 25. Oktober 1994 gemäß Artikel 65 der Verfahrensordnung aufgegeben, den genannten Text vorzulegen.

17 Die Kommission hat gemäß diesem Beschluß am 11. November 1994 u. a. die Entscheidung in französischer Sprache vorgelegt. Auf dem Deckblatt der Entscheidung ist ein nicht datierter Feststellungsvermerk angebracht, der vom Präsidenten und dem Exekutivsekretär der Kommission unterzeichnet ist. Es ist unstreitig, daß dieser Vermerk, der sich ausdrücklich auf "le considérant 63 repris en annexe" (die im Anhang wiedergegebene 63. Begründungserwägung) erstreckt, erst sechs Monate nach Klageerhebung angebracht worden ist (siehe nachstehend Randnr. 31). Die Entscheidung, auf die sich dieser Feststellungsvermerk bezieht, enthält im Anhang die genannte Nummer 63, die nach Aussage der Kommission Teil der am 19. Dezember 1990 vom Kommissionskollegium angenommenen Entscheidung ist.

18 Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. Die Parteien haben in der Sitzung vom 6. und 7. Dezember 1994 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. Am Schluß der Sitzung hat der Präsident die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärt.

Anträge der Parteien

19 Die Klägerin beantragt,

° die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären,

° hilfsweise, die Geldbusse auf einen symbolischen Betrag festzusetzen oder zumindest erheblich und angemessen herabzusetzen,

° der Kommission in jedem Fall die Kosten aufzuerlegen.

20 Mit ihrer Klageerweiterung beantragt die Klägerin, die Entscheidung für inexistent oder zumindest für unwirksam zu erklären.

21 Die Kommission beantragt,

° die Klage als unbegründet abzuweisen,

° den mit der Klageerweiterung geltend gemachten Antrag als unzulässig oder zumindest als unbegründet zurückzuweisen,

° der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

22 Nach der Verkündung des genannten Urteils des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 hat die Klägerin auf eine schriftliche Frage des Gerichts erklärt, sie beantrage nicht mehr, die Entscheidung für inexistent zu erklären, sondern nur noch, sie für nichtig zu erklären. Die Klägerin hat gebeten, ihre Klagegründe nur unter dem Blickwinkel der Nichtigerklärung zu prüfen.

Zu dem Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung

23 Zur Begründung ihres Antrags auf Nichtigerklärung trägt die Klägerin eine Reihe von Angriffsmitteln vor, die sich in zwei verschiedene Gruppen unterteilen lassen. Im Rahmen der ersten Gruppe von Angriffsmitteln bezueglich der Ordnungsgemäßheit des Verwaltungsverfahrens macht die Klägerin mehrere Verstösse gegen wesentliche Formvorschriften geltend. Mit ihrer Klageerweiterung rügt sie, daß die ihr zugestellte Entscheidung entgegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission weder vom Präsidenten der Kommission unterzeichnet noch rechtzeitig von diesem und dem Generalsekretär festgestellt worden sei. Darüber hinaus liege keine wirksame Zustellung im Sinne des Artikels 191 EWG-Vertrag und des Artikels 16 Absatz 3 der Geschäftsordnung vor. Zudem habe die Kommission gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit der von den Gemeinschaftsbehörden beschlossenen Rechtsakte verstossen, indem sie die Entscheidung nach ihrer offiziellen Annahme, insbesondere durch die Hinzufügung der Nummer 63 geändert habe, wobei zweifelhaft sei, ob diese Nummer tatsächlich vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommen worden sei. In ihrer Klageschrift wirft die Klägerin der Kommission einen Verstoß gegen das Kollegialprinzip vor. Entgegen Artikel 4 der Geschäftsordnung der Kommission sei die Erörterung des Entscheidungsentwurfs nicht verschoben worden, obwohl zumindest ein Kommissionsmitglied darum gebeten habe, um die Akten, die ihm verspätet übermittelt worden seien, gebührend prüfen zu können.

