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Beginn der Entscheidung

Gericht: Europäisches Gericht
Urteil verkündet am 18.12.1992
Aktenzeichen: T-85/91
Rechtsgebiete: EWG/EAG BeamtStat, ADB


Vorschriften:

EWG/EAG BeamtStat Art. 90 Abs. 1
EWG/EAG BeamtStat Art. 2 Abs. 4 des Anhangs VII
ADB Art. 4 Abs. 1
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

1. Wenn die Anwendung einer Statutsbestimmung von der Anwendung einer Rechtsvorschrift abhängt, die zur Rechtsordnung eines der Mitgliedstaaten gehört, liegt es im Interesse einer geordneten Rechtspflege und einer genauen Anwendung des Statuts, daß sich die Kontrolle des Gerichts auch auf die Anwendung des nationalen Rechts eines der Mitgliedstaaten durch die Anstellungsbehörde eines Gemeinschaftsorgans erstreckt.

2. Nach Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts hat die Gleichstellung einer Person, der gegenüber einen Beamten eine gesetzliche Unterhaltspflicht trifft und deren Unterhalt ihn mit erheblichen Ausgaben belastet, Ausnahmecharakter. Daher ist die Voraussetzung, daß den Beamten eine gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber einer anderen Person als einem unterhaltsberechtigten Kind trifft, eng auszulegen.

Der Begriff "gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet" im Sinne des Statuts orientiert sich an den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die den Eltern und/oder den näheren oder entfernteren Verwandten eine gegenseitige gesetzliche Verpflichtung zum Unterhalt auferlegen. Deshalb ist dieser Begriff so auszulegen, daß nur auf die Unterhaltspflicht eines Beamten abgestellt wird, deren rechtlicher Ursprung vom Willen der Parteien unabhängig ist, und daß er daher die Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen ausschließt, bei denen es sich um vertragliche Verpflichtungen, Naturalobligationen oder Schadensersatzpflichten handelt.

Da weder das Gemeinschaftsrecht noch das Statut dem Gemeinschaftsrichter Hinweise liefern, anhand deren er durch eine autonome Auslegung den Inhalt und die Tragweite der gesetzlichen Unterhaltspflicht ermitteln könnte, aufgrund deren einem Beamten die Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts gewährt werden kann, ist zu ermitteln, ob die nationale Rechtsordnung, der der betroffene Beamte unterliegt, ihm eine solche Unterhaltspflicht auferlegt.

3. Den Begriffen einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Erläuterung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, ist in der Regel in der gesamten Gemeinschaft eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels zu ermitteln ist. Fehlt jedoch eine ausdrückliche Verweisung, so kann die Anwendung des Gemeinschaftsrechts gegebenenfalls eine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten einschließen, wenn der Gemeinschaftsrichter dem Gemeinschaftsrecht oder den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts keine Anhaltspunkte entnehmen kann, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite des Gemeinschaftsrechts durch eine autonome Auslegung zu ermitteln.


URTEIL DES GERICHTS ERSTER INSTANZ (VIERTE KAMMER) VOM 18. DEZEMBER 1992. - LILIAN R. KHOURI GEGEN KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN. - BEAMTE - ZULAGE FUER UNTERHALTSBERECHTIGTE KINDER - EINEM UNTERHALTSBERECHTIGTEN KIND GLEICHGESTELLTE PERSON - GESETZLICHE UNTERHALTSPFLICHT. - RECHTSSACHE T-85/91.

Entscheidungsgründe:

