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Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 21.04.2005
Aktenzeichen: 10 K 7737/00
Rechtsgebiete: AO 1977


Vorschriften:

AO 1977 § 45 Abs. 1 S. 1
AO 1977 § 130 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

10 K 7737/00

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 21. Oktober 1999 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 verpflichtet, die Verspätungszuschläge wie folgt herabzusetzen:

Umsatzsteuer 5/1994 auf DM 3.650,-- (1.866,22 EUR)

Umsatzsteuer 6/1994 3.278,-- DM (1.676,01 EUR)

Umsatzsteuer 7/1994 3.650,-- DM (1.866,22 EUR)

Umsatzsteuer 8/1994 3.650,-- DM (1866,22 EUR)

Lohnsteuer 6/1994 1.628,-- DM (832,38 EUR)

Lohnsteuer 7/1994 1.664,-- DM (850,79 EUR)

Lohnsteuer 8/1994 2.818,-- DM (1.440,82 EUR)

Lohnsteuer 9/1994 2.705,-- DM (1.383,04 EUR).

Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Die M-KG betrieb ein Unternehmen für Großbautenreinigung. Zum 01.01.1995 ist die Klägerin durch Verschmelzung Rechtsnachfolgerin der M-KG geworden. Da die M-KG die monatlichen Lohnsteuer- und Umsatzsteuervoranmeldungen für Juni bis September 1994 (Lohnsteuer) bzw. Mai bis August 1994 (Umsatzsteuer) verspätet abgab, setzte der Beklagte folgende Verspätungszuschläge fest:

 VoranmeldungFestsetzungsdatumVerspätungszuschlag
Umsatzsteuer 5/199422.09.199410.000,00 DM
Umsatzsteuer 6/199421.09., 03.11.19948.980,00 DM
Umsatzsteuer 7/199419.10.199410.000,00 DM
Umsatzsteuer 8/199418.11.199410.000,00 DM
Lohnsteuer 6/199430.09.19944.460,00 DM
Lohnsteuer 7/199420.09., 21.10.19944.560,00 DM
Lohnsteuer 8/199428.11.19947.720,00 DM
Lohnsteuer 9/199428.11.19947.410,00 DM
  63.130,00 DM.

Diese Bescheide ergingen jeweils mit Rechtsmittelbelehrung.

Die Vertreterin des Beklagten erklärte in der mündlichen Verhandlung am 21. April 2005, dass die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Festsetzungen bezüglich der Verspätungstage und der Höhe der festgesetzten Verspätungszuschläge nicht mehr ermittelt werden könnte, da weder der damalige Sachbearbeiter noch die Unterlagen hierüber vorhanden seien.

Gegen die Festsetzung der Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen Mai und August 1994 sowie den Lohnsteueranmeldungen Juni bis September 1994 legte die Klägerin bzw. die KG keinen Rechtsbehelf ein. Gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags zur Umsatzsteuervoranmeldung Juni 1994 vom 21.09.1994 (10.000,00 DM) erhob die KG am 26.10.1994 Einspruch. Nachfolgend wurde der Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuervoranmeldung Juni 1994 mit Bescheid vom 03.11.1994 auf 8.980,00 DM herabgesetzt. Die gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags wegen verspäteter Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung Juli 1994 eingelegte Beschwerde wies die Oberfinanzdirektion mit Beschwerdeentscheidung vom 28.09.1995 als unbegründet zurück.

Mit Schreiben vom 08.12.1995 beantragte die Klägerin, die Verspätungszuschläge gemäß § 131 Abs. 1 AO zu widerrufen. Zur Begründung trug sie vor, dass die Festsetzung der Verspätungszuschläge auf fehlerhafter Ermessensausübung beruhe. Da sie bei Eintreibung der festgesetzten Verspätungszuschläge in existenzbedrohende Zahlungsschwierigkeiten geraten und dies das zwischenzeitlich wieder beanstandungsfreie Abgabeverhalten gefährden würde, werde dem Ermessenszweck durch Rücknahme der Verspätungszuschläge besser entsprochen. Mit Bescheid vom 06.03.1996 lehnte der Beklagte diesen Antrag ab.