24 Im Rahmen der zweiten Gruppe von Angriffsmitteln rügt die Klägerin einen Verstoß gegen die Artikel 86 und 190 EWG-Vertrag sowie gegen die Regeln der Beweisführung, da die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen sei, daß die Klägerin eine beherrschende Stellung einnehme und diese Stellung mißbräuchlich ausgenutzt habe. Ausserdem sei die Anweisung ihr gegenüber in Artikel 2 der Entscheidung, die Kommission von den Einzelheiten eines etwaigen neuen Rabattsystems zu unterrichten, rechtswidrig, da sie weder auf eine Bestimmung des Vertrages noch auf eine andere Rechtsvorschrift gestützt werden könne. Schließlich sei die festgesetzte Geldbusse unangemessen, da der hohe Betrag in keinem Verhältnis zur Schwere der angeblichen Zuwiderhandlung stehe und die Verhängung der Geldbusse ausserdem nicht ordnungsgemäß begründet sei.

25 Das Gericht hält es für zweckmässig, zunächst das von der Klägerin mit der Klageerweiterung geltend gemachte Angriffsmittel einer nicht ordnungsgemässen Feststellung und Änderung des von der Kommission beschlossenen Rechtsakts zu prüfen.

Zum Angriffsmittel einer nicht ordnungsgemässen Feststellung und Änderung des von der Kommission beschlossenen Rechtsakts

Vorbringen der Parteien

26 Die Klägerin wirft mit ihrer Klageerweiterung der Kommission vor, gegen Artikel 12 ihrer Geschäftsordnung verstossen zu haben, da die zugestellte Entscheidung nicht mit dem vorher erforderlichen Feststellungsvermerk versehen gewesen sei. Die Klägerin verweist dazu auf die beiden genannten Zeitungsartikel (siehe oben Randnr. 10), die ihrer Klageschrift beigefügt und kurz nach der Verkündung des PVC-Urteils erschienen waren, in dem das Gericht schwere Formfehler der betreffenden PVC-Entscheidung festgestellt hatte. Zudem zeigt nach Ansicht der Klägerin ein Vergleich der zugestellten mit der veröffentlichten Fassung der Entscheidung eine grundlegende Abweichung: Während die Schlußformel der ersten Fassung laute "pour la Commission, Sir Leon Brittan, Vice-président" (für die Kommission, Sir Leon Brittan, Vizepräsident), trage die zweite Fassung den Vermerk "par la Commission..." (durch die Kommission).

27 Insbesondere zu der Nummer 63 stellt sich die Klägerin die Frage, welchen Inhalt die Entscheidung tatsächlich habe, und vor allem, ob diese Nummer 63 am 19. Dezember 1990 vom Kollegium der Kommissionsmitglieder wirklich angenommen worden sei. Auf eine schriftliche Frage des Gerichts hat die Klägerin darauf hingewiesen, daß Nummer 63 ihr erst nach Einreichung der Klageschrift übermittelt worden sei, und die Ansicht vertreten, daß das Generalsekretariat der Kommission, wenn diese Nummer am 19. Dezember 1990 nicht ordnungsgemäß angenommen worden sei, die Begründung der zu diesem Zeitpunkt angenommenen Entscheidung weder habe ändern noch vervollständigen können. Unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofes vom 23. Februar 1988 in der Rechtssache 131/86 (Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1988, 905, Randnr. 37) kommt die Klägerin zu dem Ergebnis, daß weder der Generalsekretär noch irgendein anderer Beamter der Kommission befugt gewesen sei, die Nummer 63 hinzuzufügen.

28 In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin unter Hinweis auf das genannte Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 erklärt, die Feststellung gemäß Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission müsse vor Zustellung des angefochtenen Rechtsakts erfolgen. Die im vorliegenden Fall verspätete Feststellung durch den Präsidenten und den Generalsekretär der Kommission sei nach der Zustellung der Entscheidung und sogar nach Einreichung ihrer Klage erfolgt und könne daher nicht als eine wirksame Heilung des ursprünglichen Verfahrensfehlers angesehen werden, es sei denn, daß man den Begriff der wesentlichen Formvorschrift aufgebe. Da die Feststellung ausserdem mehr als ein Jahr nach Erlaß der Entscheidung erfolgt sei, sei es offenkundig, daß der Präsident und der Generalsekretär der Kommission nach menschlichem Ermessen nicht in der Lage gewesen seien, zu prüfen, ob das, was sie feststellen sollten, tatsächlich mit dem übereinstimme, was angenommen worden sei.