Sachverhalt

1 Die Klägerin, die in Belgien wohnt, wurde von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften als Hilfskraft für zwölf Monate vom 16. Oktober 1990 an eingestellt. Ihr Neffe Christian Khouri, geboren am 7. Juni 1972, war ihr vom September 1989 an von seinen Eltern, die im Libanon wohnen, wegen der unsicheren Lage, in der sich dieses Land seit mehreren Jahren befindet, anvertraut worden. Er besucht ein Gymnasium in Anderlecht (Belgien). Die Klägerin macht geltend, daß sie vollständig für seinen Unterhalt aufkomme. Um die Aufnahme ihres Neffen in das Ausländerverzeichnis der Gemeinde Anderlecht zu erreichen, habe sie sich gezwungen gesehen, eine Erklärung über eine "Unterhaltsverpflichtung" zu unterzeichnen, wonach sie gegenüber dem belgischen Staat verpflichtet sei, alle Kosten der Gesundheitsfürsorge, des Aufenthalts und der Rückreise ihres Neffen zu tragen. Vor ihrem Dienstantritt bei der Kommission habe ihr aufgrund dieser Unterhaltsverpflichtung ein Steuerfreibetrag nach belgischem Recht zugestanden, weil ihr Neffe für die Berechnung der Einkommensteuer einem unterhaltsberechtigten Kind gleichgestellt worden sei. Damals habe ihr die Kasse für Familienbeihilfen, der sie angeschlossen gewesen sei, ausserdem für ihren Neffen Familienbeihilfen gewährt.

2 Mit Schreiben an die Kommission vom 20. Februar 1991 stellte die Klägerin nach Artikel 90 Absatz 1 des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (im folgenden: Statut) einen Antrag, ihren Neffen nach Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts einem unterhaltsberechtigten Kind gleichzustellen; die genannte Bestimmung lautet: "Dem unterhaltsberechtigten Kind kann ausnahmsweise durch besondere mit Gründen versehene und auf beweiskräftige Unterlagen gestützte Verfügung der Anstellungsbehörde jede Person gleichgestellt werden, der gegenüber der Beamte gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist und deren Unterhalt ihn mit erheblichen Ausgaben belastet."

3 Mit Schreiben vom 24. April 1991 (das irrtümlich das Datum des 24. Juni 1991 trägt), das beim Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 2. Mai 1991 einging, unterrichtete der Leiter der Verwaltungseinheit "Individülle Ansprüche" der Kommission die Klägerin von der Ablehnung ihres Antrags. Die Ablehnung war wie folgt begründet: "Nach dem belgischen Code ist der Neffe von Frau Khouri keine Person, der gegenüber die Betroffene im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist; er fällt daher nicht in den Anwendungsbereich dieses Artikels."

4 Am 16. Mai 1991 erließ der Juge de paix Anderlecht in einem Rechtsstreit des Christian Khouri als Kläger gegen Lilian Khouri als Beklagte ein Urteil, in dessen Tenor es wie folgt heisst:

"...

Der Betrag der Unterhaltsrente, die die Beklagte dem Kläger schuldet, wird auf fünfzehntausend Franken monatlich festgesetzt; soweit erforderlich wird die Beklagte für den Fall, daß sie ihre freiwilligen Leistungen einstellt, verurteilt, dem Kläger monatlich mit Wirkung vom 1. Mai 1991 als Unterhaltsrente fünfzehntausend Franken zu zahlen..."

Der Juge de paix begründete seine Entscheidung wie folgt:

"...

Eine Unterhaltspflicht zwischen Verwandten in der Seitenlinie ist zwar gesetzlich nicht vorgesehen, doch kann die Beihilfe zum Unterhalt, die sie einander gewähren, als Naturalobligation angesehen werden, die in eine zivilrechtliche Verpflichtung umgewandelt werden kann...

Die Beklagte hat sich freiwillig gegenüber ihrem Bruder verpflichtet, sich um ihren Neffen zu kümmern, und sie erfuellt diese Verpflichtung seit beinahe zwei Jahren.

Diese Naturalobligation, die auf Gefühlsbindungen beruht, kann als in vollem Umfang von der Beklagten in eine zivilrechtliche Verpflichtung umgewandelt betrachtet werden, deren Erfuellung bei einer Einstellung der freiwilligen Leistungen gerichtlich durchgesetzt werden kann..."

5 Mit Schreiben vom 24. Juli 1991 an die Kommission legte die Klägerin eine Beschwerde nach Artikel 90 Absatz 2 des Statuts gegen die Entscheidung vom 24. April 1991 ein.

6 Die Verwaltung hörte die Klägerin und ihren Prozeßbevollmächtigten in einer Sitzung am 9. Oktober 1991 an. Die Beschwerde vom 24. Juli 1991 wurde von der Kommission nicht ausdrücklich beantwortet.