Gegen diese ohne Rechtsbehelfsbelehrung ergangene Entscheidung vom 06.03.1996 legte die Klägerin mit Schreiben vom 20.01.1997 (Eingang 21.01.1997) Einspruch ein. Zur Begründung trug sie vor, dass die Firma M-KG im Jahre 1994 mit einem Verlust in Höhe von rund 700.000,00 DM abgeschlossen habe. Dies beruhe auf einem Umsatzeinbruch von rund 4 Mio. DM. Ohne neue Gesellschafter, die Zuführung neuen Kapitals und einen Kapitalschnitt wäre die M-KG Ende 1994 konkursreif gewesen. Damit sei eine konkrete Existenzgefährdung gegeben gewesen. Aufgrund dieser Situation sei der mit der Bearbeitung der steuerlichen Pflichten beauftragte Prokurist der M-KG an einer pünktlichen Wahrnehmung der Steuerangelegenheiten gehindert gewesen. Aufgrund der existentiellen Krise hätten zunächst alle Personalkräfte in die Rettung und Sanierung des Unternehmens eingebunden werden müssen. Unverständlich sei, dass aufgrund dieser Begründung einerseits die Verspätungszuschläge für die Umsatzsteuervoranmeldungen ab 9/1994 und Lohnsteueranmeldungen ab 10/1994 erlassen worden seien, anderseits aber für die streitbefangenen Zeiträume an den Festsetzungen festgehalten werde.

Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Unternehmens nicht nach der Höhe des Umsatzes, sondern nach dem erzielten Gewinn richte. Die Außerachtlassung der existenzbedrohlichen Verlustsituation im Jahre 1994 stelle eine ermessensfehlerhafte Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei der Bemessung der Höhe der Verspätungszuschläge dar. Die Verspätungszuschläge seien bezüglich der Umsatzsteuervoranmeldungen in drei von vier Fällen an der gesetzlich zulässigen Höchstgrenze von 10.000,00 DM und in einem Fall nur unwesentlich darunter festgelegt worden. Dies sei nur in außergewöhnlichen Fällen bei Zusammentreffen mehrerer erschwerender Umstände zulässig. Ob hier ein Fall dieser Art gegeben sei, habe der Beklagte nicht dargetan. Auch die Verspätungszuschläge für Lohnsteuervoranmeldungen seien deutlich überhöht und ermessenfehlerhaft. Wenn die Klägerin aus der verspäteten Abgabe der Steuervoranmeldungen auch keine Zinsvorteile erzielt habe, so sei deren theoretische Höhe doch bei der Bemessung der Zuschläge zu berücksichtigen. Die Summe dieses Zinsvorteils in Höhe von 8.423,00 DM werde durch die streitbefangenen Festsetzungen um 54.386,00 DM überschritten.

Mit Urteil vom 29.01.1998 (10 K 4851/97) hob das Finanzgericht den Ablehnungsbescheid vom 06.03.1996 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 28.05.1997 auf und verpflichtete den Beklagten, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. In den Urteilsgründen wird hierzu weiter ausgeführt, dass der Beklagte die nach § 130 Abs. 1 i. V. m. § 5 AO in seinem Ermessen stehende Ablehnung der Rücknahme der streitbefangenen Verspätungszuschlagsfestsetzungen auf deren Ermessensfehlerfreiheit nach Grund und Höhe gestützt, tatsächlich aber das ihm nach § 152 Abs. 2 i. V. m. § 5 AO obliegende Auswahlermessen hinsichtlich der Höhe dieser Verspätungszuschläge auch bei dieser negativen Entscheidung über die Rücknahme hinsichtlich der gesetzlichen Kriterien der Höhe des sich aus den Steuerfestsetzungen ergebenden Zahlungsanspruchs und der aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärungen gezogenen Vorteile nicht ausgeübt habe. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.