29 Die Kommission macht in erster Linie geltend, daß das Angriffsmittel als verspätet und damit als unzulässig zurückzuweisen sei. Zu Nummer 63 verweist sie darauf, daß die Klägerin auf die mit Schreiben des Generalsekretärs der Kommission vom 11. Juni 1991 übermittelte Berichtigung nicht reagiert habe. Die Kommission sei nur im Besitz eines Schreibens des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vom 4. Juli 1991, mit dem er den Empfang der Berichtigung bestätigt habe. Die Klägerin habe aus der verspäteten Übermittlung der Nummer 63 weder in diesem Schreiben ihres Prozeßbevollmächtigten noch in ihrer Erwiderung irgendwelche Konsequenzen gezogen.

30 Auf eine schriftliche Frage des Gerichts hat die Kommission ausgeführt, im vorliegenden Fall gebe es keinen rechtlichen oder tatsächlichen Grund, der erst während des Verfahrens im Sinne des Artikels 48 § 2 der Verfahrensordnung zutage getreten sei. Zum einen könne das PVC-Urteil an sich nicht als ein neuer Grund angesehen werden (vgl. Beschluß des Gerichts vom 26. März 1992 in der Rechtssache T-4/89 REV., BASF/Kommission, Slg. 1992, II-1591, Randnr. 12). Zum anderen sei fraglich, ob die Erklärungen von Vertretern der Kommission im Rahmen eines anderen Verfahrens insoweit als ein "neuer Grund" im Rahmen des vorliegenden Verfahrens qualifiziert werden könnten. Zudem könne eine Partei mit dem einfachen Hinweis auf Zeitungsartikel über eine andere Rechtssache, an der sie nicht beteiligt sei, nicht einen neuen Grund geltend machen, wenn man nicht jeder Art von Spekulation Tür und Tor öffnen wolle. Schließlich sei das Beschlußfassungsverfahren in der PVC-Sache teilweise durch besondere Zeitzwänge gekennzeichnet gewesen. Da dies für den vorliegenden Fall nicht zutreffe, gebe es keinen Grund dafür, entgegen der Vermutung der Gültigkeit, die die vorliegende Entscheidung beanspruchen könne, anzunehmen, daß das Verfahren in der PVC-Sache in allen Einzelheiten mit dem Verfahren in anderen Sachen, in denen es um die Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag gehe, identisch sei. Die von der Klägerin genannten Unstimmigkeiten im Text seien bereits zu Beginn des Verfahrens erkennbar gewesen.

31 Zur Begründetheit hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, der genaue Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs der Kommission festgestellt worden sei, lasse sich jetzt nicht mehr bestimmen. Es sei jedoch klar, daß diese Feststellung Anfang 1992 erfolgt sei, und zwar als eine Vorsichtsmaßnahme, nachdem die Probleme der Feststellung einer Entscheidung vor dem Gericht im Rahmen der Rechtssachen, die zu dem PVC-Urteil geführt hätten, zur Sprache gekommen seien.

32 Nach Ansicht der Kommission muß jedoch die Feststellung einer Entscheidung nicht zwangsläufig ihrer Zustellung vorhergehen. Die Feststellung sei nämlich kein Bestandteil des Verfahrens zur Annahme der eigentlichen Entscheidung durch das Kollegium, und Artikel 12 der Geschäftsordnung setze für die Feststellung keinen bestimmten Zeitpunkt fest. Deshalb sei eine Feststellung nach der Zustellung rechtlich wirksam, wenn sie mit hinreichender Sicherheit bestätige, daß der Text der vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Entscheidung mit dem dem betroffenen Unternehmen zugestellten Text identisch sei. Dies treffe für den vorliegenden Fall genau zu, da die Entscheidung tatsächlich vom Kollegium am 19. Dezember 1990 so, wie sie gewesen sei, angenommen worden sei, so daß das Kollegialprinzip eingehalten worden sei. Im Unterschied zu der PVC-Entscheidung seien die angenommene, die zugestellte und die veröffentlichte Fassung identisch, und die Entscheidung weise im vorliegenden Fall keinen der anderen Mängel auf, mit denen die PVC-Entscheidung angeblich behaftet gewesen sei.