Verfahren

7 Unter diesen Umständen hat die Klägerin mit Klageschrift, die am 26. November 1991 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage auf Aufhebung der Entscheidung der Kommission vom 24. April 1991 erhoben.

8 Im schriftlichen Verfahren hat die Klägerin auf die Einreichung einer Erwiderung gemäß Artikel 47 der Verfahrensordnung des Gerichts verzichtet.

9 Das Gericht hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.

10 Die mündliche Verhandlung hat am 7. Juli 1992 stattgefunden. Die Parteivertreter haben mündlich verhandelt und die Fragen des Gerichts beantwortet.

11 Die Klägerin beantragt,

° die Entscheidung, mit der die Gleichstellung ihres Neffen mit einem unterhaltsberechtigten Kind abgelehnt wurde, aufzuheben;

° der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

12 Die Beklagte beantragt,

° die Klage als unzulässig oder jedenfalls unbegründet abzuweisen;

° über die Kosten nach der Rechtslage zu entscheiden.

13 Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, daß zwischen ihrem Neffen und ihr kein Streit bestehe und daß sie den Juge de paix Anderlecht nur zu dem Zweck angerufen habe, ein Urteil zu erwirken, aus dem hervorgehe, daß sie nach belgischem Recht eine zivilrechtliche Unterhaltspflicht zu erfuellen habe.

Zulässigkeit

Vorbringen der Parteien

14 Die Beklagte führt zunächst aus, daß die Klägerin ihre Anfechtungsklage auf "die fehlerhafte Auslegung des belgischen Rechtsbegriffs der 'gesetzlichen Unterhaltspflicht' durch die Beklagte und deshalb auf einen Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Beamtenstatuts" stütze. Das Gericht sei jedoch nicht für die Aufhebung einer Entscheidung zuständig, mit der ein Begriff des nationalen Rechts ausgelegt werde, und die Klage sei daher als ausschließlich auf einen Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts gestützt und somit als unzulässig anzusehen.

15 Zur Begründung ihre Rüge der Unzulässigkeit macht die Beklagte geltend, daß Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts der Anstellungsbehörde bei der Beurteilung des Vorbringens zur Begründung von Anträgen auf Gleichstellung einer Person, der gegenüber der Beamte zum Unterhalt verpflichtet ist, mit einem unterhaltsberechtigten Kind ein Ermessen einräume (vgl. Urteil des Gerichts vom 14. Dezember 1990 in der Rechtssache T-75/89, Brems/Rat, Slg. 1990, II-899). Daher könne die Ablehnung des Gleichstellungsantrags der Klägerin keinen Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts, die einzige Bestimmung, die im vorliegenden Fall streitig sei, darstellen, denn dieser Artikel verleihe der Anstellungsbehörde gerade auch dann ein Ermessen, wenn die Voraussetzungen für seine Anwendung erfuellt seien. Die Entscheidung, die die Anstellungsbehörde in diesem Rahmen treffe, könne als solche nicht zur Rechtswidrigkeit führen.

16 Daher sei im vorliegenden Fall eine gerichtliche Kontrolle nicht möglich, denn es gehe nicht um die Prüfung einer Frage der Rechtmässigkeit, sondern um die Beurteilung der Zweckmässigkeit einer Entscheidung. Die Klage, mit der eine Entscheidung des Gerichts darüber angestrebt werde, ob die Beklagte von dem Ermessen, das ihr durch die streitige Bestimmung verliehen worden sei, einen zweckmässigen Gebrauch gemacht habe, sei als unzulässig abzuweisen.

Würdigung durch das Gericht

17 Die Kommission hat die Entscheidung, mit der sie es abgelehnt hat, den Neffen der Klägerin nach Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts einem unterhaltsberechtigten Kind gleichzustellen, mit dem Fehlen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht der Klägerin begründet. Damit hat die Beklagte nicht von dem Spielraum Gebrauch gemacht, den ihr diese Bestimmung für die Beurteilung der zur Begründung eines Gleichstellungsantrags vorgetragenen Tatumstände einräumt, sondern eine der für eine solche Gleichstellung erforderlichen Voraussetzungen rechtlich ausgelegt. Somit ist das Gericht für die Kontrolle der Auslegung zuständig, die die Kommission im vorliegenden Fall der Voraussetzung des Vorliegens einer gesetzlichen Unterhaltspflicht gegeben hat.

