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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Beschluss verkündet am 30.11.1993
Aktenzeichen: T-549/93 R
Rechtsgebiete: EWG/EAG BeamtStat, EWG-Vertrag


Vorschriften:

EWG/EAG BeamtStat Art. 91
EWG-Vertrag Art. 185
EWG-Vertrag Art. 186
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

BESCHLUSS DES PRAESIDENTEN DES GERICHTS ERSTER INSTANZ VOM 30. NOVEMBER 1993. - D. GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - BEAMTE - VORLAEUFIGER RECHTSSCHUTZ - AUSSETZUNG DES VOLLZUGS - DISZIPLINARVERFAHREN - ENTFERNUNG AUS DEM DIENST. - RECHTSSACHE T-549/93 R

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt und Verfahren

1 Mit Klageschrift, die am 25. Oktober 1993 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Antragsteller gemäß Artikel 91 Absatz 4 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut) Klage auf Aufhebung der Entscheidung der Anstellungsbehörde vom 30. September 1993 erhoben, durch die gegen ihn gemäß Artikel 86 Absatz 2 Buchstabe f des Statuts die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung des Ruhegehaltsanspruchs verhängt wurde.

2 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Antragsteller ferner gemäß Artikel 91 Absatz 4 des Statuts einen Antrag auf einstweilige Anordnung zur Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung eingereicht.

3 Die Kommission hat ihre schriftliche Stellungnahme am 11. November 1993 abgegeben. Die Parteien haben am 17. November 1993 mündlich verhandelt.

4 Vor der Prüfung der Begründetheit des vorliegenden Antrags auf einstweilige Anordnung ist kurz auf die der Streitsache vorausgehenden Ereignisse einzugehen, wie sie sich aus den Schriftsätzen der Parteien und deren Erklärungen in der Sitzung ergeben.

5 Der Antragsteller wurde am 28. April 1988 zum Delegationsleiter der Kommission in (...) ernannt, wo er bis November 1991 tätig war. Seit dem 1. Dezember 1991 war er Delegationsleiter der Kommission in (...). Vorher war er Berater bei Delegationen der Kommission, und zwar von 1981 bis 1984 in (...) und von 1984 bis 1987 in (...), und sodann, von Januar bis April 1988, Delegationsleiter in (...).

6 Bei Ermittlungen der Generalinspektion der Delegationen der Kommission im Februar 1993 bei der Delegation in (...) wurde den Inspektoren eine Reihe von Anschuldigungen gegenüber dem Antragsteller zur Kenntnis gebracht, die sich auf die Zeit bezogen, als dieser als Delegationsleiter tätig war. Diese Anschuldigungen betrafen im wesentlichen sexuelle Belästigungen des weiblichen Personals der Delegation sowie verwaltungsmässige Unregelmässigkeiten, insbesondere ungerechtfertigte und diskriminierende Zahlungen an bestimmte Mitglieder des Personals und, allgemein, eine inkorrekte und mißbräuchliche Personal- und Sachverwaltung.

7 Am 4. Mai 1993 unterrichtete die Anstellungsbehörde den Antragsteller von der Eröffnung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn. Nach Anhörung des Antragstellers am 26. Mai 1993 enthob ihn die Anstellungsbehörde durch Entscheidung vom 28. Mai 1993 gemäß Artikel 88 des Statuts vorläufig seines Dienstes ohne Verlust seiner Bezuege.

8 Am 2. Juni 1993 beauftragte die Anstellungsbehörde den Berater bei der Generaldirektion für Personal und Verwaltung, Herrn Petersen, "an (ihrer) Stelle die Zeugen zu vernehmen, die sich gemeldet haben und sich in (...) befinden, sowie eine Untersuchung an Ort und Stelle vorzunehmen". Die Beschwerdeführerinnen und andere Mitglieder des örtlichen Personals wurden vom 7. bis 13. Juni 1993 angehört. Andere Beamte und sonstige Bedienstete, die in der Vergangenheit Arbeitsbeziehungen zu dem Antragsteller hatten, wurden ebenfalls befragt, und zwar vom 18. Juni bis 2. Juli 1993.

