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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Hamburg
Urteil verkündet am 15.04.2009
Aktenzeichen: 4 K 396/07
Rechtsgebiete: VwVfG, EGV


Vorschriften:

VwVfG § 48 Abs. 1
EGV Art. 10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Aufhebung von zwei bestandskräftigen Bescheiden, mit denen das beklagte Hauptzollamt von ihr Ausfuhrerstattung zurückgefordert hatte.

Die Klägerin führte im Jahre 1991 Rindfleisch nach Ägypten aus, wofür ihr das beklagte Hauptzollamt zunächst im Vorschusswege, nach Freigabe der Sicherheiten sodann endgültig Ausfuhrerstattung gewährte. Die streitgegenständlichen Fleischpartien wurde gemeinsam mit Lieferungen von weiteren Erstattungsbeteiligten - u.a. der Firmen A und B - mit dem Schiff "C" nach Ägypten verschifft.

Ermittlungen des beklagten Hauptzollamtes in der Folgezeit ergaben, dass der ägyptische Zoll die Ware zunächst aufgrund eines zu hohen Fettgehaltes, der einem Verkauf des Fleisches in unverändertem Zustand nach ägyptischen Vorschriften entgegenstand, zurückgewiesen hatte. Auf den Einspruch des ägyptischen Importeurs war die Ware allerdings von der ägyptischen Zollverwaltung mit den Maßgaben freigegeben worden, dass die Kartons unter Angabe des tatsächlichen Fettgehalts neu zu etikettieren waren und dass das Fleisch der Verarbeitung nur unter Aufsicht der Gesundheitsbehörde zugeführt wurde. Diese Erkenntnisse sowie die weitere Feststellung, dass die Waren nach Verarbeitung auf Weisung der ägyptischen Behörden vernichtet bzw. unter Quarantäne gestellt und erst später unter Preisnachlass verkauft worden waren, nahm das beklagte Hauptzollamt zum Anlass, mit Rückforderungsbescheiden vom 16.09. und 06.10.1994 die der Klägerin gewährten Ausfuhrerstattungen über insgesamt DM 163.353,19 mit der Begründung zurückzufordern, dass die Abfertigung der Ware zum freien Verkehr und ihre anschließende Vermarktung in Ägypten nicht nachgewiesen sei.

Die Klägerin erhob gegen die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 Einspruch. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens stimmte die Klägerin dem Vorschlag des beklagten Hauptzollamtes zu, das Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des zwischenzeitlich beim Finanzgericht Hamburg unter dem Az. IV 412/98 anhängigen Klageverfahrens der Firma A ruhen zu lassen.

Nachdem das Finanzgericht Hamburg mit Urteil vom 09.04.2002 (IV 412/98) die Klage der Firma A abgewiesen und der Bundesfinanzhof (BFH) die von der Firma A eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde gegen das finanzgerichtliche Urteil mit Beschluss vom 10.12.2002 (VII B 139/02) zurückgewiesen hatte, nahm das beklagte Hauptzollamt das Einspruchsverfahren der Klägerin wieder auf und wies deren Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 unter Bezugnahme auf die in dem Musterverfahren ergangenen Entscheidungen des FG Hamburg und des Bundesfinanzhofes zurück. Die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 ist bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 19.06.2006 beantragte die Klägerin sodann beim beklagten Hauptzollamt unter Hinweis auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 21.07.2005 in der Rechtssache C-515/03 (E Schlachtbetrieb GmbH), von dem sie im Mai 2006 Kenntnis erhalten hatte, die Rücknahme der Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994. Sie führte insoweit aus, der Europäische Gerichtshof habe entschieden, dass die Bedingung für den Erhalt einer differenzierten Erstattung, scil. die Erfüllung der Zollförmlichkeiten für die Abfertigung des fraglichen Erzeugnisses zum freien Verkehr im Bestimmungsdrittland, erfüllt sei, wenn dieses Erzeugnis nach Entrichtung der Einfuhrabgaben in diesem Land einer wesentlichen Be- oder Verarbeitung im Sinne des Art. 24 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften unterzogen worden sei. Die im Streitfall erfolgte Verarbeitung der Ware in Ägypten unter der Aufsicht der dortigen Gesundheitsbehörde spreche daher nicht gegen deren Vermarktung, sondern sei im Gegenteil vielmehr als Beweis für die Vermarktung anzusehen. Die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 seien deshalb unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 21.07.2005 (C-515/03) als gemeinschaftsrechtswidrig anzusehen. Vor dem Hintergrund, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften mit Urteil vom 13.01.2004 (C-453/00) entschieden habe, dass der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin verpflichte, eine bestandskräftige Entscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen Rechnung zu tragen, sei das beklagte Hauptzollamt vorliegend verpflichtet, die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 aufzuheben.

