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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 01.08.1991
Aktenzeichen: T-52/91 R
Rechtsgebiete: EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG-Vertrag Art. 185
EWG-Vertrag Art. 186
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

Die Frage der Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung im Sinne des Artikels 104 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist danach zu beurteilen, ob die einstweilige Entscheidung erforderlich ist, damit der Antragsteller keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet.

Ein bloß finanzieller Schaden kann grundsätzlich dann nicht als nicht wiedergutzumachen angesehen werden, wenn ein späterer finanzieller Ausgleich möglich ist. Gleichwohl obliegt es dem Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung, die Umstände des Einzelfalls zu prüfen und aufgrund dessen zu untersuchen, ob der sofortige Vollzug der Entscheidung dem Antragsteller einen Schaden zufügt, der auch dann nicht wiedergutgemacht werden kann, wenn die Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache aufgehoben werden muß.


BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DER FUENFTE KAMMER DES GERICHTS ERSTER INSTANZ VOM 1. AUGUST 1991. - CARINE SMETS GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - VORLAEUFIGER RECHTSSCHUTZ. - RECHTSSACHE T-52/91 R.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

1 Die Antragstellerin hat mit Klageschrift, die am 27. Juni 1991 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, gemäß Artikel 90 Absatz 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut) in Verbindung mit Artikel 46 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Beschäftigungsbedingungen) Klage erhoben auf Aufhebung der ihr mit Schreiben vom 11. März 1991 bekanntgegebenen Entscheidung der Antragsgegnerin, mit der der auf unbestimmte Dauer geschlossene Vertrag über ihre Einstellung als Bedienstete auf Zeit zum 12. Juni 1991 gekündigt wurde.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am gleichen Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Antragstellerin ausserdem gemäß den Artikeln 185 und 186 EWG-Vertrag einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung über die Kündigung und auf Anordnung der Fortsetzung des Vertragsverhältnisses über ihre Beschäftigung als Bedienstete auf Zeit bis zum Abschluß des Verfahrens in der Hauptsache eingereicht.

3 Die Antragsgegnerin hat am 8. Juli 1991 schriftlich Stellung genommen. Die Parteien haben am 30. Juli 1991 mündlich verhandelt.

4 Vor der Prüfung der Begründetheit des vorliegenden Antrags auf einstweilige Anordnung ist die Vorgeschichte des Rechtsstreits kurz wiederzugeben.

5 Die Antragstellerin wurde ab 1. März 1984 zu einem Praktikum zur Ausbildung im gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst der Kommission zugelassen. Der Praktikantenvertrag war zunächst auf zwei Monate befristet. Er konnte zweimal um jeweils zwei Monate verlängert werden, sofern die Antragstellerin die vor jeder Vertragsverlängerung stattfindende Prüfung bestand.

6 Die Antragstellerin bestand die während des Praktikums durchgeführten Prüfungen in vollem Umfang, ebenso wie die Prüfung am Ende des Praktikums. Anschließend erhielt sie einen Arbeitsvertrag, durch den sie ab dem 1. Oktober 1984 als Bedienstete auf Zeit eingestellt und dem gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst in Brüssel als Hilfsdolmetscherin (Laufbahngruppe LA, Besoldungsgruppe 8) zugewiesen wurde. Es handelte sich um eine Beschäftigung im Sinne von Artikel 2 Buchstabe b der Beschäftigungsbedingungen. Der Vertrag hatte eine Dauer von zwei Jahren.

7 Während ihrer Tätigkeit aufgrund dieses Vertrages bestand die Antragstellerin die Prüfungen eines internen Auswahlverfahrens, was ihr den Aufstieg in die Besoldungsgruppe 7 der Laufbahngruppe LA erlaubte. Sie wurde zum 1. Oktober 1985 in diese Besoldungsgruppe als Dolmetscherin und als Bedienstete auf Zeit befördert.