9 Nach Unterrichtung des Antragstellers am 29. Juni 1993 befasste die Anstellungsbehörde den Disziplinarrat mit der vorliegenden Sache durch Bericht vom 7. Juli 1993. In diesem Bericht wurde dem Antragsteller sexuelle Belästigung örtlicher weiblicher Bediensteter bei der Delegation der Kommission in (...) während der Zeit vorgeworfen, in der er von der Kommission entsandt worden war. Dagegen bezog sich der Bericht nicht auf die "schweren verwaltungsmässigen Unregelmässigkeiten", die vorher angeführt worden waren, wobei die Anstellungsbehörde erklärte, daß "in view of the nature of the allegations and of the evidence relating to them (it) dös not consider it appropriate, at this stage, to seize the Disciplinary Board in respect of them" ["angesichts der Art der Behauptungen und der betreffenden Beweise (sie) es im gegenwärtigen Stadium nicht für angebracht hält, den Disziplinarrat zu befassen"].

10 Mit Stellungnahme vom 27. Juli 1992 empfahl der Disziplinarrat der Anstellungsbehörde nach Kenntnisnahme aller zu den Akten genommener Schriftstücke und nach Anhörung des Antragstellers sowie von Herrn Petersen, "gegen Herrn (D.) die Disziplinarstrafe des Artikels 86 Absatz 2 Buchstabe f des Statuts, nämlich Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung des Ruhegehaltsanspruchs, zu verhängen". Bei seiner Anhörung durch den Disziplinarrat hatte der Antragsteller eine ergänzende kontradiktorische Untersuchung, insbesondere mit einer Gegenüberstellung und einem medizinischen Gutachten, beantragt. Dies wurde vom Disziplinarrat abgelehnt.

11 Nach erneuter Anhörung des Antragstellers am 29. Juli 1993 teilte ihm die Anstellungsbehörde mit Note vom 30. Juli 1993 mit, sie habe "beschlossen, (seinem) Antrag auf Gegenüberstellung mit jeder Beschwerdeführerin vor einer Entscheidung im Zusammenhang mit dem gegen (ihn) eingeleiteten Disziplinarverfahren stattzugeben. Die Ergebnisse dieser Gegenüberstellungen, die in den nächsten Wochen stattfinden, ergänzen die Stellungnahme des Disziplinarrats vom 27. Juli 1993 und werden zu den Akten genommen."

12 Die Gegenüberstellung des Antragstellers mit den drei Beschwerdeführerinnen und den jeweiligen Rechtsanwälten fand am 7. September 1993 statt. Am 15. September 1993 nahm die Anstellungsbehörde die abschließende Anhörung des Antragstellers gemäß Artikel 7 des Anhangs IX des Statuts vor.

13 Unter diesen Umständen verhängte die Anstellungsbehörde mit Entscheidung vom 30. September 1993 gegen den Antragsteller die Disziplinarstrafe der Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung des Ruhegehaltsanspruchs ab 1. Dezember 1993. In dieser Entscheidung vertritt die Anstellungsbehörde im wesentlichen die Auffassung, daß die dem Antragsteller zur Last gelegten Handlungen, die sich aus den Aussagen der Beschwerdeführerinnen ergäben, eine sehr schwere Verfehlung sowie eine Straftat des gemeinen Rechts darstellten, die in keiner Weise durch seinen Gesundheitszustand oder durch irgendwelche sonstige Umstände entschuldigt werden könnten.

Rechtslage

14 Gemäß Artikel 185 in Verbindung mit Artikel 186 EWG-Vertrag haben Klagen bei dem Gericht keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann jedoch, wenn es dies den Umständen nach für nötig hält, die Durchführung der angefochtenen Handlung aussetzen oder die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen.

15 Gemäß Artikel 104 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts hat der Antragsteller die Umstände anzuführen, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt; ferner ist die Notwendigkeit der beantragten Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft zu machen.

Vorbringen der Parteien

16 Zur Glaubhaftmachung der Notwendigkeit der Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung ist der Antragsteller im wesentlichen der Meinung, mehrere tatsächliche Umstände zeigten, daß zumindest die eingeleitete Erörterung ernsthaften Charakter habe und seine Auffassung gut begründet sei.