Das beklagte Hauptzollamt lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 05.02.2007 unter Hinweis darauf ab, dass sie es versäumt habe, die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 gerichtlich anzufechten. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 13.01.2004 (C-453/00) komme aber eine Korrektur einer bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Entscheidung nur in Betracht, wenn der Betroffene auch den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft habe.

Mit ihrer nach erfolglosem Einspruchsverfahren am 18.12.2007 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren fort. Sie verweist darauf, dass das beklagte Hauptzollamt angeregt habe, das Einspruchsverfahren aus prozessökonomischen Gründen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Musterverfahrens A ruhen zu lassen. Es könne ihr daher nicht vorgehalten werden, dass sie gegen die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003, in der sich das beklagte Hauptzollamt "voll inhaltlich" auf die in dem Musterverfahren ergangenen gerichtlichen Entscheidungen des Finanzgerichts Hamburg bzw. des Bundesfinanzhofs bezogen habe, keine Rechtsmittel eingelegt habe.

Die Klägerin beantragt,

das beklagte Hauptzollamt unter Aufhebung des Bescheides vom 05.02.2007 und der Einspruchsentscheidung vom 28.11.2007 zu verpflichten, die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 aufzuheben.

Das beklagte Hauptzollamt beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es räumt zwar ein, dass die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 rechtswidrig seien. Einem Anspruch der Klägerin auf Rücknahme dieser Bescheide stehe indes entgegen, dass diese die Bescheide ohne Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges habe bestandskräftig werden lassen. Ein Festhalten an diesen bestandskräftigen Bescheiden führe auch zu keinen unzumutbaren oder schlechthin unerträglichen Ergebnissen. Denn die Rückforderungsbescheide seien im Einklang mit der damaligen Rechtsprechung ergangen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Sachakten des beklagten Hauptzollamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Verpflichtungsklage führt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zum Erfolg. Zwar hat das beklagte Hauptzollamt den Antrag der Klägerin auf Aufhebung der bestandskräftigen Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig abgelehnt; der Bescheid vom 05.02.2007 und die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2007 waren daher aufzuheben. Das beklagte Hauptzollamt ist allerdings nur verpflichtet, den Antrag auf Aufhebung der bestandskräftigen Rückforderungsbescheide unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO); im Übrigen war die Klage abzuweisen. Unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beteiligten merkt der erkennende Senat insoweit im Einzelnen Folgendes an:

In § 48 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 25.05.1976 (BGBl. I S. 1253, neu gefasst durch Bekanntmachung vom 23.01.2003, BGBl. I S. 102, im Folgenden: VwVfG) hat der nationale Gesetzgeber bestimmt, dass ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden kann. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im Streitfall erfüllt, die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 erweisen sich als rechtswidrig (hierzu unter 1.). Zwar hat die Klägerin im Streitfall keinen Anspruch auf Rücknahme der Rückforderungsbescheide, weil das dem beklagten Hauptzollamt nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eingeräumte Ermessen vorliegend nicht dahin verdichtet ist, dass nur die Rücknahme der Bescheide als ermessensfehlerfreie Entscheidung in Betracht kommt (hierzu unter 2.). Das beklagte Hauptzollamt ist indes verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Rücknahme der bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats erneut zu bescheiden (hierzu unter 3.).