Mit Bescheid vom 06.03.1998 lehnte der Beklagte erneut die Rücknahme der streitbefangenen Verspätungszuschlagsfestsetzungen ab. Zur Begründung berief er sich nunmehr darauf, dass die Verspätungszuschlagsfestsetzungen bestandskräftig geworden seien. Bei der Ermessensentscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen unanfechtbaren Verwaltungsakts gemäß § 130 Abs. 1 AO sei zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits eine Abwägung zu treffen. Im vorliegenden Fall komme dem Rechtsfrieden größere Bedeutung zu. Ein Steuerpflichtiger, der erst nach Unanfechtbarkeit einen Antrag auf Rücknahme nach § 130 Abs. 1 AO stelle, dürfe nicht besser gestellt werden, als derjenige, der den Verwaltungsakt fristgerecht mit der Beschwerde anfechte und dadurch Gefahr laufe, dass die Behörde einen Ermessensfehlgebrauch im Rechtsbehelfsverfahren korrigiere bzw. heile. Die Darlegungen zur wirtschaftlichen und finanziellen Situation der KG im Jahre 1994 rechtfertigten kein anderes Ergebnis. Denn diese Gründe hätte die KG bereits mit fristgerechten Einsprüchen gegen die Verspätungszuschlagsfestsetzungen vorbringen können. Dass die KG zur Einlegung von Rechtsbehelfen in der Lage gewesen sei, zeige ihr Vorgehen gegen die Festsetzungen der Verspätungszuschläge zu den Umsatzsteuervoranmeldungen Juni und Juli 1994. Bei der vorzunehmenden Abwägung könne schließlich auch der verstrichene Zeitraum zwischen Eintritt der Bestandskraft und dem Antrag auf Rücknahme gemäß § 130 Abs. 1 AO nicht unberücksichtigt bleiben. Je länger die Bestandskraft eingetreten sei, um so mehr Gewicht erlange das Kriterium des Rechtsfriedens gegenüber dem der materiellen Gerechtigkeit. Dies zeige die in § 110 Abs. 3 AO geregelte Jahresfrist bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Im Streitfall sei der Antrag auf Rücknahme bezüglich der nicht mit Einspruch angefochtenen Verspätungszuschlagfestsetzungen erst rund ein Jahr nach Eintritt der Bestandskraft gestellt worden.

Weiterhin stellte der Beklagte dar, dass er sich zur Festsetzung der Verspätungszuschläge rechnergesteuerter Schätzungsvorschläge bediene. Die Schätzungsvorschläge in diesem automatisierten Verfahren berücksichtigten die Höhe der angemeldeten Steuer, die Dauer der Verspätung und die Anzahl der bisherigen Verspätungen. In den Festsetzungsvorschlag sei die wiederholte Verspätung mit 1 % der abgerundeten Steuer eingeflossen. Dieser Prozentsatz habe sich bei jeder weiteren Verspätung um jeweils 1 % erhöht, soweit zwischenzeitlich nicht Anmeldungen fristgerecht eingereicht worden seien. Die Dauer der Verspätung habe mit 0,1 % je volle 3 Tage der Verspätung Berücksichtigung gefunden. Neben dem Zuschlag wegen der Dauer der Verspätung sei ein weiterer Zuschlag wegen des aus der verspäteten Abgabe gezogenen Zinsvorteils nicht vorgenommen worden, da dieser damit abgedeckt gewesen sei.

Mit dem hiergegen eingelegten Einspruch berief sich die Klägerin darauf, dass das Finanzgericht Köln im Verfahren 10 K 4851/97 einen Erledigungsvorschlag unterbreitet habe (Herabsetzung der Verspätungszuschläge auf rund 15.000,00 DM), dem der Beklagte mit der Neubescheidung nicht gefolgt sei. Der Eintritt der Bestandskraft der Verspätungszuschlagsfestsetzungen werde bestritten. Selbst bei Eintritt der Bestandskraft dürfe eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts aber nicht alleine mit der Begründung abgelehnt werden, dass der Steuerpflichtige ein Rechtsmittel hätte einlegen können (Urteil des BFH vom 09.03.1989, BStBl II 1989, 749). Wenn der Steuerpflichtige die Mängel des Verwaltungsaktes schlüssig bezeichne, müsse eine erneute Sachprüfung vorgenommen werden.