17 Hierzu macht der Antragsteller erstens geltend, die Anstellungsbehörde habe die Vorschriften über das Disziplinarverfahren verletzt, da sie die endgültige Entscheidung nach Ablauf der in Artikel 7 Absatz 3 des Anhangs IX des Statuts vorgesehenen Frist von einem Monat nach der Stellungnahme des Disziplinarrats oder der in Artikel 88 Absatz 3 des Statuts vorgeschriebenen Frist von vier Monaten nach Inkrafttreten der Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung getroffen habe.

18 Zweitens bemerkt der Antragsteller, die Anstellungsbehörde habe, als sie die angefochtene Entscheidung erlassen habe, nicht über eine ordnungsgemässe Stellungnahme des Disziplinarrats verfügt, da dieser seine Stellungnahme abgegeben habe, ohne über alle Teile der Akten, insbesondere die erst später durchgeführte kontradiktorische Ermittlung, zu verfügen. Unter diesen Umständen vertritt der Antragsteller die Auffassung, daß nicht nur das Verfahren rechtswidrig sei, sondern auch seine Verteidigungsrechte verletzt worden seien, da es ihm nicht möglich gewesen sei, alle seine Argumente vor der Stelle vorzubringen, die vor der Entscheidung der Anstellungsbehörde eine mit Gründen versehene Stellungnahme abzugeben habe.

19 Drittens wirft der Antragsteller der Anstellungsbehörde vor, nicht den Beweis der angeblichen Tatumstände erbracht zu haben, da sie die Aussagen der Beschwerdeführerinnen als Beweis für die streitigen Umstände gewertet habe und so die Verteidigungsrechte und den allgemeinen Grundsatz in dubio pro reo verletzt habe, der in der Rechtsordnung aller Mitgliedstaaten anerkannt sei. Der Antragsteller vertritt namentlich die Auffassung, daß die angefochtene Entscheidung keinerlei Begründung in bezug auf das Vorliegen der Tatsachen und deren Qualifizierung enthalte und sowohl der Entschließung 90/C 157/02 des Rates vom 29. Mai 1990 zum Schutz der Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz (ABl. C 157, S. 3) als auch der Empfehlung 92/131/EWG zuwiderlaufe, die die Kommission selbst am 27. November 1991 zum Schutz der Würde von Frauen und Männern am Arbeitsplatz erlassen habe und um deren Anhang über praktische Verhaltensregeln zur Bekämpfung sexueller Belästigungen (ABl. 1992, L 49, S. 1) es insbesondere gehe.

20 Der Antragsteller betont viertens, daß die ihm zur Last gelegten Verfehlungen zwei bis fünf Jahre nach der angeblichen Tatzeit und 15 Monate nach seinem Ausscheiden aus der Delegation angezeigt worden seien, bei der sich die Verfehlungen angeblich ereignet hätten, was schon unvereinbar mit dem Begriff der sexuellen Belästigung sei. Im übrigen stehe die Strafmaßnahme in keinem Verhältnis zu den ihm zur Last gelegten Verfehlungen, zumal die Anstellungsbehörde die Tatumstände nicht klar und unwiderlegbar nachgewiesen habe und sie zahlreiche Zeugenaussagen und in den Akten enthaltene Angaben nicht beachtet habe, die zeigten, daß die streitigen Handlungen nicht stattgefunden hätten. Daraus ergebe sich, daß die Anstellungsbehörde mit ihrer Disziplinarstrafe, die praktisch die schwerste sei, da er nicht mehr in den Genuß eines Ruhegehalts komme, die vorgenannte Empfehlung missachtet habe, die grundsätzlich ein abgestuftes Strafmaß vorsehe.

21 Schließlich verstösst die angefochtene Entscheidung nach Meinung des Antragstellers gegen den Grundsatz, daß eine Handlung nur dann strafbar sei, wenn sie von einer Person begangen werde, die für ihre Tat verantwortlich sei. Er betont hierzu, daß ihm das medizinische Gutachten, das er beim Disziplinarrat beantragt habe, um den Grad seiner Zurechnungsfähigkeit feststellen zu lassen, mit der Begründung verweigert worden sei, es sei keine psychische Störung erkennbar. Aber schon beim Lesen der von ihm angeblich begangenen Verfehlungen zeige sich das Gegenteil.