1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG sind im Streitfall erfüllt. Die bestandskräftigen Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 sind gemeinschaftsrechtswidrig. Der erkennende Senat geht unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Bedeutung des in Art. 17 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission über gemeinsame Durchführungsbestimmungen für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen vom 27.11.1987 (ABl. Nr. 1 351/1, im Folgenden: VO Nr. 3665/87) aufgestellten Erfordernisses der Erfüllung der Zollförmlichkeiten für die Abfertigung zum freien Verkehr davon aus, dass das beklagte Hauptzollamt von der Klägerin zu Unrecht die im Jahre 1994 für die Ausfuhr von Rindfleisch nach Ägypten gewährten Ausfuhrerstattungen zurückgefordert hat. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat nämlich in seinem Urteil vom 21.07.2005 (C-515/03, E Schlachtbetrieb, [...]) erkannt, dass diese Bedingung für den Erhalt einer differenzierten Erstattung erfüllt ist, wenn das Erzeugnis nach Entrichtung der Einfuhrabgaben in dem Drittland einer wesentlichen Be- oder Verarbeitung im Sinne des Art. 24 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. Nr. 1 302/1, im Folgenden: ZK) unterzogen wird (Rz. 43). Da im Streitfall die Erstattungsware unstreitig nach ihrer Abfertigung zum freien Verkehr zur Verarbeitung gelangt und damit tatsächlich im Drittland Ägypten vermarktet worden ist, erweisen sich die zwischenzeitlich bestandskräftigen Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 als rechtswidrig, was im Übrigen inzwischen auch vom beklagten Hauptzollamt nicht mehr in Abrede gestellt wird.

2. Die Klägerin hat allerdings keinen Anspruch auf Rücknahme der Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994. Denn das dem beklagten Hauptzollamt nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eingeräumte Ermessen ist im Streitfall nicht dahin verdichtet, dass nur die Rücknahme der Bescheide als ermessensfehlerfreie Entscheidung in Betracht kommt.