8 Der Vertrag wurde am 1. Januar 1987 bis zum 31. Dezember 1987 verlängert.

9 Dann erhielt die Antragstellerin einen Arbeitsvertrag, durch den sie als Bedienstete auf Zeit für die Dauer von sechs Monaten ab dem 1. Januar 1988 eingestellt und dem gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst als Dolmetscherin (Laufbahngruppe LA, Besoldungsgruppe 7) zugewiesen wurde. Es handelte sich um eine Beschäftigung im Sinne von Artikel 2 Buchstabe a der Beschäftigungsbedingungen.

10 Mit Schreiben vom 24. Mai 1987 wurde dieser Vertrag bis zum 31. Dezember 1988 verlängert.

11 Anschließend wurde der Vertrag mit Schreiben vom 8. November 1988 auf unbestimmte Dauer verlängert. Dieses Schreiben enthält den folgenden Abschnitt: "Die Arbeitsbedingungen und die übrigen Bestimmungen des Vertrages bleiben unverändert. Es versteht sich von selbst, daß Sie sich für das erste Ihnen zugängliche Auswahlverfahren, das zur Einstellung von Dolmetschern/Hilfsdolmetschern durchgeführt wird, anmelden müssen. Falls Sie dieses Auswahlverfahren nicht bestehen, wird Ihr Vertrag aufgelöst."

12 Im Juni 1989 veröffentlichte die Kommission zwei Ausschreibungen interner Auswahlverfahren, von denen das erste - - KOM/LA/1/89 - zur Bildung einer Einstellungsreserve von Dolmetschern (LA 7/6), das zweite - KOM/LA/2/89 - zur Bildung einer Einstellungsreserve von Hilfsdolmetschern (LA 8) durchgeführt wurde. Die Antragstellerin meldete sich für das Auswahlverfahren KOM/LA/2/89 an. Am 25. November 1990 nahm sie am mündlichen Abschnitt des Auswahlverfahrens teil und legte Prüfungen im Konsekutivdolmetschen in Französisch-Niederländisch, Englisch-Niederländisch und Niederländisch-Französisch ab. Zu den übrigen Prüfungen des Auswahlverfahrens wurde sie nicht zugelassen.

13 Mit Schreiben vom 8. März 1991 wurde der Antragstellerin mitgeteilt, daß der Prüfungsausschuß sie nicht in das Verzeichnis der geeigneten Bewerber aufgenommen habe. Gegen diese Entscheidung erhob die Antragstellerin beim Gericht Klage, die unter der Nummer T-44/91 in das Register eingetragen wurde. Diese Rechtssache ist noch anhängig.

14 Mit Schreiben vom 11. März 1991 teilte der Generaldirektor für Personal und Verwaltung der Kommission der Antragstellerin mit, daß die Anstellungsbehörde beschlossen habe, ihr Beschäftigungsverhältnis als Bedienstete auf Zeit gemäß Artikel 5 des Arbeitsvertrages aufzulösen. Das Beschäftigungsverhältnis sollte unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist am Abend des 12. Juni 1991 beendet werden.

15 Die der Anstellungsbehörde eingeräumte Frist für die Beantwortung der Beschwerde der Antragstellerin vom 7. Juni 1991 gegen die Auflösung ihres Beschäftigungsverhältnisses als Bedienstete auf Zeit ist noch nicht abgelaufen. Das Verfahren zur Hauptsache vor dem Gericht ist gemäß Artikel 91 Absatz 4 des Statuts bis zu dem Zeitpunkt ausgesetzt, zu dem die Beschwerde ausdrücklich oder stillschweigend abgelehnt wird.

Entscheidungsgründe

16 Gemäß Artikel 104 § 2 der Verfahrensordnung muß ein Antrag auf Aussetzung des Vollzugs von Maßnahmen eines Organs eine eindeutige Bezeichnung des Streitgegenstands enthalten und die Umstände anführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen.

17 Zunächst stellt sich die Frage, ob die beantragte einstweilige Anordnung dringlich ist, so daß sie schon vor der Entscheidung zur Hauptsache ergehen muß, damit die Antragstellerin keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet.