22 Bezueglich der Dringlichkeit macht der Antragsteller geltend, daß die angefochtene Entscheidung für ihn einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden sowohl finanzieller Art als auch für seinen Ruf, seine Ehre und seine Würde mit sich bringe.

23 Zu dem finanziellen Schaden betont der Antragsteller zunächst, daß er seit dem 1. Dezember 1993 arbeitslos sei und keinerlei Bezuege habe. Da er weniger als 10 Jahre Beamter der Kommission gewesen sei, könne er kein Ruhegehalt beziehen, sondern sich nur seinen persönlichen Beitrag zur Versorgung auszahlen lassen. Nach seinen Informationen handele es sich um ca. 1 000 000 BFR. In Anbetracht seiner hohen Kosten, vor allem im Zusammenhang mit seiner Vertretung in der vorliegenden Rechtssache und dem Studium eines seiner Söhne im Vereinigten Königreich, werde er bald mittellos und daher gezwungen sein, unter zwangsläufig schlechten Bedingungen Teile seines Familienvermögens zu veräussern.

24 Ferner sei zu bedenken, daß er, wenn die Entscheidung, deren Aussetzung er beantrage, sofort am 1. Dezember 1993 wirksam werde, er praktisch für Monate, ja sogar für Jahre nicht mehr seine frühere Tätigkeit aufnehmen könne, da seine Stelle notwendigerweise von einer anderen Person besetzt sein werde, die dafür ernannt werde, und er ausserdem gegenüber den Drittländern oder seiner eigenen Delegation nicht mehr tragbar wäre.

25 Bei der Schädigung seines Rufes, seiner Ehre und seiner Würde handele es sich um einen völlig irreparablen Schaden, denn selbst wenn später die angefochtene Entscheidung aufgehoben werde, wüssten alle Beamten der Europäischen Gemeinschaften, die Leiter der anderen Delegationen und sogar nicht den Gemeinschaftsorganen angehörende Personen von seiner Entfernung aus dem Dienst und den Gründen dafür.

26 Die Kommission vertritt die Auffassung, die rechtlichen Voraussetzungen für die vom Antragsteller beantragte einstweilige Anordnung seien nicht gegeben.

27 Zum Fumus boni iuris erklärt die Kommission, die Gründe und Argumente des Antragstellers seien nicht glaubhaft. Insbesondere sei nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts die Einmonatsfrist des Artikels 7 des Anhangs IX des Statuts keine Ausschlußfrist, und die abschließende Entscheidung der Anstellungsbehörde sei in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles innerhalb einer vernünftigen Frist ergangen. Der vom Antragsteller beanstandete Umstand, daß die abschließende Entscheidung mehr als vier Monate nach seiner vorläufigen Dienstenthebung ergangen sei, stellt nach Meinung der Kommission keinen wesentlichen Rechtsverstoß dar, der geeignet wäre, die Aufhebung der streitigen Entscheidung zu bewirken. Die einzige "Sanktion", die Artikel 88 Absätze 3 und 4 des Statuts bei Überschreiten der Viermonatsfrist auferlege, sei die, daß der Betroffene wieder seine Dienstbezuege und ferner die unter Umständen einbehaltenen Beträge erhalte. Die Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung des Antragstellers habe jedoch ausdrücklich vorgesehen, daß er während dieser Dienstenthebung seine Bezuege weiter erhalte. Jedenfalls könne man der Kommission nicht vorwerfen, mit der abschließenden Entscheidung zu lange gewartet zu haben, da die Viermonatsfrist nur um drei Tage überschritten worden sei und diese Überschreitung darauf zurückzuführen sei, daß insbesondere durch die vom Antragsteller beantragte Gegenüberstellung ein grösstmöglicher Schutz der Verteidigungsrechte habe erreicht werden sollen.