a) Eine Reduzierung des Rücknahmeermessens ergibt sich zum einen nicht unter Berücksichtigung des in Art. 10 EG verankerten Grundsatzes der Zusammenarbeit, wonach die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen treffen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften geht unter Betonung des auch im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundsatzes der Rechtssicherheit davon aus, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19.09.2006, C-392/04 und C-422/04, i-21 Germany GmbH und Arcor AG Co. KG, Rz. 51, [...]; Urteil vom 13.01.2004, C-453/00, Kühne & Heitz N.V., Rz. 24, [...]). Durch die Beachtung dieses Grundsatzes lässt sich verhindern, dass Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in Frage gestellt werden können (EuGH, Urteil vom 19.09.2006, C-392/04 und C-422/04, i-21 Germany GmbH und Arcor AG Co. KG, Rz. 51, [...]). Der Europäische Gerichtshof hat freilich anerkannt, dass besondere Umstände eine nationale Verwaltungsbehörde nach dem in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichten können, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um einer später vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung einer einschlägigen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen (vgl. EuGH, Urteil vom 12.02.2008, C-2/06, Willy K KG, Rz. 38, [...]; Urteil vom 13.01.2004, C-453/00, Kühne Heitz N. V., Rz. 27, [...]). In seinem Urteil vom 13.01.2004 (C-453/00, Kühne Heitz N. V., Rz. 28, [...]) hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vier Voraussetzungen formuliert, die erfüllt sein müssen, um eine solche Überprüfungs- und gegebenenfalls Rücknahmepflicht begründen zu können: 1. Die Behörde ist nach nationalem Recht befugt, die bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen. 2. Die Verwaltungsentscheidung ist infolge eines Urteils eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden. 3. Das Urteil beruht, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die erfolgt ist, ohne dass der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht wurde, obwohl der Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EG erfüllt war. 4. Der Betroffene hat sich, unmittelbar nachdem er Kenntnis von der besagten Entscheidung des Gerichtshofs erlangt hat, an die Verwaltungsbehörde gewandt. Mit Urteil vom 12.02.2008 (C-2/06, Willy Kempter KG, Rz. 61, [...]) hat der Europäische Gerichtshof sodann die Maßgaben 3 bzw. 4 dahin präzisiert, dass das Gemeinschaftsrecht nicht verlangt, dass sich der Betroffene im Rahmen des gerichtlichen Rechtsbehelfs des innerstaatlichen Rechts, den er gegen die Verwaltungsentscheidung eingelegt hat, auf das Gemeinschaftsrecht berufen hat (zu 3), und dass durch das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung zu stellen, in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt wird; die Mitgliedstaaten können jedoch im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz angemessene Rechtsbehelfsfristen festlegen (zu 4). Mit Blick auf diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat der erkennende Senat mit Urteil vom 20.05.2008 (4 K 28/08) entschieden, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen, die der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 13.01.2004 (C-453/00) und 12.02.2008 (C-2/06) aufgestellt hat, die Behörde gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zur Korrektur einer bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Entscheidung verpflichtet ist. Der vorliegende Streitfall unterscheidet sich freilich grundlegend von den Verfahren, die den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 13.01.2004 (C-453/00) und 12.02.2008 (C-2/06) zugrunde lagen. Die Kläger der Verfahren C-453/00 und C-2/06 hatten nämlich sämtliche ihnen zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe ausgeschöpft, während die Klägerin dieses gerichtlichen Verfahrens von ihrem Recht, die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 gerichtlich anzufechten, keinen Gebrauch gemacht hat.

Der erkennende Senat ist sich in diesem Kontext bewusst, dass die Klägerin vor dem Hintergrund des Ausgangs des von der Firma A vor dem Finanzgericht Hamburg und dem Bundesfinanzhof geführten Musterverfahrens davon abgesehen hat, die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 gerichtlich anzugreifen und die streiterhebliche Fragestellung einer erneuten gerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Diese prozessökonomische und prozesstaktische, gleichwohl aber autonome Entscheidung der Klägerin führt indes nicht zu einem Zurücktreten des auch im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundsatzes der Rechtssicherheit mit der Folge, dass das beklagte Hauptzollamt, obgleich die in dem Urteil vom 13.01.2004 (C-453/00) aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt sind, zur Korrektur der gemeinschaftsrechtswidrigen Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 verpflichtet wäre. Dem steht auch nicht entgegen, dass durch die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 234 EG vornimmt, erforderlichenfalls erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Bedeutung diese Bestimmung seit ihrem In-Kraft-Treten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 12.02.2008, C-2/06, Rz. 35, [...]), und dass eine so ausgelegte Bestimmung des Gemeinschaftsrechts von einer Verwaltungsbehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch auf Rechtsbeziehungen auszuwenden ist, die vor dem Erlass der Vorabentscheidung des Gerichtshofs entstanden sind (vgl. EuGH, Urteil vom 12.02.2008, C-2/06, Rz. 36, [...]; Urteil vom 13.01.2004, C-453/00, Rz. 22, [...]). Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften hat nämlich in seinem Urteil vom 19.09.2006 (C-392/04), das auf einer vergleichbaren Sachverhaltsgestaltung - scil. keine gerichtliche Anfechtung des (gemeinschaftsrechtswidrigen) Bescheides - beruhte, erneut klargestellt, dass das Gemeinschaftsrecht gerade nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtsweges bestandskräftig geworden ist (Leitsatz 2 und Rz. 51; ebenso Urteil vom 12.02.2008, C-2/06, Rz. 37, [...]). Diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist vielmehr unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu lesen, der ebenfalls zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört (vgl. EuGH, Urteil vom 12.02.2008, C-2/06, Rz. 37, [...]). Denn nur so lässt sich verhindern, dass Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in Frage gestellt werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 13.09.2006, C-392/04, Leitsatz 2, [...]). Der erkennende Senat hält deshalb dafür, dass für den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit nur "in bestimmten Fällen" (Urteil vom 19.09.2006, C-392/04, Leitsatz 2, [...]) bzw. "unter besonderen Umständen" (Urteil vom 12.02.2008, C-2/06, Rz. 38, [...]) eine Schranke besteht mit der Konsequenz, dass die nationale Behörde nach dem in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit ausnahmsweise verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Diese "bestimmten Fälle" bzw. "besonderen Umstände" hat der Europäische Gerichtshof in seinen Urteilen vom 13.01.2004 (C-453/00 ), 19.09.2006 (C-392/04) und 12.02.2008 (C-2/06) abschließend beschrieben. Dass im Streitfall diese "besonderen Umstände" nicht gegeben sind, weil die Klägerin die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 nicht unter Ausschöpfung des Rechtsweges gerichtlich angefochten hat, wird von der Klägerin selbst nicht in Frage gestellt.