33 Ausserdem sei die Feststellung der Entscheidung nur ein Mittel, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, wenn über die Übereinstimmung des zugestellten und des angenommenen Textes gestritten werde. Im vorliegenden Fall gebe es keinen solchen Streit. Deshalb habe der Umstand, daß der Präsident und der Generalsekretär der Kommission nicht vor der Zustellung unterzeichnet hätten, die Stellung der Klägerin nicht wesentlich beeinträchtigt. Daß die Feststellung der Entscheidung nach ihrer Zustellung und sogar nach Einreichung der vorliegenden Klage erfolgt sei, sei für die Klägerin ohne grosse Bedeutung, da sie an sich die Echtheit des betreffenden Textes nicht in Zweifel ziehen könne. So komme die Vermutung der Gültigkeit, die Verwaltungsakte beanspruchen könnten, voll zum Tragen.

34 Würde man unter diesen Umständen den nachträglich auf der Entscheidung angebrachten Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs der Kommission den Charakter einer rechtsgültigen Feststellung absprechen, würde dies auf einen reinen Formalismus hinauslaufen, der vor allem deshalb unsinnig wäre, weil allgemein anerkannt sei, daß diese Förmlichkeit zwangsläufig eine gewisse Fiktion darstelle, da umfangreiche Texte nicht vollständig überprüft werden könnten. Wenn ein Schriftstück von einer Verwaltungsbehörde oder einem Gericht unterzeichnet werde, dürfe nämlich nicht erwartet werden, daß sämtliche Unterzeichner dieses Schriftstück vollständig gelesen hätten.

Würdigung durch das Gericht

° Zulässigkeit

35 Bezueglich der Zulässigkeit des mit der Klageerweiterung nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens geltend gemachten neuen Angriffsmittels der nicht ordnungsgemässen Feststellung der Entscheidung ist auf Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung zu verweisen, wonach neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden können, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind, wobei die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorbringens dem Endurteil vorbehalten ist.

36 Das neue Angriffsmittel enthält zwei Rügen: Zum einen sei der von der Kommission angenommene Rechtsakt nicht ordnungsgemäß festgestellt worden, zum anderen sei der Text der Entscheidung nach Klageerhebung geändert worden, indem eine Nummer 63 eingefügt worden sei.

37 Zur ersten Rüge vertritt das Gericht zunächst die Auffassung, daß die Erklärungen der Vertreter der Kommission, daß über mehrere Jahre die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Rechtsakte regelmässig nicht festgestellt worden seien, eine neue Tatsache darstellen, die von der Klägerin zur Begründung ihrer Klage geltend gemacht werden kann. Auch wenn diese Erklärungen nur im Rahmen der PVC-Rechtssache abgegeben worden sind, gilt die Aussage doch für alle bis Ende 1991 durchgeführten Verfahren nach den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, einschließlich des Verfahrens, das Gegenstand dieses Rechtsstreits ist.

38 Auch wenn das Fehlen der Feststellung der angefochtenen Entscheidung eine bereits vor Erhebung der vorliegenden Klage feststehende Tatsache war, konnte von der Klägerin nicht erwartet werden, daß sie sich in ihrer am 2. Mai 1991 eingegangenen Klageschrift darauf beruft. Der Entscheidung, die in Form einer durch die Unterschrift des Generalsekretärs der Kommission beglaubigten Abschrift zugestellt worden war, war nämlich selbst bei aufmerksamem Lesen nicht zu entnehmen, daß die Urschrift der Entscheidung seinerzeit nicht festgestellt worden war. Zwar fehlte in der Entscheidung die Nummer 63. Die Klägerin als Adressatin der Entscheidung konnte aus diesem Umstand jedoch nicht herleiten, daß die Feststellung der Entscheidung unterblieben war.

39 Die Klägerin konnte vor Klageerhebung auch nicht wissen, daß das Feststellungsverfahren nach Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission nach deren späteren Erklärungen seit langer Zeit "ausser Anwendung geraten" war (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994, a. a. O., Randnr. 32), da zu diesem Zeitpunkt die Aussage, daß diese Übung ausser Anwendung geraten war, den betroffenen Kreisen nicht bekannt war. Somit ist das Versäumnis der vorherigen Feststellung der zugestellten Entscheidung eine Tatsache, die für die Klägerin während des Verfahrens zutage getreten ist.