28 Auch der Umstand, daß der Disziplinarrat bei Abgabe seiner Stellungnahme nicht den gesamten Akteninhalt, vor allem bezueglich der Gegenüberstellung des Antragstellers mit den Beschwerdeführerinnen, berücksichtigt habe, könne keine Rechtswidrigkeit darstellen, die geeignet wäre, die Ordnungsmässigkeit des Verfahrens und der abschließenden Entscheidung zu beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang erinnert die Kommission daran, daß der Disziplinarrat beschlossen habe, keine Gegenüberstellung der Parteien vorzunehmen und kein medizinisches Gutachten für den Antragsteller anzuordnen, da er der Meinung gewesen sei, hinreichend unterrichtet zu sein. Ausserdem sei die Anstellungsbehörde nicht gehalten gewesen, eine derartige Gegenüberstellung vorzunehmen, und diese habe jedenfalls zu keinen neuen Ergebnissen geführt.

29 Die Kommission erklärt ferner, die Behauptung des Antragstellers, es liege eine fehlerhafte Qualifizierung seines ihm vorgeworfenen Verhaltens als sexuelle Belästigung vor, sei nicht begründet. Abgesehen davon, daß die rechtliche Qualifizierung des vorgeworfenen Verhaltens gegenüber den Tatsachen jedenfalls zweitrangig sei, könne man hier nicht das Vorhandensein eines hierarchischen Zwanges leugnen.

30 Bezueglich der Rüge des fehlenden abgestuften Strafmasses, das in solchen Fällen angewendet werden könne, betont die Kommission zunächst, daß ihre Empfehlung vom 27. November 1991 keineswegs zwingend sei; sie macht ferner geltend, daß das Statut kein feststehendes Strafmaß im Verhältnis zu einer bestimmten Disziplinarverfehlung vorsehe und die Unterwerfung der Anstellungsbehörde unter eine derartige Verpflichtung unter solchen Umständen zu einer Verneinung des Grundsatzes führen würde, daß die Anstellungsbehörde die Disziplinarmaßnahme zu bestimmen habe, wenn der dem Beamten zur Last gelegte Sachverhalt nachgewiesen sei.

31 Zur Frage der Dringlichkeit vertritt die Kommission die Auffassung, daß der Antragsteller nicht die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens dargetan habe.

32 Hinsichtlich des behaupteten finanziellen Schadens sei festzustellen, daß der Antragsteller bei einer etwaigen Aufhebung der streitigen Entscheidung durch das Gericht alle Beträge beanspruchen könne, die er vom 1. Dezember 1993 bis zu seiner Wiederverwendung hätte beziehen müssen. Jedenfalls erhalte er schon jetzt ca. 1 300 000 BFR entsprechend den Versorgungsbeiträgen, die er während seiner Dienstzeit bei der Kommission als Beamter geleistet habe. Darüber hinaus könne er ein belgisches Ruhegehalt im Alter von 62 Jahren beanspruchen. Schließlich habe der Antragsteller nicht nachgewiesen, daß er bis zum Urteil Teile seines Familienvermögens veräussern müsse. Zu den Kosten, die mit dem Studium seines Sohnes im Vereinigten Königreich verbunden seien, sei zu sagen, daß dieser ein Stipendium der Regierung des Vereinigten Königreichs erhalte und von der Universität Sussex preisgünstig zu 350 UKL untergebracht werde. In der Sitzung hat die Kommission noch hinzugefügt, daß der Antragsteller ausser dem Betrag, der seinen Versorgungsbeiträgen entspreche, noch ca. 1 000 000 BFR für nicht genommene Urlaubstage erhalte. Nach einem Schriftstück vom 19. November 1993, das die Kommission dem Gericht übermittelt hat, handelt es sich hierbei um 1 086 828 BFR entsprechend 86 vom Antragsteller zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Dienst nicht genommenen Urlaubstagen.

