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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Köln
Urteil verkündet am 19.12.2008
Aktenzeichen: 4 K 1870/07
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Köln

4 K 1870/07

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wurde in den Streitjahren einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Die Veranlagung für das Jahr 2001 wurde am 28.04.2003, die Veranlagung für das Jahr 2002 am 03.06.2004 durchgeführt.

Mit Wirkung vom 11.12.2002 trat die Klägerin aus der evangelischen Kirche aus.

Mit Schreiben vom 25.05.2004 teilte der Steuerberater der Klägerin dem Beklagten den Kirchenaustritt im Jahre 2002 mit und beantragte die Herabsetzung der für das Kalenderjahr 2003 festgesetzten und gezahlten Kirchensteuervorauszahlungen auf 0 €.

Der Beklagte entsprach dem Antrag im Juni 2004 und erstattete die im Kalenderjahr 2003 entrichteten Kirchensteuervorauszahlungen in Höhe von insgesamt 103.118 €.

Die Einkommensteuerveranlagung 2003 wurde im April 2005 durchgeführt. Hierbei berücksichtigte das Finanzamt antragsgemäß die geltend gemachten Kirchensteuervorauszahlungen in Höhe von 103.118 €.

Am 04.05.2005 ergingen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2001 und 2002. Hintergrund der Änderungen war eine Außenprüfung in einem Unternehmen, an dem die Klägerin beteiligt war.

Bei Durchführung der Einkommensteuerveranlagung 2004 im Januar 2006 wurde folgender maschineller Veranlagungshinweis ausgegeben:

"Die im Veranlagungszeitraum 2004 erstattete Kirchensteuer übersteigt die gezahlte Kirchensteuer um 114.597 €. Es ist zu prüfen, ob der Sonderausgabenabzug des Zahlungsjahres ggf. durch Änderung gemäß § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO um den Erstattungsüberhang zu mindern ist."

Dieser Erstattungsüberhang berechnete sich wie folgt:

Steuerart und -zeitraum Zahlung/Erstattung Steuerbetrag

Nachzahlung 1999/2000 Nov/Dez. 2004 5.460,98 €

Zahlung Kirchensteuer 2002 21.07.2004 94,32 €

Zahlung Kirchensteuer 2002 15.12.2004 1.304,28 €

Zahlung Kirchensteuervz I/2004 10.03.2004 25.001,00 €

Erstattung Kirchensteuer 2001 20.01.2004 -965,32 €

Erstattung Kirchensteuer 2001 11.11.2004 -456,76 €

Erstattung Kirchensteuer 2002 04.06.2004 -16.917,32 €

Erstattung Kirchensteuer 2003 09.06.2004 -103.118,00 €

Erstattung Kirchensteuervz I/2004 09.06.2004 -25.001,00 €

Summe 114.597,82 €

Der Beklagte teilte daraufhin den Erstattungsüberhang auf die Verausgabungsjahre 2001 bis 2003 im Verhältnis der Erstattungen aus diesen Veranlagungsjahren auf und änderte die Einkommensteuerfestsetzungen 2001 und 2002 mit Bescheiden vom 17.05.2006 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Hierin verteilte er den Erstattungsüberhang aus 2004 (114.597 €) in der Weise, dass er jeweils die als Sonderausgaben berücksichtigten Kirchensteuerzahlungen minderte, und zwar für 2001 um 2.654 DM (1.357 €), für 2002 um 14.812 € und für 2003 um 98.426 €.