18 Nach Ansicht des Gerichts liegt es, wenn wie im vorliegenden Fall (vgl. Randnrn. 31 und 32) die Anwendung einer Statutsbestimmung von der Anwendung einer Rechtsvorschrift abhängt, die zur Rechtsordnung eines der Mitgliedstaaten gehört, im Interesse einer geordneten Rechtspflege und einer genauen Anwendung des Statuts, daß sich seine Kontrolle auch auf die Anwendung des nationalen Rechts eines der Mitgliedstaaten durch die Anstellungsbehörde eines Gemeinschaftsorgans erstreckt.

19 Aufgrund aller vorstehenden Erwägungen ist die von der Beklagten erhobene Rüge, die Klage sei unzulässig, zurückzuweisen.

Begründetheit

Der einzige Klagegrund: Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts

Vorbringen der Parteien

20 Die Klägerin macht geltend, daß sie nach belgischem Recht "gesetzlich" ihrem Neffen gegenüber zum Unterhalt verpflichtet sei. Sie stützt ihren Klagegrund auf drei Argumente. Erstens sei ihre Naturalobligation gegenüber ihrem Neffen in eine zivilrechtliche Verpflichtung umgewandelt worden; zweitens führt sie das genannte Urteil vom 16. Mai 1991 an, mit dem der Juge de paix Anderlecht die Höhe ihres Beitrags zu den Unterhalts- und Ausbildungskosten ihres Neffen festgesetzt habe; drittens beruft sie sich auf ihre Unterhaltsverpflichtung, die sie zugunsten ihres Neffen eingegangen sei.

21 In bezug auf die als erstes Argument angeführte Schuldumwandlung führt die Klägerin aus, daß für sie zunächst eine Naturalobligation zum Unterhalt ihres Neffen bestanden habe, die auf den Gefühlsbeziehungen zwischen ihnen, dem gegenüber ihrem Bruder, dem Vater des Kindes, abgegebenen Versprechen, ihm Unterhalt zu gewähren, und der von ihr gegenüber den belgischen Behörden eingegangenen Verpflichtung beruht habe. Nach der belgischen Rechtsprechung stelle die freiwillig übernommene und erfuellte Verpflichtung, einem Kind Unterhalt zu gewähren, eine Naturalobligation dar, die sich, wenn sie mehrere Jahre lang erfuellt werde, in eine zivilrechtliche Verpflichtung umwandle. In der mündlichen Verhandlung hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die fragliche Verpflichtung als eine "quasigesetzliche" bezeichnet.

22 Im Zusammenhang mit dem zweiten Argument macht die Klägerin geltend, daß sie nach den Entscheidungsgründen des Urteils vom 16. Mai 1991 nach belgischem Recht gegenüber ihrem Neffen im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet sei.

23 Zum dritten Argument trägt die Klägerin vor, daß ihr Neffe die Bewilligung zur Niederlassung in Belgien erst aufgrund der von ihr eingegangenen Verpflichtung, persönlich für die Kosten seines Aufenthalts in Belgien aufzukommen, erhalten habe. Diese Verpflichtung sei nach den einschlägigen Rechtsvorschriften betreffend den Aufenthalt von Ausländern in Belgien, nämlich den Artikeln 3 und 11 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern, eingegangen worden. Sie sei der Beweis dafür, daß die Klägerin gegenüber ihrem Neffen eine gesetzliche Unterhaltspflicht im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts treffe.