40 Zu der Frage, ob das auf diese Tatsache gestützte neue Angriffsmittel, das nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens mit der am 10. April 1992 eingegangenen Klageerweiterung geltend gemacht worden ist, als rechtzeitig vorgebracht anzusehen ist oder zu einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens hätte vorgebracht werden müssen, ist festzustellen, daß Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung weder eine Frist noch eine besondere Form für das Vorbringen eines neuen Angriffsmittels vorsieht. Insbesondere muß nach dieser Bestimmung das Vorbringen zur Vermeidung des Ausschlusses nicht unverzueglich oder innerhalb einer bestimmten Frist nach dem Zutagetreten der dort genannten rechtlichen oder tatsächlichen Gründe erfolgen. Das Vorbringen eines Angriffsmittels kann grundsätzlich nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Ausschluß ausdrücklich und eindeutig geregelt ist, da er die Möglichkeit der betroffenen Partei einschränkt, alles vorzutragen, was erforderlich ist, um ihren Ansprüchen zum Erfolg zu verhelfen. Somit stand es der Klägerin frei, mit ihrer nach Beendigung des schriftlichen Verfahrens und vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingereichten Klageerweiterung das neue Angriffsmittel geltend zu machen.

41 Aber selbst wenn diese Bestimmung so auszulegen wäre, daß ein neues Angriffsmittel nur zulässig ist, wenn es so schnell wie möglich vorgebracht wird, hätte die Klägerin diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfuellt. Zwar hatte die Kommission schon in der Sitzung vom 10. Dezember 1991 in den Rechtssachen, die zu dem PVC-Urteil geführt haben, darauf hingewiesen, daß es einer ständigen Praxis entsprochen habe, die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Rechtsakte nicht festzustellen, doch waren weder die Klägerin noch ihre Prozeßbevollmächtigten in diesen Rechtssachen am Verfahren beteiligt, und es kann daher nicht unterstellt werden, daß diese mündliche Erklärung der Kommission der Klägerin vor dem Erscheinen der beiden genannten Zeitungsartikel Ende Februar/Anfang März 1992 bekannt war. Infolgedessen konnte von der Klägerin nicht erwartet werden, daß sie das betreffende Angriffsmittel bereits in ihrer am 20. Dezember 1991 eingereichten Erwiderung geltend machen würde. Schließlich war der Zeitraum zwischen dem Erscheinen der Zeitungsartikel und der Einreichung der Klageerweiterung nach Auffassung des Gerichts angemessen, da er objektiv erforderlich war, um die Entscheidung und das für deren Annahme durchgeführte Verfahren im Hinblick auf die Aufdeckung eventueller Formfehler aufmerksam zu überprüfen.

42 Somit ist die erste Rüge des Angriffsmittels, die die nicht ordnungsgemässe Feststellung der Entscheidung betrifft, für zulässig zu erklären.

43 Hinzu kommt, daß das Gericht mit seinem Beschluß vom 25. Oktober 1994 der Kommission jedenfalls aufgegeben hatte, u. a. den Text der Entscheidung in der seinerzeit festgestellten Fassung vorzulegen. Wie sich aus der Begründung des Beschlusses ergibt, hat das Gericht dabei dem Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 Rechnung getragen, mit dem dieser angesichts des Eingeständnisses der Kommission, die vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Rechtsakte würden seit langem nicht mehr festgestellt, entschieden hatte, daß das Versäumnis der Feststellung einer Entscheidung, um das es auch im vorliegenden Rechtsstreit geht, eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften darstellt (Randnr. 76). Das Gericht hat sich dabei aber auch von der ständigen Rechtsprechung leiten lassen, wonach die Verletzung wesentlicher Formvorschriften vom Gemeinschaftsrichter von Amts wegen geprüft werden kann (Urteile des Gerichtshofes vom 21. Dezember 1954, Rechtssache 1/54, Frankreich/Hohe Behörde, Slg. 1954, 7, Rechtssache 2/54, Italien/Hohe Behörde, Slg. 1954, 79, vom 20. März 1959, Rechtssache 18/57, Nold/Hohe Behörde, Slg. 1959, 89, und vom 7. Mai 1991, Rechtssache C-291/89, Interhotel/Kommission, Slg. 1991, I-2257, Randnr. 14, sowie Rechtssache C-304/89, Oliveira/Kommission, Slg. 1991, I-2283, Randnr. 18).