b) Das dem beklagten Hauptzollamt nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG eröffnete Rücknahmeermessen ist auch unter Berücksichtigung nationaler Rechtsgrundsätze nicht auf eine Korrektur der gemeinschaftsrechtswidrigen Rückforderungsbescheide reduziert.

Es entspricht der gefestigten Rechtsprechung sowohl des Bundesverwaltungsgerichts als auch des Bundesfinanzhofs, dass bei der Ausübung des Rücknahmeermessens in Rechnung zu stellen ist, dass dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit prinzipiell kein größeres Gewicht zukommt als dem Grundsatz der Rechtssicherheit, sofern dem anzuwendenden Recht nicht ausnahmsweise eine andere Wertung zu entnehmen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.2007, 6 C 32/06, [...]; BVerwG, Beschluss vom 07.07.2004, 6 C 24/03, [...]; BFH, Urteil vom 27.06.2006, VII R 53/05, [...]). Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit nimmt deshalb die Rechtsprechung nur ausnahmsweise einen Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen rechtswidrigen Verwaltungsaktes an, wenn sich nämlich dessen Aufrechterhaltung als "schlechthin unerträglich" erweist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.2007, 6 C 32/06, [...]; BFH, Urteil vom 29.05.2008, V R 45/06, [...]; BFH, Urteil vom 27.06.2006, VII R 53/05, [...]). Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes begründet dagegen keinen Anspruch auf Rücknahme, weil der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung ist.

