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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Beschluss verkündet am 29.09.1995
Aktenzeichen: T-381/94
Rechtsgebiete: EG-Vertrag


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 193
EG-Vertrag Art. 194
EG-Vertrag Art. 173
EG-Vertrag Art. 174
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Eine nationale Vereinigung, die die Interessen einer grossen Zahl von Rentnern vertritt, ist nicht von einem Beschluß des Rates über die Ernennung der Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialausschusses wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt. Zum einen werden die Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialausschusses nämlich als Vertreter verschiedener Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nicht zur Vertretung der Interessen der Vereinigungen ernannt, denen sie möglicherweise angehören, sie sind an keine Weisungen gebunden und üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus. Zum anderen ergibt sich aus dem Schutz allgemeiner Interessen keine Befugnis einer Vereinigung, Nichtigkeitsklage zu erheben.

Eine Organisation, die auf nationaler Ebene nur einen Teil einer in Artikel 193 des Vertrages genannten Gruppe und nicht die Gesamtheit dieser Gruppe vertritt, befindet sich nicht in einer Lage, die ihr ein Recht verleihen würde, vom Rat bei seiner Entscheidung über die Ernennung berücksichtigt zu werden.

Eine solche Organisation kann daher unter keinen Umständen als individuell betroffen im Sinne des Artikels 173 des Vertrages angesehen werden.


BESCHLUSS DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (ZWEITE KAMMER) VOM 29. SEPTEMBER 1995. - SINDACATO PENSIONATI ITALIANI, FEDERAZIONE NAZIONALE PENSIONATI UND UNIONE ITALIANA LAVORATORI PENSIONATI GEGEN RAT DER EUROPAEISCHEN UNION. - ERNENNUNG DER MITGLIEDER DES WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSSES - OFFENSICHTLICHE UNZULAESSIGKEIT - STREITHILFEANTRAG. - RECHTSSACHE T-381/94.

Entscheidungsgründe:

Rechtlicher Rahmen

1 Nach Artikel 193 EG-Vertrag wird ein Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: WSA) mit beratender Aufgabe errichtet, der aus Vertretern der verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, insbesondere der Erzeuger, der Landwirte, der Verkehrsunternehmer, der Arbeitnehmer, der Kaufleute und Handwerker, der freien Berufe und der Allgemeinheit besteht.

2 Artikel 194 Absatz 1 EG-Vertrag teilt die Sitze des WSA unter den Mitgliedstaaten auf. Nach Artikel 194 Absatz 2 werden die Mitglieder des WSA vom Rat durch einstimmigen Beschluß auf vier Jahre ernannt. Wiederernennung ist zulässig. Nach Artikel 194 Absatz 3 sind die Mitglieder des WSA an keine Weisungen gebunden und üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus.

3 Artikel 195 EG-Vertrag hat folgenden Wortlaut:

"(1) Zur Ernennung der Mitglieder des Ausschusses legt jeder Mitgliedstaat dem Rat eine Liste vor, die doppelt so viele Kandidaten enthält, wie seinen Staatsangehörigen Sitze zugewiesen sind.

Die Zusammensetzung des Ausschusses muß der Notwendigkeit Rechnung tragen, den verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens eine angemessene Vertretung zu sichern.

(2) Der Rat hört die Kommission. Er kann die Meinung der maßgeblichen europäischen Organisationen der verschiedenen Zweige des Wirtschafts- und Soziallebens einholen, die an der Tätigkeit der Gemeinschaft interessiert sind."

Sachverhalt und Verfahren

4 Es ist unter den Parteien unstreitig, daß Italien im Hinblick auf die unmittelbar bevorstehende Ernennung der Mitglieder des WSA für die Zeit vom 21. September 1994 bis zum 20. September 1998 dem Rat gemäß Artikel 195 Absatz 1 EG-Vertrag am 19. September 1994 eine Liste übermittelte, die doppelt so viele Kandidaten enthielt, wie Italien Sitze vorbehalten sind, wobei die eine Hälfte der Namen in erster Linie, die andere Hälfte alternativ vorgeschlagen wurde. Nachdem die Kommission in einem Dringlichkeitsverfahren gehört worden war, erließ der Rat am 26. September 1994 nach dem sogenannten Punkt-A-Verfahren den Beschluß 94/660/EG, Euratom über die Ernennung der Mitglieder des WSA für die Zeit vom 21. September 1994 bis zum 20. September 1998 (ABl. L 257, S. 20).

5 Zu den ernannten Personen gehörte Filippo de Jorio von der Alleanza dei pensionati.

6 Die Kläger, sämtlich Interessenvertretungen von italienischen Rentnern, haben die vorliegende Klage erhoben.

7 Mit am 10. Februar 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat der Rat eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben. Die Kläger haben am 16. März 1995 zu dieser Einrede der Unzulässigkeit Stellung genommen.