24 Die Beklagte führt zunächst aus, daß nach dem Haager Übereinkommen vom 24. Oktober 1956 über das auf Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern anzuwendende Recht das belgische Recht anwendbar sei, das keine Unterhaltspflicht zwischen Verwandten in der Seitenlinie vorsehe. Es müsse unterschieden werden zwischen dem Anspruch auf eine Unterhaltsrente, den das Gesetz in bestimmten Fällen gewähre, und der Naturalobligation zur Zahlung einer Rente, die der Schuldner freiwillig in eine zivilrechtliche Verpflichtung umwandeln könne. Soweit die Klägerin vortrage, sie habe freiwillig eine Naturalobligation in eine zivilrechtliche Verpflichtung umgewandelt, räume sie damit notwendig ein, daß sie keine gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber ihrem Neffen habe.

25 Die Beklagte verweist sodann auf die Allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII zum Statut (im folgenden: ADB), die sie am 28. September 1989 erlassen habe und die die objektiven Kriterien zur einheitlichen Regelung der Ausübung des Ermessens der Anstellungsbehörde auf diesem Gebiet festlegten; nach Artikel 3 dieser Bestimmungen gelte "als gesetzliche Unterhaltsverpflichtung... eine Unterhaltsverpflichtung, welche die Rechtsvorschriften gegenüber verwandten oder verschwägerten Personen ausdrücklich vorsehen, ausgenommen vertragliche Verpflichtungen, Naturalobligationen und Entschädigungsverpflichtungen".

26 Zu dem Urteil vom 16. Mai 1991 führt die Beklagte erstens aus, daß die Klage des Christian Khouri beim Juge de paix offensichtlich unzulässig gewesen sei, weil der Kläger kein ursprüngliches und gegenwärtiges Interesse habe dartun und nicht habe nachweisen können, daß seine Rechte in schwerwiegender und ernsthafter Weise gefährdet seien. Zweitens habe das Urteil im vorliegenden Fall zu Unrecht das Vorliegen einer Naturalobligation festgestellt, da eine solche Obligation nach belgischem Recht auf die Beziehungen zwischen sehr nahen Verwandten, in der Praxis auf die Beziehungen zwischen Geschwistern, beschränkt sei. Drittens habe das Urteil weder den Umstand berücksichtigt, daß Christian Khouri nicht bedürftig gewesen sei, weil ihm von seiner Tante Unterhalt gewährt worden sei, noch den Umstand, daß weitere Unterhaltsschuldner, nämlich insbesondere sein Vater und seine Mutter, vorhanden seien, die in erster Linie zum Unterhalt ihres Sohnes verpflichtet seien. Zudem könne dieses Urteil der Beklagten nicht entgegengehalten werden, da es nur relative Rechtskraft erlangt habe.

27 Falls das Gericht das Urteil vom 16. Mai 1991 dennoch berücksichtige, sei darauf hinzuweisen, daß es in dem Urteil zum einen heisse: "Eine Unterhaltspflicht zwischen Verwandten in der Seitenlinie ist... gesetzlich nicht vorgesehen" und zum anderen: "Die Beklagte hat sich freiwillig gegenüber ihrem Bruder verpflichtet, sich um ihren Neffen zu kümmern."

28 Zu der von der Klägerin eingegangenen Unterhaltsverpflichtung führt die Beklagte aus, daß die gesetzlichen Bestimmungen, auf die die Klägerin ihr Vorbringen stütze, nämlich die Bestimmungen, die einen Ausländer verpflichteten, sich "durch die rechtmässige Ausübung einer entgeltlichen Tätigkeit" hinreichende Geldmittel zu verschaffen, im vorliegenden Fall nicht einschlägig seien. Tatsächlich habe dem Neffen der Klägerin der Aufenthalt in Belgien nur durch eine Entscheidung gemäß Artikel 9 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bewilligt werden können, der dem Justizminister auf diesem Gebiet ein Ermessen einräume. Eine der Voraussetzungen, von denen der Minister die Aufenthaltsbewilligung im allgemeinen abhängig mache, bestehe in der von einem belgischen Staatsbürger eingegangenen Verpflichtung, die Kosten der Gesundheitsfürsorge, die Aufenthaltskosten und die Kosten für die Rückreise des Ausländers, der die Aufenthaltsbewilligung beantrage, zu übernehmen. Daher habe die Unterhaltsverpflichtung der Klägerin gegenüber ihrem Neffen ihren Ursprung nicht im Gesetz, sondern in der Vereinbarung zwischen der Klägerin und dem belgischen Staat, die einen Vertrag zugunsten Dritter im Sinne von Artikel 1121 des belgischen Code civil darstelle, den die Klägerin zugunsten ihres Neffen abgeschlossen habe. Diese Verpflichtung rein vertraglicher Art könne einer gesetzlichen Unterhaltspflicht im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts nicht gleichgestellt werden.