Ob sich die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsaktes als schlechthin unerträglich erweist, hängt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesfinanzhofs, der der erkennende Senat grundsätzlich folgt, von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte ab. Verstößt etwa die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz oder sind Umstände gegeben, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen lassen, kann das Festhalten an dem Verwaltungsakt "schlechthin unerträglich" sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.10.1967, 3 C 123/66). Auch die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, dessen Rücknahme begehrt wird, kann die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.03.2005, 3 B 86/04, [...]; BVerwG, Urteil vom 27.01.1994, 2 C 12.92, [...]; BFH, Urteil vom 27.06.2006, VII R 53/05, [...]). Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem beklagten Hauptzollamt freilich zuzugeben, dass das nationale Recht nicht die Rücknahme der streitgegenständlichen Rückforderungsbescheide gebietet. Vor allem kann nicht angenommen werden, dass die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 offensichtlich rechtswidrig sind. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit ist nämlich nur gegeben, wenn an dem Verstoß der streitigen Maßnahme gegen formelles oder materielles Recht vernünftigerweise kein Zweifel besteht und sich deshalb die Rechtswidrigkeit geradezu aufdrängt; maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig erweist, ist in der Regel - und so auch hier - der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.01.2007, 6 C 32/06, [...]; BFH, Urteil vom 27.06.2006, VII R 53/05, [...]). Wird dagegen der Rechtsfehler erst später ersichtlich, fehlt es an der die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes gebietenden Offensichtlichkeit. So liegt es denn auch in Bezug auf die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994. Denn diese Bescheide entsprachen im Zeitpunkt ihres Erlasses der damals herrschenden nationalen Rechtsauffassung, was anschaulich auch dadurch bestätigt wird, dass in dem Parallelverfahren der Firma A sowohl das Finanzgericht als auch der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 09.04.2002 (IV 412/98) bzw. Beschluss vom 10.12.2002 (VII B 139/02) die (vermeintliche) Rechtmäßigkeit des gegenüber diesem Erstattungsbeteiligten ergangenen Rückforderungsbescheides festgestellt hatten. Erst die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 21.07.2005 (C-515/03) zur Bedeutung und Auslegung des in Art. 17 Abs. 3 VO Nr. 3665/87 aufgestellten Erfordernisses der Erfüllung der Zollförmlichkeiten für die Abfertigung zum freien Verkehr hat zu einer Änderung der nationalen Rechtsprechung geführt (vgl. etwa FG Hamburg, Urteil vom 11.01.2006, IV 80/04).

Der erkennende Senat übersieht im zu betrachtenden Zusammenhang nicht, dass sich die Klägerin und das beklagte Hauptzollamt im Verlauf des Einspruchsverfahrens darauf verständigt hatten, das Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des zwischenzeitlich beim Finanzgericht Hamburg unter dem Aktenzeichen IV 412/98 anhängigen Klageverfahrens der Firma A ruhen zu lassen. Diese Verständigung, die auf die Initiative des beklagten Hauptzollamtes zurückging, war ersichtlich prozess- und verfahrensökonomisch motiviert, betraf doch das Klageverfahren der Firma A einen mit Blick auf die damals streiterhebliche Fragestellung parallel gelagerten Sachverhalt. Dem erkennenden Senat ist auch aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, dass Absprachen dieser Art, die durchaus im Interesse beider Parteien liegen, regelmäßig in der Weise umgesetzt werden, dass nach rechtskräftigem Abschluss des Musterverfahrens das beklagte Hauptzollamt entweder - bei einem für den Ausführer positiven Ausgang - dem Einspruch abhilft oder - bei einem für den Ausführer negativem Ausgang - den Einspruch durch Erlass einer Einspruchsentscheidung zurückweist. Freilich kann im zu prüfenden Kontext nicht unberücksichtigt bleiben, dass das im Musterverfahren ergangene Urteil des Bundesfinanzhofs lediglich inter partes wirkt und das zum Ruhen gebrachte Einspruchsverfahren nur in der Weise rechtlich beeinflusst, dass der Ruhensgrund entfällt und das Einspruchsverfahren wieder aufgenommen werden kann. Das beklagte Hauptzollamt wäre rechtlich nicht gehindert, einen Einspruch entgegen der Rechtsauffassung des Finanzgerichts oder des Bundesfinanzhofs zu entscheiden und die Gerichte zu einer Überprüfung ihrer Rechtsprechung zu veranlassen, was anschaulich in der Praxis durch die sog. Nichtanwendungserlasse auch dokumentiert wird. Entsprechend verhält es sich auf Seiten der Klägerin. Auch der Klägerin wäre es durch den Ausgang des Musterverfahrens nicht verwehrt gewesen, die Einspruchsentscheidung vom 19.5.2003 gerichtlich anzufechten und für ihre Rechtsauffassung in einem erneuten Gerichtsverfahren zu werben. Dass die Klägerin möglicherweise die Chancen für eine Rechtsprechungsänderung als zu gering eingeschätzt und deshalb davon abgesehen hat, gegen die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 Klage zu erheben, ist im zu betrachtenden Zusammenhang ohne rechtliche Relevanz. Das Risiko der Fehleinschätzung der Erfolgsaussichten einer finanzgerichtlichen Klage kann ihr nicht abgenommen werden. Bemerkenswerterweise hat gerade die Klage der Firma B, die ebenfalls auf dem Schiff "C" Rindfleisch nach Ägypten ausgeführt hatte, eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zur Bedeutung und Auslegung des in Art. 17 Abs. 3 VO Nr. 3665/87 aufgestellten Erfordernisses der Erfüllung der Zollförmlichkeiten für die Abfertigung zum freien Verkehr bewirkt (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 11.01.2006 (IV 80/04). Ob die nach Maßgabe des § 102 FGO zu prüfende Ermessensentscheidung des beklagten Hauptzollamtes im Falle einer sog. Gleichbehandlungszusage auf eine Korrektur der Rückforderungsbescheide reduziert gewesen wäre, hat der erkennende Senat nicht zu entscheiden. Denn eine Gleichbehandlungszusage hat das beklagte Hauptzollamt gegenüber der Klägerin nicht abgegeben.