8 Mit am 4. April 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem Schriftsatz hat Herr de Jorio beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden.

Anträge der Parteien

9 Die Kläger beantragen,

° den Beschluß 94/660 vom 26. September 1994 gemäß den Artikeln 173 und 174 EG-Vertrag für nichtig zu erklären, soweit mit ihm Filippo de Jorio von der Alleanza dei pensionati ernannt worden ist;

° dem Rat die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

10 Der Rat beantragt,

° die Klage als unzulässig abzuweisen;

° den Klägern die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Zur Zulässigkeit

Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien

11 Der Beklagte macht geltend, die Kläger seien vom streitigen Beschluß nicht im Sinne des Artikels 173 Absatz 4 EG-Vertrag individuell betroffen.

12 Zunächst würden die Mitglieder des WSA nach den Artikeln 193 und 194 EG-Vertrag individuell als in voller Unabhängigkeit handelnde Vertreter von Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und nicht als Vertreter der Vereinigungen, denen sie angehörten, ernannt. Daher könne eine Vereinigung nicht von einem Beschluß über die Ernennung eines Mitglieds des WSA individuell betroffen sein.

13 Ausserdem hätten zum einen die fraglichen Vereinigungen keine Rolle bei der Ernennung der Mitglieder des WSA gespielt, und zum anderen sei eine Vereinigung in ihrer Eigenschaft als Vertreter einer Gruppe von Personen nach ständiger Rechtsprechung nicht individuell von einer Handlung betroffen, die die allgemeinen Interessen dieser Gruppe berühre.

14 Die Kläger heben demgegenüber die verfassungsrechtliche Bedeutung der Ernennung der Mitglieder des WSA für die Gemeinschaft hervor. Demgemäß bestehe ein allgemeines Interesse daran, daß die Mitglieder des WSA unter Einhaltung des EG-Vertrags ernannt würden.

15 Sodann entbinde die Tatsache, daß die Gruppe der Rentner in Artikel 193 EG-Vertrag nicht ausdrücklich vorgesehen, sondern der Allgemeinheit zuzuordnen sei, den Rat nicht von der Verpflichtung, eine angemessene Vertretung der Rentner zu sichern. Insbesondere müsse der Rat sich vergewissern, wenn er ein Mitglied zur Wahrung der Interessen der Rentner ernenne, daß der Ernannte zu deren angemessenen Vertretung fähig sei. Ziel der Klage sei es nicht, die Ernennung eines Repräsentanten der Kläger zum Mitglied des WSA zu erreichen, sondern ein Mitglied auszuschließen, dem selbst ein Mindestmaß an Repräsentativität fehle. Durch die Klage sollten die Interessen der Rentner, deren legitime Vertreter sie seien, und nicht ihre eigenen Interessen geschützt werden. In diesem Zusammenhang weisen die Kläger darauf hin, daß sie zu dritt die Interessen von mehr als viereinhalb Millionen italienischen Rentnern verträten.

16 Der Gerichtshof habe im Urteil vom 30. Juni 1988 in der Rechtssache 297/86 (CIDA u. a./Rat, Slg. 1988, 3531) nicht entschieden, daß Gruppen repräsentierende Organisationen nie zur Erhebung einer Klage gegen die Ernennung von Mitgliedern des WSA befugt seien, sondern nur festgestellt, daß sich die Organisation, um die es in dieser Rechtssache gegangen sei und die auf nationaler Ebene nur einen Teil der Gruppe der Arbeitnehmer und nicht die Gesamtheit dieser Gruppe vertreten habe, nicht in einer Lage befunden habe, die ihr ein Recht verliehen hätte, vom Rat bei seiner Entscheidung berücksichtigt zu werden. Die Rechtssache CIDA u. a./Rat unterscheide sich von der vorliegenden dadurch, daß in jener Rechtssache dem WSA ein weiteres Mitglied als Vertreter derselben Gruppe angehört habe. In der vorliegenden Rechtssache sei Herr de Jorio jedoch die einzige Person gewesen, die von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten zur Vertretung der Interessen der Rentner ernannt worden sei.

17 Im übrigen sei die Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft; die grösstmögliche Beteiligung natürlicher und juristischer Personen an den Verfahren der gerichtlichen Kontrolle sei eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für die Wahrung der Demokratie eines Rechtssystems. Nichtigkeitsklagen hätten den Zweck, die Beachtung des Rechts sicherzustellen, und diesem Zweck liefe es zuwider, wenn die Sachurteilsvoraussetzungen eng ausgelegt würden (Urteil des Gerichtshofes vom 11. November 1981 in der Rechtssache 60/81, IBM/Kommission, Slg. 1981, 2639).