Die Klägerin legte gegen diese Bescheide Einspruch ein. Hinsichtlich der Einkommensteuer 2003 half der Beklagte dem Einspruch ab, da bei der Einkommensteuerveranlagung 2003 im April 2005 der Kirchenaustritt bekannt war. Im übrigen wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Gegen die Einkommensteueränderungsbescheide 2001 und 2002 richtet sich die Klägerin nach insoweit erfolglosem Einspruchsverfahren.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht vorliegen. Insbesondere sei der zu ändernde Bescheid vom 04.05.2005 nicht zunächst rechtmäßig und dann durch ein rückwirkendes Ereignis nach seinem Erlass unrichtig geworden, womit ihrer Ansicht nach der Anwendungsbereich der Berichtigungsvorschrift nicht eröffnet sei. Denn § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO stelle nicht allein auf ein rückwirkendes Ereignis ab, sondern auch darauf, dass dieses nachträglich, also nach Erlass des - letzten - Steuerbescheides eingetreten sei. Insofern sei zu unterscheiden zwischen der Frage, ob ein Ereignis steuerliche Rückwirkung habe - was hier in Bezug auf den Kirchensteuererstattungsüberhang auch nicht in Frage gestellt werde - und der konkreten Bescheidlage. Eine Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO sei nur dann möglich, wenn das Ereignis nachträglich, also nach Erlass des - ggf. zuletzt erlassenen - zu ändernden Bescheides eintrete und diesen letzten Bescheid damit falsch werden lasse. Die Durchbrechung der Bestandskraft sei nur dann gerechtfertigt, wenn ein richtig ermittelter und beurteilter Sachverhalt durch eine später, nämlich nach Erlass des zu ändernden Steuerbescheides, eingetretene Entwicklung verändert werde. Dies sei hier bezogen auf den zu ändernden Bescheid vom 04.05.2005 aber nicht der Fall, da das rückwirkende Ereignis bereits mit Ablauf des Jahres 2004, also vorher, eingetreten sei. Davon gehe erkennbar auch der Beklagte aus, wenn er die Verzinsung nach § 233 AO ab dem 01.04.06 - d.h. 15 Monate nach Eintritt des Ereignisses in 2004 - vornehme. Dass dem Beklagten der Erstattungsüberhang erst bei Veranlagung des Jahres 2004 im Jahr 2006 aufgefallen sei, sei irrelevant, da es auf eine etwaige Kenntnis des Beklagten im Rahmen von § 175 AO - anders als bei § 173 AO - nicht ankomme. Im übrigen müsse der Beklagte mit Ablauf des Jahres 2004 den Erstattungsüberhang, welcher nur aus von ihm erlassenen Bescheiden resultiere, jedenfalls gekannt haben. Die Tatsachen, die einen Erstattungsüberhang begründeten, seien sogar vom Beklagten selbst geschaffen worden und zwar mit Ablauf des Jahres 2004. Zu diesem Zeitpunkt hätten damit spätestens die Voraussetzungen für eine Änderung vorgelegen, ohne dass es darauf ankomme, dass der Beklagte erst im Jahre 2006 die entsprechenden Schlussfolgerungen aufgrund des maschinellen Prüfhinweises gezogen habe. Die zu ändernden Steuerbescheide vom 04.05.2005 seien damit eben nicht vor Eintritt des rückwirkenden Ereignisses rechtmäßig gewesen und dann durch den Eintritt des Ereignisses unrichtig geworden, sondern diese Bescheide seien von vornherein unrichtig gewesen. Die rückwirkende Änderung hätte aber ihrer Ansicht nach bereits in diesen Bescheiden berücksichtigt werden müssen. Wenn der Sachverhalt Kirchensteuerüberhang in den Änderungsbescheiden vom 04.05.2005, also nach Eintritt des rückwirkenden Ereignisses, dagegen nicht berücksichtigt worden sei, sei die Änderungsbefugnis "verbraucht". Eine erneute Änderung könne nicht mehr auf die Berichtigungsvorschrift des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO gestützt werden. Zur Begründung ihrer Rechtsauffassung verweist die Klägerin auf AEAO § 175 Tz. 2.3; BFH, BStBl II 1984, 786, BStBl II 1989, 75, BStBl II 2002, 3 ; Klein-Brockmeyer, AO § 175 Rn. 52; Tipke/Kruse § 175 Tz. 23; Beermann/von Wedelstädt § 175 Rn. 54, Pahlke/Koenig § 175 Rn. 40 und speziell zu der hier vorliegenden Konstellation auf OFD Rheinland vom 24.04.2007 Az. S 0353-011-St316/S 2221-1038-St. 224 (ESt); OFD Karlsruhe DStR 2003, 738; OFD Frankfurt DStZ 2005, 684; FG Düsseldorf, Beschluss vom 23.03.2004 18 V 874/04 Tz. 21.

Die Klägerin beantragt,

die geänderten Einkommensteuerbescheide 2001 und 2002 vom 17.05.2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.04.2007 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist der Ansicht, dass die Änderung nicht bereits in dem Änderungsbescheid vom 04.05.2005 berücksichtigt hätte werden müssen. Denn erst im Jahr 2006 seien die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO geschaffen worden, da der Eintritt des rückwirkenden Ereignisses - in Form des Kirchensteuerüberhangs - erst hier endgültig festgestanden habe. Hier sei zu berücksichtigen, dass eine Änderung zu unterbleiben habe, wenn eine Verrechnung mit gleichartigen Sonderausgaben im Jahr der Erstattung möglich sei. Dass dies im Streitfall nicht möglich gewesen sei, habe aber erst im Jahr 2006 bei Durchführung der Veranlagung 2004 festgestanden, so dass jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt ein "Verbrauch" der Änderungsbefugnis nicht vorliegen könne.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

I. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Beklagte hat zu Recht den Kirchensteuererstattungsüberhang 2004, der nach Verrechnung der in 2004 an die Klägerin erfolgten Kirchensteuerrückzahlungen für die Jahre 2001 bis 2003 mit der in 2004 von der Klägerin gezahlten Kirchensteuer verblieb, als rückwirkendes Ereignis behandelt, in die Streitjahre zurückgetragen und entsprechend die in den vorhergehenden Einkommensteuerbescheiden als Sonderausgabe abgezogene Kirchensteuer um die anteiligen Beträge des Erstattungsüberhangs gemindert.

1. Ein Steuerbescheid ist zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis), § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - (Urteile vom 7. Juli 2004 XI R 10/04, BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058 undvom 08. September 2004 XI R 52/03, in [...]) ist die Erstattung von Kirchensteuer ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Der Abzug von Sonderausgaben im Sinne des § 10 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) setzt, wie dem Eingangssatz dieser Norm zu entnehmen ist, "Aufwendungen" voraus. Der Begriff "Aufwendungen" bedeutet, dass nur solche Ausgaben als Sonderausgaben berücksichtigt werden dürfen, durch die der Steuerpflichtige tatsächlich und endgültig wirtschaftlich belastet ist (vgl. BFH-Urteil vom 7. Juli 2004 XI R 10/04, BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058). Daran fehlt es, wenn Sonderausgaben nachträglich erstattet werden.

Der BFH hat zwar bei der Kirchensteuer als einer jährlich wiederkehrenden Sonderausgabe aus Gründen der Praktikabilität eine Verrechnung erstatteter Kirchensteuer mit im Jahr der Erstattung gezahlter Kirchensteuer zugelassen. Sind im Erstattungsjahr (hier 2004) die gezahlten Kirchensteuern aber niedriger als die erstatteten und ergibt sich ein Erstattungsüberhang, ist nachträglich die Einkommensteuer-Veranlagung des Zeitraums der Zahlung (hier 2001 bis 2003) der erstatteten Kirchensteuer durch eine entsprechende Kürzung des Sonderausgabenabzugs zu ändern. Andernfalls würde dem Steuerpflichtigen ein Steuervorteil verbleiben, obwohl er insoweit nicht endgültig belastet ist (vgl. BFH-Urteil vom 7. Juli 2004 XI R 10/04, BFHE 207, 28, BStBl II 2004, 1058).

Ist der Bescheid bereits bestandskräftig, ist die Änderung daher nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO vorzunehmen. Steht der Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, kann die gebotene Änderung auf § 164 Abs. 2 AO gestützt werden (BFH-Urteil vom 26. Juni 1996 - X R 73/94 - BStBl II 1996, 646).

Dabei kommt es auf den Rechtsgrund für die Erstattung kommt es nicht an. Entscheidend für die gebotene Korrektur ist allein die mangelnde endgültige wirtschaftliche Belastung. Die Erstattung von Kirchensteuer kann - wie hier - auf dem Grunde nach ganzjährig oder zeitanteilig nicht bestehender Kirchensteuerpflicht wegen mangelnder Kirchenangehörigkeit (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juni 1996 - X R 73/94 - BStBl II 1996, 646; BFH-Beschluss vom 14. Juli 2004 - XI B 187/03 - BFH/NV 2004, 1642) oder auf einer Herabsetzung von Einkommensteuer als Kirchensteuerbemessungsgrundlage beruhen (vgl. BFH-Urteil vom 23. Februar 2005 - XI R 68/03 - BFH/NV 2005, 1304). Denn auch bei der Verrechnung gezahlter und erstatteter Versicherungsbeiträge im selben Steuerabschnitt wird nicht danach unterschieden, ob die Erstattung ihren Rechtsgrund in der fehlenden Beitragspflicht oder in einer Beitragsermäßigung hat (vgl. BFH-Urteile vom 08. September 2004 - XI R 28/04 - BFH/NV 2005, 321 ;vom 20. Februar 1970 - VI R 11/68 - BStBl II 1970, 314; vom 27. Februar 1970 - VI R 314/67 - BStBl II 1970, 422).

Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Sie wird auch von den Beteiligten nicht in Frage gestellt und ist vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als verfassungsgemäß bestätigt worden (Beschluss vom 18. Februar 1988 - 1 BvR 930/86 - HFR 1989, 271, unter 1 b). Eine jüngst gegen eine auf dieser Rechtsprechung beruhende höchstrichterliche Entscheidung (BFH-Beschluss vom 28. Juni 2006 - XI B 163/05 - BFH/NV 2006, 1836) gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht gemäß §§ 93a, 93b Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss vom 20. März 2007 - 2 BvR 1871/06 - zitiert nach [...]).

2. Die Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall ergibt, dass die angefochtenen Einkommensteuerbescheide nicht zu beanstanden sind. Bei der im Jahr 2004 erstatteten Kirchensteuer handelte es sich um Kirchensteuer, die in den Jahren 2001 bis 2003 gezahlt wurde. Die Voraussetzungen für eine Änderung gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO lagen für die Streitjahre 2001 und 2002 am 17.05.2006 auch vor. Insbesondere hatte der Beklagte durch die vorhergehenden Änderungsbescheide vom 04.05.2005 seine Änderungsbefugnis nicht etwa "verbraucht".

a. Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass sich die Änderungsbefugnis nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO dem Grunde nach "verbrauchen" kann. Denn nach ständiger Rechtsprechung ergibt sich aus dem Tatbestandsmerkmal der Vorschrift, dass ein "Ereignis eintritt", dass der Vorgang sich nachträglich ereignen muss, d.h. nachdem der Steuerbescheid, der geändert werden soll, erlassen worden ist. Das Ereignis darf deshalb zum Zeitpunkt des Ergehens des Steuerbescheids noch nicht bestanden haben (vgl. BFH vom 19.07.1993, GrS 2/9, BStBl II 1993, 897; BFH-Urteil vom 14.12.2004 II R 35/03, BFH/NV 2005, 1093; Beermann in v. Wedelstädt § 175 Rz. 47 mit weiteren Nachweisen in Fußnote 8), weil nur dann die Notwendigkeit besteht - ausnahmsweise - die Bestandskraft zu durchbrechen (vgl. Tipke/Kruse § 175 Rz. 23). Danach ist nach einem BFH-Urteil vom 10.07.2002 (I R 69/00, BFH/NV 2002, 1545) Voraussetzung für eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO, dass ein rückwirkendes Ereignis nachträglich - d.h. nach Ergehen des Steuerbescheides - eintritt und nicht bereits bei dessen Erlass berücksichtigt werden konnte. Konnte das Ereignis bei Erlass des betreffenden Bescheids bereits berücksichtigt werden, greift § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dagegen nicht (vgl. BFH-Urteil vom 10.07.2002 I R 69/00, BFH/NV 2002, 1545). Die Überlegung, ob das Ereignis bereits berücksichtigt werden konnte, ist demnach immer in Bezug auf den zuletzt erlassenen Bescheid anzustellen, der nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden soll. Vorstehende Rechtsauffassung teilt i.Ü. auch die Verwaltung (vgl. z.B. OFD Rheinland vom 24.04.2007 AO-StB 2007, 152).

b. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die Erstattung der Kirchensteuer im Jahr 2004 im Streitfall aber ein Ereignis, das nach der - letzten - Festsetzung der Einkommensteuern 2001 und 2002 eingetreten ist. Zwar wurden die erstmaligen Einkommensteuerfestsetzungen für die Streitjahre mit Änderungsbescheiden vom 04.05.2005 nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert. Allerdings konnte zu diesem Zeitpunkt der Sachverhalt "Erstattungsüberhang des Jahres 2004" noch nicht in diesen Änderungsbescheiden durch den Beklagten berücksichtigt werden, da dieses Ereignis insbesondere nicht schon mit Ablauf des Erstattungsjahres am 31.12.2004 endgültig feststand.

In der Rechtsprechung ist - soweit ersichtlich - noch nicht abschließend geklärt, wann das Ereignis "Erstattungsüberhang" endgültig eingetreten ist. Auch § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bestimmt selbst nicht näher, unter welchen Voraussetzungen tatsächlicher oder rechtlicher Art das Tatbestandsmerkmal "rückwirkendes Ereignis" als erfüllt anzusehen ist. Die Vorschrift bedarf daher der Auslegung.

