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Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 28.08.2008
Aktenzeichen: 10 K 279/06
Rechtsgebiete: LStR 2004, EStG, FGO


Vorschriften:

LStR 2004 R 38 Abs. 3
EStG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 5 S. 2
EStG § 9 Abs. 1
FGO § 135
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

10 K 279/06

Tenor:

Die Einkommensteuerbescheid für 2004 vom 23. November 2005 wird unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 2. Januar 2006 dahin geändert, dass die Fahrtkosten des Klägers mit 0,30 € pro km und nicht nur mit den Kosten für die jeweiligen Entfernungskilometer berücksichtigt werden.

Die Neuberechnung der danach festzusetzenden Einkommensteuer wird dem Beklagten aufgegeben.

Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob im Rahmen einer Einsatzwechseltätigkeit nach wie vor die 30-km-Grenze der R 38 Abs. 3 LStR 2004 zu berücksichtigen ist.

Die Kläger sind zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Ehegatten. Der Kläger ist nichtselbständig als Fliesenleger tätig und übte im Streitjahr 2004 unstreitig eine Einsatzwechseltätigkeit aus. Die Entfernungen zwischen Wohnung und den jeweiligen Einsatzstätten betrug zumeist weniger als 30 km. Wegen der Einzelheiten wird auf die vom Kläger gefertigte Anlage zur Einkommensteuererklärung verwiesen, die insoweit - auch hinsichtlich der insgesamt gefahrenen 14.218 km - unstreitig ist. In der Einkommensteuererklärung begehrte der Kläger die insgesamt gefahrenen km mit jeweils 0,30 € zu berücksichtigen und deshalb 4.266 € als Werbungskosten anzusetzen.

Im vorliegend streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid für 2004 vom 23. November 2005 berücksichtigte der Beklagte nur Fahrtkosten i.H.v. 2.700 € als Werbungskosten, weil er der Auffassung war, die Fahrtkosten seien nur dann wie Reisekosten zu behandeln, wenn die Einsatzstelle mehr als 30 km von der Wohnung entfernt sei (Hinweis auf R 38 Abs. 3 LStR 2004).

Mit der nach erfolglosem Einspruchsverfahren (Einspruchsentscheidung vom 2. Januar 2006) erhobenen Klage machen die Kläger geltend, im Falle von Einsatzwechseltätigkeit mit täglicher Rückkehr zur Wohnung des Arbeitnehmers seien die Fahrtkosten insgesamt mit 0,30 € pro km und nicht nur mit der Entfernungspauschale gemäß § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 EStG absetzbar. Unzutreffend sei der Abschnitt III des BMF-Schreibens vom 26. Oktober 2005 IV C 5 - S 2353 - 211/05 (BStBl I 2005, 960), nachdem das BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 70/03 (BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785 ) nur unter Beachtung der 30-km-Grenze gemäß R 38 Abs. 3 LStR anzuwenden sei.

Die Kläger beantragen,

den Einkommensteuerbescheid für 2004, zuletzt geändert am 13. März 2006, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 2. Januar 2006 dahin zu ändern, dass die Fahrtkosten des Klägers mit 0,30 € pro km und nicht nur mit den Kosten für die jeweiligen Entfernungskilometer berücksichtigt werden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte weist auf die ihn bindende Erlasslage hin und hat den angefochtenen Bescheid am 13. März 2006 lediglich insoweit geändert, als Fahrten von mehr als 30 km mit dem vollen Satz von 0,30 € pro km berücksichtigt wurden.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet. Die 30-km-Grenze gemäß Abschnitt III des BMF-Schreibens vom 26. Oktober 2005 IV C 5 - S 2353 - 211/05 (BStBl I 2005, 960) findet weder eine Stütze im Gesetz noch ist sie mit der durch das BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 70/03 (BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785 ) geänderten Rechtsprechung vereinbar.

1. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG in der für das Streitjahr gültigen Fassung sind Werbungskosten auch Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Nach Satz 2 der Vorschrift ist zur Abgeltung dieser Aufwendungen für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale anzusetzen. Diese betrug im Streitjahr für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte 0,30 €. Der BFH sieht in dieser Abzugsbeschränkung eine Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip, weil sie den sonst geltenden Grundsatz der unbeschränkten Abziehbarkeit von Werbungskosten einschränkt (BFH-Urteile vom 31. Oktober 1973 VI R 98/73, BFHE 111, 76, BStBl II 1974, 258, vom 11. Mai 2005 VI R 70/03, BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785 ).