18 Überdies sei der in Anspruch genommene Rechtsbehelf der einzige, der italienischen Rentnern zur Verfügung stehe, um geltend zu machen, daß die Ernennung von Herrn de Jorio mit dem EG-Vertrag nicht vereinbar sei. Wenn die vorliegende Klage für unzulässig erklärt würde, sei der Rat jeder gerichtlichen Überprüfung dieser Ernennung entzogen. Nach italienischem Recht könnten die Kläger die Liste der von der italienischen Regierung vorgeschlagenen Kandidaten nicht anfechten, da diese Liste nur Vorbereitungshandlung sei.

19 Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 23. April 1986 in der Rechtssache 294/83 (Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339) seien die in Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag genannten Voraussetzungen immer dann weit auszulegen, wenn die Klage betroffener Dritter zum Ziel habe, das ordnungsgemässe Funktionieren eines in die institutionelle Struktur der Gemeinschaft eingegliederten Organs sicherzustellen.

Würdigung durch das Gericht

20 Nach Artikel 111 der Verfahrensordnung kann das Gericht, wenn eine Klage offensichtlich unzulässig ist, ohne Fortsetzung des Verfahrens durch Beschluß entscheiden. Da die sich aus den Akten ergebenden Angaben ausreichen, beschließt das Gericht, das Verfahren nicht fortzusetzen.

21 Die Kläger sind nicht Adressaten des streitigen Beschlusses und können daher nur dann gemäß Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag eine Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluß erheben, wenn er sie unmittelbar und individuell betrifft.

22 Wer nicht Adressat einer Entscheidung ist, kann nach ständiger Rechtsprechung nur dann geltend machen, von dieser Entscheidung im Sinne des Artikels 173 EG-Vertrag individuell betroffen zu sein, wenn diese ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten (siehe zuletzt Urteil des Gerichts vom 6. Juli 1995 in den verbundenen Rechtssachen T-447/93, T-448/93 und T-449/93, AITEC u. a./Kommission, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).

23 Nach den Artikeln 193 und 194 EG-Vertrag werden die Mitglieder des WSA als Vertreter verschiedener Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nicht zur Vertretung der Interessen der Vereinigungen ernannt, denen sie möglicherweise angehören. Artikel 194 Absatz 3 schreibt unzweideutig vor, daß die Mitglieder des WSA an keine Weisungen gebunden sind und ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft ausüben.

24 Daher berührt der streitige Beschluß die Kläger nicht wegen persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände. Sie sind daher von diesem Beschluß nicht individuell betroffen.

25 Die Klage ist auch nicht deshalb zulässig, weil die Kläger eine grosse Zahl italienischer Rentner vertreten. Nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich aus dem Schutz allgemeiner Interessen keine Befugnis einer Vereinigung, Nichtigkeitsklage zu erheben (Urteil AITEC u. a./Kommission, a. a. O.).

26 Zudem hat der Gerichtshof besonders zur Ernennung der Mitglieder des WSA festgestellt, daß eine Organisation, die auf nationaler Ebene nur einen Teil einer in Artikel 193 EG-Vertrag genannten Gruppe und nicht die Gesamtheit dieser Gruppe vertritt, sich nicht in einer Lage befindet, die ihr ein Recht verleihen würde, vom Rat bei seiner Entscheidung über die Ernennung berücksichtigt zu werden, und daher nicht als individuell betroffen im Sinne des Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag angesehen werden kann (Urteil CIDA u. a./Rat, a. a. O., Randnr. 11).

27 Die Kläger aber, auch wenn sie die Interessen einer grossen Zahl italienischer Rentner vertreten, können doch nicht geltend machen, daß sie in Italien die Gesamtheit der in Artikel 173 EG-Vertrag genannten Gruppe "Allgemeinheit" repräsentieren. Infolgedessen sind sie nach dem vom Gerichtshof im Urteil CIDA u. a./Rat aufgestellten Grundsatz auch aus diesem Grunde nicht im Sinne des Artikels 173 EG-Vertrag individuell betroffen.

28 Die vorliegende Klage ist daher als offensichtlich unzulässig abzuweisen.

Zum Streithilfeantrag

29 Unter diesen Umständen braucht das Gericht über den Streithilfeantrag von Herrn de Jorio nicht zu entscheiden.

Kostenentscheidung:

Kosten

30 Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kläger mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten einschließlich der Kosten ihrer Stellungnahme zum Streithilfeantrag sowie der Kosten des Rates aufzuerlegen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

beschlossen:

1) Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2) Die Kläger tragen ihre eigenen Kosten sowie die Kosten des Beklagten.

Luxemburg, den 29. September 1995

Ende der Entscheidung

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