3. Das beklagte Hauptzollamt ist verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Rücknahme der bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 unter Beachtung der Rechtsauffassung der erkennenden Senats erneut zu bescheiden (§ 102 Satz 2 FGO). Denn dem beklagten Hauptzollamt ist im Rahmen der Ablehnung des Antrags der Klägerin, die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 zurückzunehmen, insoweit ein Ermessensfehler unterlaufen, als es nicht alle entscheidungserheblichen Erwägungen in die Ermessensentscheidung eingestellt hat.

Die vom beklagten Hauptzollamt gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zu treffende Ermessensentscheidung unterliegt gemäß § 102 FGO nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die gerichtliche Kontrolle ist gemäß § 102 Satz 1 FGO darauf beschränkt, ob das beklagte Hauptzollamt die Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Das ist regelmäßig nur der Fall, wenn die Behörde sich bei ihrer Entscheidung von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen, den Gleichheitssatz verletzt hat oder von einem unzutreffenden oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist. Gemäß § 102 Satz 2 FGO kann die Behörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des in Rede stehenden Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Liegt ein im vorstehenden Sinne bezeichneter Ermessensfehler vor, kann das Gericht freilich, weil es den Gewaltenteilungsgrundsatz zu beachten hat, nicht sein Ermessen an die Stelle des der Behörde vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessens setzen und die Behörde zum Erlass des Verwaltungsaktes verpflichten, sondern lediglich dazu, nunmehr ermessensfehlerfrei über den Antrag erneut zu entscheiden (vgl. BFH, Beschluss vom 04.06.2008, I R 9/07, [...]; BFH, Urteil vom 14.06.2000, X R 56/98, [...]).