33 Zu dem nichtfinanziellen Schaden erklärt die Kommission, daß die vorliegende Angelegenheit sowohl bei der Verwaltung als auch auf hierarchischer Ebene sorgfältig behandelt worden sei, um in jeder Hinsicht eine Schädigung des beruflichen Images und Rufes und der beruflichen Würde des Antragstellers zu vermeiden. Im übrigen stehe auch die Glaubwürdigkeit des Organs, insbesondere bei den Drittländern, in denen der Antragsteller tätig gewesen sei, jeder öffentlichen Verbreitung dieser Angelegenheit entgegen. Zu der Rüge, daß der Antragsteller nicht mehr auf die Stelle eines Delegationsleiters zurückkehren könne, wenn das Gericht seiner Klage stattgebe, bemerkt die Kommission schließlich, ohne die Möglichkeit einer Wiederverwendung des Antragstellers im Rahmen seiner früheren Tätigkeit auszuschließen, daß ein Beamter nach ständiger Rechtsprechung keinen Anspruch auf Zuweisung oder Beibehaltung eines bestimmten Dienstpostens habe, da die Organe über ein weites Ermessen bei der Organisation ihrer Dienststellen und der Verwendung ihres Personals verfügten.

Würdigung durch den Richter der einstweiligen Anordnung

Zum Fumus boni iuris

34 Um einen Fumus boni iuris festzustellen, muß der Richter der einstweiligen Anordnung prüfen, ob die vom Antragsteller zur Unterstützung seiner Anfechtungsklage vorgetragenen Gründe und Argumente in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ernsthaften Charakter haben.

35 Hierzu ist erstens festzustellen, daß sich die angefochtene Entscheidung auf die Erklärung beschränkt, es werde dem Antragsteller "sexuelle Belästigung örtlicher weiblicher Bediensteter während der Zeit, in der er von der Kommission nach (...) entsandt worden ist", vorgeworfen, ohne daß jedoch Näheres bezueglich des Ortes, der Umstände, der Dauer und der Regelmässigkeit der Handlungen angegeben wird, die die Disziplinarverfehlung darstellen.

36 Zweitens ist festzustellen, daß der streitige Sachverhalt nach der angefochtenen Entscheidung aus den Aussagen der Beschwerdeführerinnen hervorging und von diesen sowohl bei den Ermittlungen im Rahmen des Disziplinarverfahrens als auch bei der Gegenüberstellung mit dem Antragsteller bestätigt wurde. Die Entscheidung enthält jedoch keine Bezugnahme auf die Zeugenaussagen während des Disziplinarverfahrens, die die Aussagen der Beschwerdeführerinnen bestätigen oder widerlegen könnten.

37 Drittens ist zu betonen, daß die angefochtene Entscheidung sehr summarisch bezueglich der Überlegungen ist, die die Anstellungsbehörde zu der von ihr gewählten Disziplinarmaßnahme veranlasst haben, obwohl es sich hier um eine der schwersten Disziplinarstrafen handelt, nämlich die Entfernung aus dem Dienst ohne Aberkennung des Ruhegehaltsanspruchs. Die Entscheidung beschränkt sich nämlich zum einen darauf, die streitigen Handlungen als "sehr schwere Verfehlung" und "Straftat des gemeinen Rechts" zu bezeichnen, ohne aber anzugeben, um welche Straftat es sich dabei handelt, und zum anderen auf die Erklärung, daß die Qualität der Arbeit des Antragstellers "keinerlei Einfluß im Verhältnis zu den ihm zur Last gelegten Handlungen" habe und sein Verhalten "in keiner Weise durch seinen Gesundheitszustand oder durch irgendwelche sonstige Umstände entschuldigt werden" könne.

38 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache T-115/89, González Holgüra/Parlament, Slg. 1990, II-831, Randnrn. 42 bis 45) soll die Pflicht zur Begründung jeder nach Maßgabe des Statuts getroffenen individuellen Entscheidung zum einen dem Betroffenen die notwendigen Hinweise für die Feststellung geben, ob die Entscheidung begründet ist, und zum anderen die richterliche Kontrolle ermöglichen. Damit das Gericht diese Kontrolle ausüben kann, ist es unerläßlich, daß sich aus den Begründungserwägungen einer Entscheidung über eine Disziplinarstrafe die dem Beamten zur Last gelegten konkreten Handlungen sowie die Überlegungen ergeben, die die Anstellungsbehörde dazu veranlasst haben, die gewählte Sanktion zu verhängen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 29. Januar 1985 in der Rechtssache 228/83, F./Kommission, Slg. 1985, 275).