18 Hierzu macht die Antragstellerin geltend, aus dem Umstand, daß die Entscheidung zur Hauptsache erwartungsgemäß erst nach einer längeren Frist ergehen könne, ergebe sich für sie ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden. Der zeitweilige beträchtliche Einkommensverlust, den sie erleide, habe für sie schwerwiegende Nachteile und verursache ihr angesichts der von ihr eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen und der Einkommenshöhe, an die sie seit mehr als sieben Jahren gewöhnt sei, einen schweren Schaden. Obwohl im Rahmen von anderen Rechtssachen ein finanzieller Schaden (oder die Gefahr eines solchen) nicht als schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden angesehen worden sei, gelte in Beamtensachen - zumindest im vorliegenden Fall - etwas anderes: Es handele sich nämlich um Einkünfte eines einzelnen, der von einem beträchtlichen Einkommensverlust, selbst wenn dieser nur zeitweiliger Natur sei, unmittelbar betroffen werde. Darüber hinaus sei der Gefahr eines Absinkens des beruflichen Niveaus der Antragstellerin während einer längeren Zeit der Untätigkeit grösste Bedeutung beizumessen. Sie müsse später unverhältnismässige Anstrengungen unternehmen, um den Mangel an täglicher Praxis und an Erfahrung zu beheben. Selbst wenn man annähme, daß sie - was nicht selbstverständlich sei - eine Beschäftigung ausserhalb der Dienststellen der Kommission finden könne, so stelle dies keine wirkliche Ersatzlösung dar, da die möglicherweise verfügbaren Beschäftigungen von wesentlich anderer Art seien. Die Kommission erleide keinerlei Schaden, wenn sie bis zur Entscheidung zur Hauptsache ihre Tätigkeit weiterhin ausübe.

19 Der Antragsgegnerin zufolge besitzt die Rechtssache dagegen keinerlei Dringlichkeit, da die Antragstellerin bis zum 26. Juni 1991, d. h. bis nach dem Wirksamwerden der Kündigung gewartet habe, bevor sie den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt habe. Überdies stelle der finanzielle Schaden, den die Antragstellerin infolge des Verlustes der Einkünfte erleide, die sie als Bedienstete auf Zeit bezogen habe, keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden dar. Die Antragstellerin habe nämlich gemäß Artikel 28a Absatz 3 der Beschäftigungsbedingungen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zu dem von der Antragstellerin angeführten Absinken ihres beruflichen Niveaus wendet die Antragsgegnerin ein, daß diese die Möglichkeiten einer Beschäftigung ausserhalb der Kommission unterschätze. Ausserdem habe sich die Antragstellerin noch nicht beim gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst als freiberufliche Dolmetscherin beworben.

20 Nach ständiger Rechtsprechung kann ein bloß finanzieller Schaden grundsätzlich dann nicht als nicht oder kaum wiedergutzumachen angesehen werden, wenn ein späterer finanzieller Ausgleich möglich ist. Gleichwohl obliegt es dem Gericht, unter Berücksichtigung des Interesses, das das betreffende Organ an der Durchführung der streitigen Entscheidung hat, die Umstände des Einzelfalles zu prüfen und aufgrund dessen zu untersuchen, ob der sofortige Vollzug der Entscheidung dem Antragsteller einen Schaden zufügt, der auch dann nicht wiedergutgemacht werden kann, wenn die Entscheidung im Verfahren zur Hauptsache aufgehoben werden muß.

21 Artikel 28 a Absatz 1 der Beschäftigungsbedingungen legt fest, daß der ehemalige Bedienstete auf Zeit, der nach dem Ausscheiden aus dem Dienst eines Organs der Europäischen Gemeinschaften arbeitslos ist, unter bestimmten Bedingungen ein monatliches Arbeitslosengeld erhält. Nach Artikel 28a Absatz 3 wird das Arbeitslosengeld während eines Anfangszeitraums von zwölf Monaten auf 60 % des Grundgehalts festgesetzt, vom 13. bis zum 18. Monat auf 45 % des Grundgehalts und vom 19. bis zum 24. Monat auf 30 % des Grundgehalts, wobei die auf diese Weise bestimmten Beträge nicht weniger als 30 000 BFR und nicht mehr als 60 000 BFR betragen dürfen. Gemäß Artikel 28a Absatz 5 der Beschäftigungsbedingungen hat der ehemalige Bedienstete auf Zeit, der Arbeitslosengeld bezieht, Anspruch auf die in Artikel 67 des Statuts vorgesehenen Familienzulagen und unter bestimmten Voraussetzungen auf die Sicherung im Krankheitsfall für ihn und seine Familienangehörigen.