Würdigung durch das Gericht

29 Nach Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts, der nach Artikel 65 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften entsprechend gilt, kann jede Person, der gegenüber der Beamte gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist und deren Unterhalt ihn mit erheblichen Ausgaben belastet, für die Zwecke der Gewährung der Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder durch besondere Verfügung einem unterhaltsberechtigten Kind gleichgestellt werden.

30 Da die Gleichstellung einer Person mit einem unterhaltsberechtigten Kind Ausnahmecharakter hat, was durch den Wortlaut des Statuts unterstrichen wird, ist die Voraussetzung, daß den Beamten eine gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber einer anderen Person trifft, eng auszulegen (Urteil des Gerichtshofes vom 21. November 1974 in der Rechtssache 6/74, Moulijn/Kommission, Slg. 1974, 1287).

31 Der Begriff "gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet", wie er vom Statut verwendet wird, orientiert sich an den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die den Eltern und/oder den näheren oder entfernteren Verwandten eine gegenseitige gesetzliche Verpflichtung zum Unterhalt auferlegen. Mit der Verwendung des Begriffs der gesetzlichen Unterhaltspflicht in Artikel 2 Absatz 4 seines Anhangs VII stellt das Statut ausschließlich auf die Unterhaltspflicht eines Beamten ab, deren rechtlicher Ursprung vom Willen der Parteien unabhängig ist, und schließt daher die Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen aus, bei denen es sich um vertragliche Verpflichtungen, Naturalobligationen oder Schadensersatzpflichten handelt.

32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (u. a. Urteil vom 18. Januar 1984 in der Rechtssache 327/82, Ekro, Slg. 1984, 107) ist den Begriffen einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Erläuterung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben, die unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels zu ermitteln ist. Nach Ansicht des Gerichts kann jedoch, wenn eine ausdrückliche Verweisung fehlt, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts gegebenenfalls eine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten einschließen, wenn der Gemeinschaftsrichter dem Gemeinschaftsrecht oder den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts keine Anhaltspunkte entnehmen kann, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite des Gemeinschaftsrechts durch eine autonome Auslegung zu ermitteln.

33 Weder das Gemeinschaftsrecht noch das Statut liefern aber dem Gemeinschaftsrichter Hinweise, anhand deren er durch eine autonome Auslegung den Inhalt und die Tragweite der gesetzlichen Unterhaltspflicht ermitteln könnte, aufgrund deren einem Beamten die Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts gewährt werden kann. Daher ist zu ermitteln, welcher nationalen Rechtsordnung die Klägerin unterliegt, und zu prüfen, ob ihr diese gegenüber ihrem Neffen eine gesetzliche Unterhaltspflicht im Sinne des Statuts auferlegt.

34 Nach den Akten hat die Klägerin, die in Belgien wohnt, die belgische und die libanesische Staatsangehörigkeit. Sie wurde gemäß Artikel 55 der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften von der Kommission als belgische Staatsangehörige eingestellt; ihr Neffe, der ebenfalls in Belgien wohnt, hat jedoch die niederländische und die libanesische Staatsangehörigkeit.

35 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, welches Recht nach den vom zuständigen Gericht anzuwendenden Kollisionsbestimmungen Anwendung findet. Artikel 4 Absatz 1 der ADB lautet: "Besteht ein Bezug zu mehreren [Rechten], so erfolgt die Bestimmung [des] anzuwendenden [Rechts] aufgrund der Kollisionsbestimmungen, die von dem zuständigen Gericht ° gegebenenfalls auch nach den einschlägigen internationalen Übereinkünften, insbesondere dem am 2. Oktober 1973 in Den Haag unterzeichneten Übereinkommen über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht ° anzuwenden sind."