39 Im übrigen ist zu bemerken, daß die Anstellungsbehörde nach der mit Gründen versehenen Stellungnahme des Disziplinarrats eine Gegenüberstellung des Antragstellers mit den Beschwerdeführerinnen beschlossen hat. Sie hat jedoch beschlossen, nach dieser Gegenüberstellung nicht erneut den Disziplinarrat zu befassen. Daraus ergibt sich zum einen, daß der Antragsteller demnach nicht in der Lage war, vor dem Disziplinarrat schriftlich oder mündlich zu einem Teil der Ergebnisse der von der Anstellungsbehörde vorgenommenen Ermittlungen Stellung zu nehmen, und zum anderen, daß der Disziplinarrat nicht über alle Teile der Disziplinarakte verfügte, als er seine mit Gründen versehene Stellungnahme abgab.

40 In Anbetracht dieser Erwägungen ist der Richter der einstweiligen Anordnung, ohne daß dies einer Entscheidung über die Rechtmässigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitigen Rechtsakts in irgendeiner Weise vorgreift, der Auffassung, daß die Anhaltspunkte, über die er im derzeitigen Verfahrensstadium verfügt, sowohl hinsichtlich des Nachweises und der Qualifizierung der Tatumstände durch die Anstellungsbehörde als auch der Wahrung der Verteidigungsrechte während des Disziplinarverfahrens eine ernsthafte Grundlage für die Argumente des Antragstellers zur Unterstützung seiner Klage auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung darstellen können.

41 Es ist daher zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung geeignet ist, die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für den Antragsteller mit sich zu bringen, die es rechtfertigt, den Vollzug dieser Entscheidung auszusetzen oder eine andere einstweilige Anordnung zu treffen.

Zu der Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens

42 Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 13. Mai 1993 in der Rechtssache T-24/93 R, CMBT/Kommission, Slg. 1993, II-543, Randnr. 31) ist die Dringlichkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung im Verhältnis zu der Notwendigkeit zu beurteilen, eine vorläufige Entscheidung zu treffen, um einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Partei zu vermeiden, die die einstweilige Anordnung beantragt hat. Die Partei, die die Aussetzung der angefochtenen Entscheidung beantragt, hat zu beweisen, daß sie nicht den Ausgang des Verfahrens zur Hauptsache abwarten kann, ohne einen Schaden zu erleiden, der schwere und nicht wiedergutzumachende Folgen hätte.

43 Bei dem Schaden, der sich aus der Schädigung des Rufes, der Ehre und der Würde des Antragstellers ergibt, ist vorab festzustellen, daß es für den Richter der einstweiligen Anordnung schwierig ist, seinen irreparablen oder kaum wiedergutzumachenden Charakter zu beurteilen, da es sich dabei um einen nichtfinanziellen Schaden handelt. Unter diesen Umständen muß der Richter der einstweiligen Anordnung eine sorgfältige Abwägung der Interessen der Parteien vornehmen, um feststellen zu können, ob die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen ist. In dieser Hinsicht obliegt es dem Richter der einstweiligen Anordnung, einerseits den vom Antragsteller behaupteten schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden und andererseits das Interesse der Kommission daran gegeneinander abzuwägen, nicht ein Dienstverhältnis aufrechterhalten zu müssen, wenn ein Beamter nach einem Disziplinarverfahren wegen einer als äusserst schwerwiegend bezeichneten Verfehlung aus dem Dienst entfernt wurde.

44 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, daß sich der vom Antragsteller behauptete Schaden, der sich angeblich aus der Schädigung seines Rufes, seiner Ehre und seiner Würde ergibt, bereits im wesentlichen konkretisiert hat. Insbesondere bezueglich des vom Antragsteller geltend gemachten Umstands, daß er, selbst wenn die angefochtene Entscheidung später aufgehoben würde, seine Tätigkeit bei der Delegation der Kommission in (...) nicht wiederaufnehmen könne, da seine Entfernung aus dem Dienst allgemein bekannt sei, genügt die Feststellung, daß der Antragsteller am 28. Mai 1993 vorläufig seines Dienstes als Delegationsleiter der Kommission in (...) enthoben wurde und bereits mit seiner persönlichen Habe von (...) nach (...) umgezogen ist. Jedenfalls könnte eine etwaige Aussetzung der angefochtenen Entscheidung den Ruf, die Ehre und die Würde des Antragstellers nicht in höherem Masse wiederherstellen als künftig eine etwaige Aufhebung der Entscheidung bei Abschluß des Verfahrens zur Hauptsache.