Diesen Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 30.05.1998 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass zum Zwecke der einvernehmlichen Beilegung des Rechtsstreits unterbreitete Vorschläge des Finanzgerichts ihn bei der Ermessensausübung nicht binden könnten. Das Finanzgericht dürfe die allein maßgeblichen Ermessenserwägungen der Verwaltung nicht durch eigene Erwägungen ersetzen. Dementsprechend enthalte das ergangene Urteil auch keine Aussage darüber, ob das Finanzamt die Verspätungszuschläge ganz oder teilweise zurücknehmen müsse. Wegen des der Behörde durch § 130 Abs. 1 AO eingeräumten Ermessensspielraums werde auf das Urteil des BFH vom 23.01.1991 I R 22/90 (BStBl II 1991, 552) verwiesen. Soweit in dem früheren Urteil des VI. Senats des BFH vom 09.03.1989 VI R 101/84 unter weiteren Voraussetzungen eine erneute Sachprüfung gefordert werde, sei dem der I. Senat des BFH in der neueren Entscheidung nicht gefolgt. Der Vortrag, dass die Verspätungszuschlagfestsetzungen nicht bestandskräftig geworden seien, sei schließlich nicht nachvollziehbar.

Das Gericht hob mit Urteil vom 29.4.1999 10 K 4575/98 auch diesen Ablehnungsbescheid auf und verpflichtete den Beklagten zur Neubescheidung. Zur Begründung führte der Senat aus:

Im Streitfall habe der Beklagte gegen den Ermessensgrundsatz der Gleichbehandlung verstoßen (vgl. dazu Tipke/Kruse, 74. Lfg., § 5 AO, Tz. 26), indem er die ermessensregelnde Bestimmung des AO-Anwendungserlasses zu § 130 Nr. 2, a. a. O., zu Ungunsten der Klägerin nicht angewandt habe und deshalb in eine inhaltliche Überprüfung seiner Ermessensentscheidung über die Rücknahme der Verspätungszuschlagsfestsetzungen nicht eingetreten sei. Mit der genannten Bestimmung des AO-Anwendungserlasses habe sich der Erlassgeber unter Abänderung seiner früheren Auffassung dem Urteil des BFH vom 09.03.1989 VI R 101/84 (BStBl II 1989, 749) angeschlossen, wonach bei beantragter Rücknahme eines Verwaltungsakts nach § 130 AO die Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts nicht allein deshalb abgelehnt werden dürfe, weil der Betroffene ein Rechtsmittel hätte einlegen können. Eine Einschränkung dieser Überprüfungspflicht statuiere der AO-Anwendungserlass lediglich insoweit, als der Steuerpflichtige die Gründe, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des bestandskräftigen Verwaltungsakts ergeben sollen, schlüssig bezeichnen müsse (vgl. dazu auch Urteil des BFH vom 30.10.1990 VII R 106/87, BFH/NV 1991, 509). Der engeren Auffassung des BFH-Urteils vom 26.03.1991 VII R 15/89 (BStBl II 1991, 552), auf das der Beklagte seine Entscheidung maßgeblich stütze, sei der Erlassgeber demgegenüber nicht gefolgt. Unabhängig von der Frage der ordnungsgemäßen Bekanntgabe der Festsetzungen und der Richtigkeit der erteilten Rechtsbehelfsbelehrungen sei im übrigen nicht ohne weiteres erkennbar, wie der Einspruch gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags zur Umsatzsteuer Juni 1994 durch die Neufestsetzung vom 03.11.1994 erledigt worden sein und deshalb diese Festsetzung bestandskräftig geworden sein könnte.

Entgegen der Auffassung des Beklagten könne der Senat der angegriffenen Ermessensentscheidung keine Darlegungen zu der Frage entnehmen, ob die Verspätungszuschläge der Höhe nach zu Recht festgesetzt worden seien.

Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 21.10.1999 eine Aufhebung bzw. Änderung der Verspätungszuschläge erneut ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus:

Gemäß § 152 Abs. 1 AO könne das Finanzamt gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht fristgerecht nachkomme, einen Verspätungszuschlag festsetzen. Ein Versäumnis sei entschuldbar, wenn ein Steuerpflichtiger oder sein Vertreter die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zuzumutende Sorgfalt nicht außer Acht gelassen habe. Der KG bzw. ihren Vertretern sei die Verpflichtung zur fristgerechten Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen und Lohnsteueranmeldungen bekannt gewesen. Soweit vorgetragen werde, dass die Versäumnis eingetreten sei, weil sich die Gesellschaft in einer existenzbedrohlichen Situation befunden habe und zunächst alle Personalkräfte in die Rettung und Sanierung des Unternehmens eingebunden worden seien, mache dies das Versäumnis nicht entschuldbar. Die steuerlichen Pflichten stünden den übrigen Verpflichtungen der Gesellschaft gleichwertig gegenüber und seien nicht niedrigeren Rechts.

Die Verspätungszuschläge seien auch der Höhe nach gerechtfertigt. Zweck der Ermächtigung zur Festsetzung eines Verspätungszuschlags sei, die Personen, die Steuererklärungen abzugeben hätten, zur Einhaltung der Abgabefrist anzuhalten. Die festgesetzten Verspätungszuschläge seien auf der Grundlage der Höhe der angemeldeten Steuer, der Dauer der Verspätung und der Anzahl der bisherigen Verspätungen festgesetzt worden. Bei der erstmaligen Verspätung sei noch kein Verspätungszuschlag festgesetzt worden. Jede weitere verspätete Abgabe sei mit 1 % der angemeldeten Steuer berücksichtigt worden. Für die Dauer der Verspätung sei der sich nach der Anzahl der verspäteten Abgaben ergebende Prozentsatz um jeweils 0,1 % je volle drei Tage der Verspätung erhöht worden. Wegen der Berechnung der festgesetzten Verspätungszuschläge wird auf den Ablehnungsbescheid Bezug genommen. Vorliegend überstiegen zwar die Verspätungszuschläge die aus der verspäteten Abgabe erzielten Zinsvorteile. Der Zinsvorteil stelle jedoch nur ein Kriterium für die Bemessung des Verspätungszuschlags dar. Bei der Bemessung sei vom Zweck auszugehen, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung anzuhalten. Demgemäß müsse der Verspätungszuschlag so bemessen sein, dass er ein wirksames Druckmittel sei.

Den gegen den Ablehnungsbescheid eingelegten Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000, auf die Bezug genommen wird, als unbegründet zurück.

Mit der Klage trägt die Klägerin vor:

Die Vermutung, dass die Anmeldungen für sämtliche hier getroffenen Voranmeldungszeiträume ein Ausstellungsdatum trügen, um sich bei der Rettung und Sanierung zusätzliche Liquidität zu verschaffen, gehe am tatsächlichen Sachverhalt vorbei. Sie habe alle zur Verfügung stehenden Mitarbeiter zur Rettung des Unternehmens für produktive Tätigkeiten eingesetzt. Die Abgabe der Voranmeldungen habe sich verspätet, weil sie tatsächlich erst verspätet erstellt wurden. Die Angabe eines Ausstellungsdatums innerhalb der Abgabefrist erfolge schematisch, unabhängig von dem tatsächlichen Erstellungszeitpunkt. Der Bundesfinanzhof habe in seinem Urteil vom 11. Juni 1997 (BStBl II 1997, 642, 646) ausgeführt, dass die Begründung eines Verspätungszuschlags rechtsfehlerhaft sein könne. Die Bestimmung des anzuwendenden Rechnungszinsfußes gehöre zu den wesentlichen Ermessenserwägungen, welche in die der Verwaltung obliegende Gesamtwürdigung aller einschlägigen Gesichtspunkte einfließen müsse. Zinshöhe und Zinszeitdauer der Verspätung müssten festliegen, bevor die Verwaltung auf dieser Grundlage die rechtlich gebotenen Überlegungen zur beabsichtigten Wirkungsweise anstellen könne.