Vorliegend hat das beklagte Hauptzollamt die Rücknahme der bestandskräftigen Rückforderungsbescheide im Wesentlichen unter Hinweis darauf abgelehnt, dass die vom Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 13.01.2004 (C-453/00) aufgestellten Voraussetzungen zur Überprüfung einer bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Verwaltungsentscheidung nicht erfüllt seien, weil die Klägerin insbesondere versäumt habe, in Bezug auf die Einspruchsentscheidung vom 19.05.2003 den Rechtsweg auszuschöpfen. Es hat damit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden ein höheres Gewicht als dem im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ebenfalls zu beachtenden Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt. Angesichts der nur in eingeschränktem Umfang zulässigen gerichtlichen Überprüfung der Ermessensentscheidung des beklagten Hauptzollamtes nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG hält der erkennende Senat zwar dafür, dass es grundsätzlich nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen ist, wenn das beklagte Hauptzollamt einer nach Eintritt der Bestandskraft des Bescheides vom Europäischen Gerichtshof vorgenommenen Auslegung einer einschlägigen Bestimmung des Gemeinschaftsrechts nur dann gegenüber dem Rechtsfrieden und der aufgrund gesetzlicher Regelungen eingetretenen Bestandskraft ein höheres Gewicht beimisst, wenn der Betroffene die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat. Der vorliegende Sachverhalt ist freilich dadurch gekennzeichnet, dass das beklagte Hauptzollamt gegenüber der Klägerin vorgeschlagen hatte, das Einspruchsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss des zwischenzeitlich beim Finanzgericht Hamburg unter dem Az. IV 412/98 anhängigen Klageverfahrens der Firma A ruhen zu lassen. Das beklagte Hauptzollamt hätte daher im Rahmen seiner Ermessensentscheidung berücksichtigen müssen, dass die Klägerin allein unter dem Eindruck der Entscheidung des Bundesfinanzhofes vom 10.12.2002 (VII B 139/02), mit der das von den Parteien als solches einvernehmlich bestimmte Musterverfahren seinen gerichtlichen Abschluss fand, davon abgesehen haben dürfte, die Einspruchsentscheidung vom 19.5.2003 gerichtlich anzufechten. Ferner hätte das beklagte Hauptzollamt bei seiner Entscheidung über den Antrag der Klägerin nach § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG würdigen müssen, dass das Einspruchsverfahren gegen die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 nicht auf Initiative der Klägerin, sondern aufgrund des eigenen Vorschlags zum Ruhen gebracht wurde. Hätte das beklagte Hauptzollamt ein Ruhen des Einspruchsverfahrens nicht angeregt, sondern den Einspruch der Klägerin gegen die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 zeitnah (vgl. § 46 Abs. 1 FGO) beschieden, hätte die Klägerin die Einspruchsentscheidung aller Wahrscheinlichkeit nach gerichtlich angefochten mit der Folge, dass ihr im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nicht mehr vorgehalten werden könnte, den Rechtsweg zu den nationalen Gerichten nicht ausgeschöpft zu haben. In diesem Zusammenhang wird das beklagte Hauptzollamt zudem zu erwägen haben, dass die Klägerin mit Schriftsatz vom 28.01.1998 eine Entscheidung über ihre Einsprüche vom 11. und 21.10.1994 angemahnt hatte, nachdem das Einspruchsverfahren über mehrere Jahre seitens des beklagten Hauptzollamtes nicht betrieben worden war. Selbst auf dieses Schreiben der Klägerin vom Januar 1998 hatte das beklagte Hauptzollamt dem Einspruchsverfahren über 12 Monate keinen Fortgang gegeben, sondern erst unter dem 27.01.1999 ein Ruhen des Einspruchsverfahrens vorgeschlagen.

Schließlich wird das beklagte Hauptzollamt bei seiner Ermessensentscheidung zu berücksichtigen haben, dass die Klägerin darauf vertraut hat, dass ihr durch die Ruhensabsprache keine rechtlichen Nachteile erwachsen. Dieses Vertrauen ist schutzwürdig nicht nur im Hinblick auf die Behandlung ihres Einspruchs gegen die Rückforderungsbescheide vom 16.09. und 06.10.1994 nach Abschluss des Musterverfahrens. Das schutzwürdige Vertrauen der Klägerin erstreckt sich vielmehr auch darauf, dass das beklagte Hauptzollamt sich in einem späteren Rechtsstreit, in dem die Korrektur einer bestandskräftigen gemeinschaftsrechtswidrigen Verwaltungsentscheidung in Rede steht, nicht darauf beruft, die Klägerin habe es versäumt, die nach Abschluss eines Musterverfahrens ergangene Einspruchsentscheidung gerichtlich anzufechten.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 151, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Nach § 34 Abs. 1 Satz 4 MOG findet § 139 Abs. 2 FGO in markordnungsrechtlichen Streitigkeiten keine Anwendung. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), sind nicht gegeben; die Entscheidung beruht auf den Umständen des Einzelfalles.

Ende der Entscheidung

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