2. Diese Einschränkung des Werbungskostenabzugs gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG gilt nach ständiger Rechtsprechung des BFH nicht für Fahrten von der Wohnung zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten (Einsatzstellen). Bei diesen Fahrten handelt es sich um einen Typus, der von § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG seinem Zweck nach nicht erfasst werden sollte, weil sie aber den Dienstreisen (Auswärtstätigkeiten i.S. des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 2 EStG) ähnlich sind. Denn eine Einsatzwechseltätigkeit wird nicht durch einen auf Dauer angelegten ortsgebundenen Berufsmittelpunkt geprägt, welchem gegenüber andere Tätigkeitsorte untergeordnet erscheinen. Vielmehr sind die nacheinander aufgesuchten wechselnden Einsatzorte prinzipiell gleichgeordnet und stellen - nur solange dort gearbeitet wird - den nicht auf Dauer angelegten Berufsmittelpunkt dar. Deshalb ist der Arbeitnehmer typischerweise auf ein eigenes Kfz angewiesen, wenn er die vom Arbeitgeber erwartete Beweglichkeit besitzen will, sodass die Sparmöglichkeiten - etwa die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel - ausscheiden, die eine dauerhafte Arbeitsstätte typischerweise mit sich bringt. Ebenso fehlt dem Arbeitnehmer die Möglichkeit, durch eine entsprechende Wohnsitznahme selbst die Höhe seiner Fahrtaufwendungen zu bestimmen. Daran hat sich auch durch die Einführung der Entfernungspauschale durch Gesetz vom 21. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1918, BStBl I 2001, 36) nichts geändert, mit der die Bevorzugung des Kfz gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln beseitigt werden sollte (BFH-Urteile vom 11. Mai 2005 VI R 70/03, BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785 , vom 10. Oktober 1994 VI R 2/92, BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137, vom 20. November 1987 VI R 6/86, BFHE 152, 232, BStBl II 1988, 443, vom 7. Juli 2004 VI R 11/04, BFH/NV 2004, 1583; ebenso BFH-Urteil vom 10. April 2008 VI R 66/05, BFH/NV 2008, 1243 für für das Aufsuchen einer Bildungseinrichtung im Falle einer längerfristigen beruflichen Bildungsmaßnahme). Deshalb sind für die Wege eines Arbeitnehmers zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten die Kosten für die tatsächlich gefahrenen Kilometer als Werbungskosten absetzbar; die Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG kommt nicht zur Anwendung.

3. Die Verwaltung bezieht sich für ihre gegenteilige Auffassung in Abschnitt III des BMF-Schreibens vom 26. Oktober 2005 IV C 5 - S 2353 - 211/05 (BStBl I 2005, 960) betreffend Fahrten von unter 30 km auf die teilweise überholte Rechtsprechung in den Urteilen vom 20. November 1987 VI R 6/86 (BFHE 152, 232, BStBl II 1988, 443) und vom 10. Oktober 1994 VI R 2/92 (BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137). Der BFH hatte in diesen Entscheidungen Fahrten zu wechselnden Arbeitsstätten als privilegiert angesehen und angenommen, dass die Abzugsbeschränkung § 9 Abs.1 S. 3 Nr. 4 Satz 2 EStG für diese Fahrten nicht eingreift. Er hat dies allerdings als Rechtsfortbildung dieser Vorschrift beurteilt, weil auch bei Einsatzwechseltätigkeit der jeweilige Einsatzort eine Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG sei und es sich deshalb auch bei Fahrten zwischen Wohnung und den wechselnden Einsatzstellen um Fahrten i.S. dieser Vorschrift handele. Für diese Rechtsfortbildung sei kein Raum, soweit dies zu ungerechtfertigten Vorteilen gegenüber Arbeitnehmern mit einer festen Arbeitsstätte führe. Dies sei der Fall, wenn nur eine Entfernung zu bewältigen sei, die auch von einer großen Zahl der zu festen Arbeitsstellen fahrenden Arbeitnehmer arbeitstäglich zurückgelegt werde, es sich also um Fahrten zu Arbeitsstätten handle, die ihm üblichen Arbeitsplatz-Einzugsbereich der Wohnung des Steuerpflichtigen lägen.

Der BFH hat sich von diesem Ansatz allerdings im Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 70/03 (BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785) gelöst und seine systematische Betrachtungsweise geändert, was im BMF-Schreiben vom 26. Oktober 2005 IV C 5 - S 2353 - 211/05 (BStBl I 2005, 960) schlicht nicht zur Kenntnis genommen wird. Denn der BFH spricht inzwischen ausdrücklich nicht mehr von Fahrten zu wechselnden Arbeitsstätten, sondern von wechselnden Tätigkeitsstätten , die vom Typus der Arbeitsstätten-Fahrten in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG a.F. ihrem Zweck nach nicht erfasst würden. Auch die Einführung der Entfernungspauschale habe nichts an der typusbedingten Unterscheidung der Fahrten zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten von den Fahrten zur regelmäßigen Arbeitsstätte geändert.