45 Zu dem vom Antragsteller geltend gemachten finanziellen Schaden ist festzustellen, daß nach ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Beschluß des Präsidenten des Gerichts vom 29. September 1993 in der Rechtssache T-497/93 R II, Hogan/Gerichtshof, Slg. 1993, II-1005) ein bloß finanzieller Schaden grundsätzlich dann nicht als irreparabel oder kaum wiedergutzumachen angesehen werden kann, wenn ein späterer finanzieller Ausgleich möglich ist.

46 Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller im Fall einer etwaigen Aufhebung der angefochtenen Entscheidung durch das Gericht Anspruch auf Zahlung aller Beträge, die er vom 1. Dezember 1993 bis zu seiner Wiederaufnahme in den Dienst hätte beziehen müssen.

47 Der Richter der einstweiligen Anordnung muß jedoch nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls prüfen, ob der sofortige Vollzug der angefochtenen Entscheidung für den Antragsteller einen schweren und unmittelbar bevorstehenden Schaden herbeiführen kann, den selbst die Aufhebung der Entscheidung bei Abschluß des Verfahrens zur Hauptsache nicht mehr wiedergutmachen könnte.

48 Insoweit ist zu bemerken, daß der Antragsteller mit Inkrafttreten der angefochtenen Entscheidung 1 326 536 BFR als Rückzahlung seiner Ruhegehaltsbeiträge erhält; hinzu kommen 1 086 828 BFR für nicht genommene Urlaubstage, was einen Gesamtbetrag von ca. 2 400 000 BFR ergibt.

49 Dieser Betrag, der ca. acht Grundgehältern eines Beamten der Besoldungsgruppe und Dienstalterstufe des Antragstellers (A 4, Dienstalterstufe 5, 308 681 BFR) entspricht, muß es dem Antragsteller normalerweise gestatten, seinen gesamten Lebensunterhalt und den seiner Familie bis zum Erlaß des Urteils des Gerichts zu bestreiten. Daraus ergibt sich, daß im Unterschied zu den Feststellungen des Gerichtshofes in seinen Beschlüssen vom 3. Juli 1984 (Beschluß des Präsidenten der Dritten Kammer in der Rechtssache 141/84 R, De Compte/Parlament, Slg. 1984, 2575) und vom 13. April 1987 (Beschluß des Präsidenten der Vierten Kammer in der Rechtssache 90/87 R, C. W./Rechnungshof, Slg. 1987, 1801) der Vollzug der angefochtenen Entscheidung auf den ersten Blick keinen schweren und unmittelbar bevorstehenden finanziellen Schaden für den Antragsteller mit sich bringen kann.

50 Auf jeden Fall ist festzustellen, daß ein Beschluß im Verfahren der einstweiligen Anordnung gemäß Artikel 108 der Verfahrensordnung jederzeit auf Antrag einer Partei wegen veränderter Umstände abgeändert oder aufgehoben werden kann. Es obliegt gegebenenfalls dem Antragsteller, sich an das Gericht zu wenden, falls er sich wegen einer etwaigen Verlängerung des Verfahrens in einer finanziellen Lage befindet, die ihm einen unmittelbar bevorstehenden Schaden verursachen kann, der keinen Aufschub bis zum Abschluß des Verfahrens zur Hauptsache duldet.

51 Unter diesen Umständen ist der Antrag auf Aussetzung der angefochtenen Entscheidung beim gegenwärtigen Verfahrensstand zurückzuweisen.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DER PRÄSIDENT DES GERICHTS

beschlossen:

1) Der Antrag auf einstweilige Anordnung wird zurückgewiesen.

2) Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.

Luxemburg, den 30. November 1993

Ende der Entscheidung

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