36 Die Klägerin hat ein belgisches Gericht mit dem Antrag angerufen, festzustellen, daß sie gegenüber ihrem Neffen unterhaltspflichtig ist, und sie hat sich zu diesem Zweck auf das belgische Recht gestützt. Das Gericht hat sich für zuständig erklärt und seine genannte Entscheidung vom 16. Mai 1991 unter Berufung auf Bestimmungen des belgischen Rechts erlassen. Auch im vorliegenden Verfahren stützt sich die Beklagte zur Begründung ihres Vorbringens auf das belgische Recht.

37 Unter diesen Umständen ist das Gericht der Ansicht, daß die Bestimmung des anzuwendenden Rechts im vorliegenden Fall nach den Kollisionsnormen zu erfolgen hat, die von den belgischen Gerichten anzuwenden sind.

38 Zunächst ist festzustellen, daß das am 2. Oktober 1973 in Den Haag unterzeichnete Übereinkommen über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht vom Königreich Belgien nicht ratifiziert worden ist und daß das am 24. Oktober 1956 in Den Haag unterzeichnete Abkommen über das auf Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern anzuwendende Recht, das vom Königreich Belgien ratifiziert worden ist, nach seinem Artikel 5 auf die unterhaltsrechtlichen Beziehungen zwischen Verwandten in der Seitenlinie keine Anwendung findet.

39 Das Gericht stellt daher fest, daß es weder dem belgischen internationalen Privatrecht noch der Praxis der belgischen Gerichte eine eindeutige und klare Kollisionsnorm für die Bestimmung der auf die unterhaltsrechtlichen Beziehungen zwischen einer Tante und ihrem Neffen anwendbaren Rechtsvorschriften entnehmen kann.

40 Angesichts des Vorstehenden hält sich das Gericht jedoch für berechtigt, festzustellen, daß im vorliegenden Fall die Frage, ob die Klägerin gegenüber ihrem Neffen im Sinne des Statuts gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist, sowohl wegen der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes der Klägerin als auch wegen des Wohnsitzes ihres Neffen nach belgischem Recht zu entscheiden ist.

41 Das belgische Recht kennt jedoch keine Unterhaltspflicht im vorstehend definierten Sinne zwischen Verwandten in der Seitenlinie. Die belgischen Gerichte erkennen allenfalls das Bestehen einer Naturalobligation zwischen Verwandten in der Seitenlinie an, die in eine zivilrechtliche Verpflichtung umgewandelt werden kann. Diese Feststellung wird durch das Urteil vom 16. Mai 1991 selbst bestätigt, in dem es ausdrücklich heisst: "Eine Unterhaltspflicht zwischen Verwandten in der Seitenlinie ist... gesetzlich nicht vorgesehen..." Daher stellt die Unterhaltsverpflichtung, die die Klägerin möglicherweise gegenüber ihrem Neffen trifft, keine Verpflichtung dar, deren rechtlicher Usprung vom Willen der Parteien unabhängig ist; sie kann daher nicht als gesetzliche Unterhaltspflicht im Sinne des Statuts angesehen werden.

42 Die von der Klägerin zugunsten ihres Neffen gegenüber den belgischen Behörden eingegangene Unterhaltsverpflichtung kann, unterstellt, sie könnte eine Unterhaltspflicht schaffen, ebenfalls nicht als gesetzliche Unterhaltspflicht im Sinne des Statuts angesehen werden, da sie auf den Willen des Beamten zurückgeht.

43 Aufgrund all dieser Erwägungen greift der einzige Klagegrund ° Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 4 des Anhangs VII des Statuts ° nicht durch. Daher ist die Klage abzuweisen.

Kostenentscheidung:

Kosten

44 Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Gemäß Artikel 88 der Verfahrensordnung tragen jedoch in den Streitsachen zwischen den Gemeinschaften und deren Bediensteten die Organe ihre Kosten selbst.

Tenor:

Aus diesen Gründen

hat

DAS GERICHT (Vierte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.

Ende der Entscheidung

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