In der Einspruchsentscheidung vom 28. Mai 1997 habe der Beklagte folgende Verspätung in Tagen für die Abgabe der Voranmeldungen aufgeführt:

 Abgabedatum FinanzamtVerspätungSOLL (S=Schätzung) in Tagen
Umsatzsteuer-Voranmeldung    
Mai 199410.07.9406.09.9456
Juni 199410.08.94(S) 21.09.9441
Juli 199410.09.94(S) 19.10.9439
August 199410.10.94(S) 18.11.9438
Lohnsteuer-Anmeldung    
Juni 199410.07.9406.09.9456
Juli 199410.08.94(S) 20.09.9440
August 199410.09.9426.10.9446
September 199410.10.9426.10.9416

Demgegenüber hat er in der Einspruchsentscheidung vom 21.Oktober 1999 eine andere Berechnung vorgenommen.

 Umsatzsteuer-Voranmeldung   Verspätung in Tagen
Mai 1994  22
Juni 1994  30
Juli 1994  25
August 1994  24
    
Lohnsteuer-Voranmeldung   Verspätung in Tagen
Juni 1994  50
Juli 1994  28
August 1994  38
September 1994  10

Es werde deutlich, dass diese Verspätung in Tagen von den ursprünglich angesetzten Werten abweiche. Es könne sich daher bei diesen angesetzten Verspätungstagen nicht um Überlegungen handeln, die vor der Festlegung der Verspätungszuschläge angestellt wurden. Es handele sich vielmehr um nachträgliche Berechnungen zur Darlegung, wie man angeblich die Höhe der Verspätungszuschläge ermittelt habe. Damit sei die Ermittlung der Verspätungszuschläge rechtsfehlerhaft.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 21. Oktober 1999 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 6. November 2000 zu verpflichten, die Verspätungszuschläge auf insgesamt 23.000,-- DM festzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf die Einspruchsentscheidung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet.

Die Weigerung des Beklagten, die festgesetzten Verspätungszuschläge herabzusetzen, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, vgl. § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -. Da die Sache spruchreif ist, war der Beklagte zur Herabsetzung der Verspätungszuschläge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu verpflichten.

Nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung 1977 - AO - kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise zurückgenommen werden.

Die ursprünglichen Festsetzungen von Verspätungszuschlägen zur Umsatzsteuervoranmeldung Mai bis August 1994 bzw. Lohnsteueranmeldungen Juni bis September 1994 waren rechtswidrig. Sie enthielten, wie sich aus den Urteilen des erkennenden Senats vom 29. Januar 1998 und 29. April 1999 ergibt, keine ausreichenden Ermessenserwägungen zur Festsetzung von Verspätungszuschlägen dem Grunde und der Höhe nach. Die Vertreterin des Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung selber eingeräumt, dass die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Festsetzungen bezüglich der Verspätungstage und der Höhe der festzusetzenden Verspätungszuschläge nicht mehr ermittelt werden könnte, da weder der damalige Sachbearbeiter noch die entsprechenden Unterlagen hierüber noch vorhanden seien.

Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes steht nach § 130 Abs. 1 AO im Ermessen des Beklagten. Dieses Ermessen hat der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid, mit dem er eine Rücknahme bzw. Herabsetzung der Verspätungszuschläge abgelehnt hat, fehlerhaft ausgeübt. Ihm ist insoweit ein entscheidender Ermessensfehlgebrauch unterlaufen, als er nicht berücksichtigt hat, dass die Steuerpflichtige, die die Verspätungen zu vertreten hatte, durch Verschmelzung erloschen ist. Zwar tritt nach § 45 Abs. 1 Satz 1 AO bei Gesamtrechtsnachfolge der Rechtsnachfolger, die Klägerin, in die Schulden aus dem Steuerschuldverhältnis ein. Dies gilt auch in Bezug auf festgesetzte Verspätungszuschläge. Bei einem Antrag auf Rücknahme der festgesetzten Verspätungszuschläge ist in die Ermessenserwägungen jedoch einzubeziehen, dass der Steuerpflichtige, der die Verspätungen verschuldet hat, nicht mehr durch die Festsetzung von Verspätungszuschlägen zu einer rechtzeitigen Abgabe von Steuererklärungen angehalten werden kann. Gleichwohl hat der Beklagte in dem Ablehnungsbescheid vom 21. Oktober 1999 als wesentliches Kriterium für die Bemessung des Verspätungszuschlags ausgeführt, der Zinsvorteil stelle nur ein Kriterium dar und bei der Bemessung sei von dem Zweck auszugehen, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung anzuhalten. Demgemäß müsse der Verspätungszuschlag so bemessen sein, dass er ein wirksames Druckmittel sei. Genau diesen Druck kann der Beklagte jedoch nicht mehr ausüben, wenn zwischenzeitlich der Steuerpflichtige erloschen ist.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass nach dem nicht widersprochenen Vortrag der Klägerin ihr eigenes Abgabeverhalten bis auf den heutigen Tag ohne Beanstandungen durch den Beklagten geblieben ist, d.h. sie musste selber nicht zur ordnungsgemäßen Abgabe von Steuererklärungen durch Druckmittel angehalten werden.