44 Zur zweiten Rüge des Angriffsmittels, die eine nachträgliche Änderung der Entscheidung durch Einfügung einer Nummer 63 betrifft, ist festzustellen, daß der Klägerin vor Klageerhebung nur bekannt war, daß bei der Reihenfolge der Gründe auf die Nummer 62 unmittelbar die Nummer 64 folgte, was die Klägerin für einen blossen Numerierungsfehler halten durfte und was nicht unbedingt bedeuten musste, daß ein ganzer Abschnitt fehlte. Im übrigen gelangte der Text der Nummer 63 der Klägerin erst nach Klageerhebung zur Kenntnis.

45 Am 11. Juni 1991 wurde der Wortlaut der Nummer 63 der Klägerin durch das Generalsekretariat der Kommission mitgeteilt. Zu diesem Zeitpunkt war der Klägerin erkennbar, daß der zugestellte Text der Entscheidung unvollständig war. Wie jedoch oben festgestellt (vgl. Randnr. 40), war die Klägerin nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung nicht verpflichtet, darauf bereits in ihrer Erwiderung hinzuweisen. Somit ist die zweite Rüge des Angriffsmittels ebenfalls für zulässig zu erklären.

° Begründetheit

46 Zur zweiten Rüge des Angriffsmittels ist festzustellen, daß nach den Erklärungen der Kommission in ihrer Antwort auf eine schriftliche Frage des Gerichts die Nummer 63 in dem von dem Kollegium genehmigten Entscheidungsentwurf enthalten war (vgl. Anlage 1 der Antwort der Kommission vom 17. Mai 1993). Die Kommission hat ausgeführt, daß nach der Annahme der Entscheidung durch das Kollegium der Text der Entscheidung einige rein formelle Änderungen bezueglich Zeilenabstand und verwendeter Schriftzeichen erfahren habe, so daß ein neuer Seitenumbruch erforderlich gewesen sei. Wahrscheinlich sei bei diesem Seitenumbruch die genannte Nummer verlorengegangen. Da es sich um einen von der Kommission gebilligten Abschnitt und damit um einen Teil der angenommenen Entscheidung gehandelt habe, sei das Generalsekretariat der Kommission gehalten gewesen, den Wortlaut dieses Abschnitts, sobald sein Fehlen im zugestellten Text bemerkt worden sei, gemäß Artikel 191 Absatz 2 dem Adressaten der Entscheidung zu übermitteln.

47 Diese Erklärung wird durch den Feststellungsvermerk bestätigt, der auf der Entscheidung nachträglich angebracht wurde und nach dem "le considérant 63 repris en annexe a été adopté par la Commission lors de sa 1 040ème réunion" [die im Anhang wiedergegebene 63. Begründungserwägung von der Kommission auf ihrer 1 040. Sitzung angenommen worden ist]. Selbst wenn diese Feststellung nicht in Übereinstimmung mit der Geschäftsordnung der Kommission (siehe nachstehend Randnrn. 50 bis 53) erfolgt ist, muß sie doch als Beweis dafür genommen werden, daß das Kollegium die Nummer 63 tatsächlich angenommen hat.

48 Somit ist festzustellen, daß die Nummer 63 von der Kommission zwar angenommen worden war, der Klägerin aber nicht vor Erhebung der Klage zugestellt worden war. Die Tatsache, daß die Zustellung mit einem solchen Mangel behaftet war, kann jedoch allein nicht zur Nichtigkeit der Entscheidung führen; sie könnte nur zur Folge haben, daß die nicht zugestellte Nummer unberücksichtigt bleibt. Die zweite Rüge des Angriffsmittels ist daher nicht begründet.

49 Zur ersten Rüge des Angriffsmittels ist auf den Wortlaut des Artikels 12 der Geschäftsordnung der Kommission in seiner im entscheidungserheblichen Zeitraum geltenden Fassung hinzuweisen:

"Die von der Kommission... gefassten formellen Beschlüsse werden in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt.

Der Wortlaut dieser Beschlüsse wird dem Protokoll der Kommission beigefügt, in dem ihre Annahme vermerkt ist.