22 In der mündlichen Verhandlung hat die Antragstellerin darauf hingewiesen, daß ihre monatlichen beruflichen Nettöinkünfte von insgesamt etwa 122 000 BFR auf 60 000 BFR (Arbeitslosengeld ohne Berücksichtigung der Familienzulagen und der Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder) fallen würden und daß sich daraus Liquiditätsprobleme ergäben. Darüber hinaus sinke ihr Lebensstandard.

23 Die Antragstellerin wird sicherlich einen recht beträchtlichen Verlust an beruflichen Einkünften erleiden. Daraus folgt jedoch nicht ohne weiteres ein schwerer und dauerhafter Schaden, selbst wenn sie - wie sie sagt - ein Hypothekendarlehen aufgenommen hat, bei dem die Rückzahlung von Monatsraten in Höhe von 50 000 BFR vorgesehen ist. Die Antragsgegnerin hat nämlich in der mündlichen Verhandlung bestätigt, daß die Antragstellerin monatlich das in der geltenden Regelung vorgesehene Arbeitslosengeld und die Familienzulagen erhalte. Im übrigen hat die Antragstellerin während des Verfahrens nicht bestätigt, und es ist auch nicht ersichtlich, daß der Verlust an beruflichen Einkünften, den sie erleidet, ihr tatsächlich schwerwiegende Liquiditätsprobleme bereitet.

24 Die Antragstellerin hat überdies geltend gemacht, daß sie dadurch einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleide, daß ihr berufliches Niveau als Dolmetscherin sinke, wenn sie ihren Beruf für längere Zeit nicht ausüben könne, und daß sie unverhältnismässige Anstrengungen werde unternehmen müssen, um ihren Mangel an Praxis zu beheben.

25 Das begründet jedoch keinen schweren und dauerhaften Schaden. Die Antragstellerin gibt nämlich an, daß es ihr grundsätzlich möglich wäre, ihr bisheriges berufliches Niveau als Dolmetscherin nach einer Zeit der Untätigkeit wieder zu erreichen. Hinzu kommt, daß sie ihr Niveau weitgehend halten kann, wenn sie eine Tätigkeit inner- oder ausserhalb der Dienststellen der Kommission ausübt und etwa als freiberufliche Dolmetscherin für den gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst arbeitet. Wie sie in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, hat sich die Antragstellerin jedoch nicht als freiberufliche Dolmetscherin beim gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst beworben. Insoweit ist auch zu bedenken, daß die aufgrund des Absinkens ihres beruflichen Niveaus vorübergehend verminderte Verfügbarkeit der Antragstellerin als Dolmetscherin insbesondere der Antragsgegnerin einen Schaden zufügen wird, falls die streitige Entscheidung im Rahmen des Verfahrens zur Hauptsache aufgehoben werden sollte.

26 Aus alledem folgt, daß die Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung, den Arbeitsvertrag der Antragstellerin zum 12. Juni 1991 zu kündigen, die den Gegenstand des vorliegenden Antrags bildet, jeder Dringlichkeit entbehrt. Dieser Antrag ist deshalb zurückzuweisen, ohne daß das übrige Vorbringen der Antragstellerin untersucht zu werden brauchte.

27 Die Kostenentscheidung muß vorbehalten bleiben, bis eine endgültige Entscheidung im Rahmen des Verfahrens zur Hauptsache ergangen ist.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DER FÜNFTEN KAMMER

in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten des Gerichts und im Verfahren der einstweiligen Anordnung

beschlossen:

1) Der Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung, mit der der Arbeitsvertrag der Antragstellerin zum 12. Juni 1991 gekündigt wurde, wird zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 1. August 1991.

Ende der Entscheidung

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