4. Aus diesem Grund findet die in R 38 Abs. 3 LStR 2005 festgelegte Grenze, nach der unterhalb einer Entfernung von 30 km zur Einsatzstätte lediglich die Entfernungspauschale absetzbar ist, weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des BFH eine Stütze. Maßgeblich für die unterschiedliche Behandlung der Fahrtkosten zu wechselnden Tätigkeitsstätten und der Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ist entgegen der Ansicht der Verwaltung nicht die Anzahl der gefahrenen Kilometer und ob die 30-km-Grenze über- oder unterschritten wird, sondern allein der Umstand, dass der Arbeitnehmer gezwungen ist, wechselnde Tätigkeitsstätten Aufzusuchen und nicht das Privileg einer dauerhaften Arbeitsstätte genießt. Deshalb liegt eine gesonderte Betrachtung von Fahrten zu Tätigkeitsstätten, die näher als 30 km vom Wohnort des Arbeitnehmers entfernt sind, unter Hinweis auf einen sog. "üblichen Arbeitsstätten-Einzugsbereich der Wohnung des Arbeitnehmers" neben der Sache, mit der Folge, dass die Kosten für die tatsächlich gefahrenen km als Werbungskosten absetzbar sind (Schmidt/Drenseck, EStG 26. Aufl., § 9 Rz. 120; ebenso das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des FG Nürnberg vom 5. Dezember 2007 3 K 33/2007, sowie Sächsisches FG, Urteil vom 20. Juni 2007 - 2 K 185/06, Revision zugelassen [Aktenzeichen des BFH: VI R 39/07] und FG Hamburg, Urteil vom 9. August 2007 1 K 25/07, EFG 2007, 1940, Revision zugelassen [Aktenzeichen des BFH: VI R 47/07]; vgl. ferner BFH-Urteil vom 10. April 2008 VI R 66/05, BFH/NV 2008, 1243 für für das Aufsuchen einer Bildungseinrichtung im Falle einer längerfristigen beruflichen Bildungsmaßnahme). Auch in seinem Vorlagebeschluss betreffend die Pendlerpauschale vom 10. Januar 2008 VI R 17/07 (BStBl II 2008, 234, BFH/NV 2008, 469) führt der BFH ausdrücklich aus, dass Fahrtkosten im Falle von Reisekosten bei wechselnden Tätigkeitsstätten ohne die Abzugsbeschränkung in voller Höhe geltend gemacht werden können.

Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass sich das BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 70/03 (BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 78 ) betreffend Fahrtwege von über 30 km nicht zu der Frage des Unterschreitens dieser Grenze verhält und die Frage im Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 34/04 (BFHE 209, 527, BStBl II 2005, 793) offen gelassen hat. Denn die Geltung der 30-km-Grenze war dort bereits deshalb nicht streiterheblich, weil sich die Rechtsprechung des BFH, die sich hinsichtlich der tatsächlich gefahrenen Kilometer zu Gunsten des Arbeitnehmers auswirkt, zu seinen Ungunsten auswirkt, wenn der Arbeitnehmer etwa an einer Fahrgemeinschaft oder einer Sammelbeförderung teilnimmt und dementsprechend keine eigenen Fahrten unternimmt. In einem solchen Fall ist der Werbungskostenabzug mangels eigener Aufwendungen des Steuerpflichtigen zu versagen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

6. Die Revision war trotz der Abweichung vom BMF-Schreiben vom 26. Oktober 2005 IV C 5 - S 2353 - 211/05 (BStBl I 2005, 960) nicht zuzulassen. Nach Ergehen des Urteils vom 11. Mai 2005 VI R 70/03 (BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 78 ) wäre ein Festhalten an der 30-km-Grenze unter Hinweis auf den sog. "üblichen Arbeitsstätten-Einzugsbereich" bei Entfernungen von unter 30 km gemäß den Urteilen vom 10. Oktober 1994 VI R 2/92 (BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137) und vom 20. November 1987 VI R 6/86 (BFHE 152, 232, BStBl II 1988, 443) nicht mehr folgerichtig. Insbesondere im BFH-Urteil vom 11. Mai 2005 VI R 34/04 (BFHE 209, 527, BStBl II 2005, 793) stellt der BFH nicht nur auf die Unterscheidung von regelmäßiger Arbeitsstätte und wechselnden Tätigkeitsstätten ab, sondern erklärt zusätzlich, dass bei wechselnden Tätigkeitsstätten vor dem Hintergrund des objektiven Nettoprinzips auf den konkreten, eigenen Aufwand des Steuerpflichtigen abzustellen ist, während dies bei der Entfernungspauschale gerade nicht der Fall ist.

Ende der Entscheidung

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