Der Präsident gibt die von der Kommission gefassten Beschlüsse, soweit dies erforderlich ist, denjenigen bekannt, an die sie gerichtet sind."

Was die verschiedenen Abschnitte dieses Verfahrens betrifft, so ergibt sich bereits aus der Systematik dieser Regelung eine Gliederung des Verfahrens, nach der die Beschlüsse zunächst gemäß Absatz 1 der Bestimmung vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommen und anschließend festgestellt werden, bevor sie, falls erforderlich, den Adressaten gemäß Absatz 3 der Bestimmung zugestellt und gegebenenfalls im Amtsblatt veröffentlicht werden. Infolgedessen muß die Feststellung eines Rechtsakts zwangsläufig seiner Zustellung vorausgehen.

50 Diese Gliederung, die sich aus einer wörtlichen und systematischen Auslegung ergibt, wird durch die Zielsetzung der Bestimmung über die Feststellung eines Rechtsakts bestätigt. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 (a. a. O.) erläutert hat, ist diese Bestimmung nämlich die Folge der Verpflichtung der Kommission, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann (Randnr. 73). Der Gerichtshof hat in diesem Urteil weiter ausgeführt, daß die Feststellung eines Rechtsakts somit die Rechtssicherheit gewährleisten soll, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt, damit im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle geprüft werden kann (Randnr. 75). Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Feststellung eines Rechtsakts eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag darstellt (Randnr. 76).

51 Im vorliegenden Fall ist die Feststellung der angefochtenen Entscheidung nach ihrer Zustellung erfolgt. Somit liegt eine Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 des Vertrages vor.

52 Der Tatbestand dieser Verletzung ist allein durch die Nichteinhaltung der betreffenden wesentlichen Formvorschrift erfuellt. Für die Verletzung spielt es daher keine Rolle, ob der angenommene, der zugestellte und der veröffentlichte Text voneinander abweichen und ob, wenn dies zutrifft, diese Abweichungen wesentlich sind. Aus diesem Grunde ist es ohne Bedeutung, daß die von der Klägerin genannten Abweichungen im Text ° "pour la Commission" und "par la Commission" bzw. das Fehlen der Nummer 63 ° als unbedeutend anzusehen sind.

53 Unabhängig von diesen Erwägungen ist daran zu erinnern, daß die Feststellung der Entscheidung im vorliegenden Fall nach der Erhebung der Klage erfolgt ist. Ein Organ kann nach Eingang des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes einen wesentlichen Formfehler der angefochtenen Entscheidung unmöglich durch eine einfache rückwirkende Berichtigung heilen. Dies gilt vor allem dann, wenn dem betroffenen Unternehmen wie im vorliegenden Fall durch die Entscheidung eine Geldbusse auferlegt worden ist. Eine Berichtigung nach Erhebung der Klage entzöge nämlich dem Angriffsmittel, mit dem das Versäumnis der Feststellung des Rechtsakts vor dessen Zustellung gerügt wird, nachträglich seine Grundlage. Eine solche Lösung verstieße wiederum gegen die Rechtssicherheit und die Interessen des einzelnen, der von einer Bußgeldentscheidung betroffen ist. Infolgedessen ist der Mangel, der sich aus der Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift ergibt, nicht durch die ein Jahr nach Klageerhebung erfolgte Feststellung des Rechtsakts geheilt worden.

54 Nach alledem greift die erste Rüge des Angriffsmittels, die die nicht ordnungsgemässe Feststellung des von der Kommission angenommenen Rechtsakts betrifft, durch. Infolgedessen ist die Entscheidung insgesamt für nichtig zu erklären, ohne daß auf das weitere Vorbringen der Klägerin zur Begründung ihrer Anträge auf Nichtigerklärung eingegangen zu werden braucht.

Kostenentscheidung:

Kosten

55 Gemäß Artikel 87 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen im wesentlichen unterlegen ist, sind ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, ohne daß die teilweise Klagerücknahme hinsichtlich des Antrags, die Entscheidung für inexistent zu erklären, zu berücksichtigen ist.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Entscheidung 91/299/EWG der Kommission vom 19. Dezember 1990 in einem Verfahren nach Artikel 86 EWG-Vertrag (IV/33.133-C: Soda ° Solvay) wird für nichtig erklärt.

2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

Ende der Entscheidung

Zurück