Da der Ablehnungsbescheid wegen Ermessensfehlgebrauch rechtswidrig ist, war er aufzuheben. Die Sache ist auch spruchreif. Im Streitfall liegt eine Ermessensreduzierung ähnlich der Ermessensreduzierung auf Null vor, die nur noch die Entscheidung, die Verspätungszuschläge auf den in dem Tenor genannten Betrag herabzusetzen, richtig erscheinen lässt. Dabei lässt sich der Senat von folgenden Erwägungen leiten:

Bereits zweimal ist der Beklagte in der selben Angelegenheit zur Neubescheidung verurteilt worden. Beide Male ist ihm dies nicht in rechtlich einwandfreier Form gelungen. Auch der dritte Versuch ist, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, misslungen. Hätte der Senat erneut ein Bescheidungsurteil erlassen, was aus rechtlichen Gründen nahe gelegen hätte, würde die große Gefahr bestehen, dass auch der vierte Anlauf, rechtlich zutreffend über den Antrag der Klägerin auf Herabsetzung der festgesetzten Verspätungszuschläge zu entscheiden, dem Beklagten misslingen wird. Hinzu kommt, dass die Vertreterin des Beklagten auf Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt hat, dass die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Festsetzungen heute nicht mehr überprüft werden könne, da die hierzu erforderlichen Unterlagen sowie der damalige Sachbearbeiter nicht mehr vorhanden seien. Deshalb hat der Senat in der mündlichen Verhandlung auch den Beteiligten vorgeschlagen, den Fall außergerichtlich zu erledigen. Während der Vertreter der Klägerin auf diesen Vorschlag eingegangen ist, sah die Vertreterin des Beklagten hierzu keine Möglichkeit. Dies legt den Schluss nahe, dass auch ein weiteres Verfahren sich angeschlossen hätte. Dies ist in Anbetracht der bisher verstrichenen Zeit und der bisher vergeblichen Versuche des Beklagten, rechtlich einwandfrei über den Antrag der Klägerin zu entscheiden, nicht mehr vertretbar. Deshalb musste der erkennende Senat trotz gewisser Bedenken die Sache durchentscheiden.

Bei der Entscheidung über die Höhe des festzusetzenden Verspätungszuschlags orientiert der Senat sich an den Vorschlägen, die bereits in den vorangegangenen Verfahren zur außergerichtlichen Erledigung des Rechtsstreits gemacht worden sind. Danach sollte die Höhe der Verspätungszuschläge nach dem gezogenen Zinsvorteil berechnet und dieser Zinsvorteil verdoppelt werden. Dies legt der Senat auch seiner Entscheidung zugrunde. Danach ergibt sich eine Gesamtsumme der festzusetzenden Verspätungszuschläge von 23.000,-- DM. Da zwischen den Beteiligten unstreitig ist, dass die rechtlich einwandfreie Höhe der einzelnen Verspätungszuschläge heute nicht mehr ermittelt werden kann, geht der Senat davon aus, dass jeder Verspätungszuschlag auf 23/63 (die Gesamtsumme der damals festgesetzten Verspätungszuschläge betrug 63.100,-- DM) herabzusetzen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 FGO, 708 Nr. 10 analog, 711 der Zivilprozessordnung.



Ende der Entscheidung

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