aa. Der BFH hat in einem kürzlich ergangenen Urteil vom 02. September 2008 (X R 46/07, BFH/NV 2008, 2073) zum Erstattungsüberhang ausdrücklich dahinstehen lassen, ob erst mit Durchführung der Veranlagung des Erstattungsjahres (im Streitfall Veranlagungszeitraum 2004) endgültig feststand, ob ein Erstattungsüberhang und damit ein auf die Zahlungsjahre rücktragfähiges Kompensationsvolumen entstanden ist. Das rückwirkende Ereignis (Eintritt des Erstattungsüberhangs) sei jedenfalls nicht vor dem Ende des Veranlagungszeitraums des Erstattungsjahres (hier 31.12.2004) eingetreten.

bb. Nach einer Entscheidung des Finanzgerichts (FG) Hamburg (Urteil vom 25. Januar 2006 I 174/05, EFG 2006, 1132) soll sich aus dem Bedeutungszusammenhang, in dem § 175 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 AO steht und aus seiner Zielsetzung ergeben, dass der Begriff "Ereignis" alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge umfasse. Dazu rechneten nicht nur solche mit ausschließlich rechtlichem Bezug, sondern auch tatsächliche Lebensvorgänge. Ferner verdeutliche die sprachliche Bedeutung des Begriffs "eintritt" und der Bedeutungszusammenhang mit § 173 Abs.1 AO, dass sich der Vorgang ereignen müsse, nachdem der Steueranspruch entstanden ist bzw. bei Änderung eines Steuerbescheids, nachdem dieser Steuerbescheid ergangen ist. Da sich zudem aus dem BFH-Urteil vom 07.07.2004 (XI R 10/04, BFHE 207,28, BStBl II 2004, 1058) ergebe, dass für eine rückwirkende Änderung des Zahlungsjahres nicht ausschließlich relevant sei, dass im Erstattungsjahr für frühere Jahre gezahlte Kirchensteuer zurückerstattet werde, sondern ein rückwirkendes Ereignis erst dann vorliege, wenn eine Verrechnung der Erstattung im Zahlungsjahr nicht möglich sei, sei das Ereignis "Erstattungsüberhang" erst mit der Konkretisierung der Nichtverrechenbarkeit durch den Erlass des Einkommensteuerbescheides des Erstattungsjahres (dort 2000; hier 2004) komplettiert worden. Damit war nach Ansicht des FG Hamburg nicht ausreichend, dass bereits mit Ablauf des Erstattungsjahres (dort 31.12.2000; hier 31.12.2004) gem. § 38 AO die Ansprüche aus dem Steuerverhältnis entstanden sind und rechnerisch festgestanden haben, sondern erst mit Erlass des Einkommensteuerbescheides des Erstattungsjahres, mit dem endgültig festgestanden habe, dass eine Verrechnung nicht möglich sein würde, sei das Ereignis abgeschlossen gewesen. In einer Entscheidung vom 23. März 2004 vertritt das FG Düsseldorf (18 V 874/04 A (E), EFG 2004, 1223 Rz. 22) dieselbe Ansicht.

cc. In einer Entscheidung vom 30.09.2005 (4 K 4598/03 E, EFG 2006, 10 Rz. 26) hat das FG Münster ausdrücklich offen gelassen, ob angesichts der bestehenden Verwaltungspraxis dahingehend, das Ereignis "Erstattungsüberhang" erst bei Durchführung der Veranlagung des Erstattungsjahres durch maschinelle Prüfhinweise zu überwachen, eine Änderung gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO auch noch erfolgen könne, wenn - wie hier - nach dem zeitlichen Ablauf des Erstattungsjahres, jedoch vor dessen Veranlagung Änderungsfestsetzungen in Bezug auf das Zahlungsjahr ergangen seien.

dd. Der erkennende Senat ist der Auffassung, dass allein durch die Erstattung der Kirchensteuer das rückwirkende Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO noch nicht eingetreten ist. Denn in 2004 war noch nicht ersichtlich, dass die Erstattung in 2004 nicht verrechnungsfähig sein würde. Dies ergab sich erst mit Durchführung der Veranlagung des Erstattungsjahres 2004 im Januar 2006. Diesbezüglich ist der Senat der Auffassung, dass erst frühestens mit Durchführung der Einkommensteuerveranlagung des Erstattungsjahres das Ereignis Erstattungsüberhang überhaupt abschließend eingetreten ist, weil sich erst dadurch die Nichtverrechenbarkeit des Erstattungsbetrages mit Zahlungen im Erstattungsjahr konkretisierte - insbesondere auch der Höhe nach (ähnlich FG Hamburg a.a.O. "mit Erlass des Einkommensteuerbescheides des Erstattungsjahres" mit Anmerkung Schlüßel AO-StB 2006, 256; kritisch dazu Thouet, DStR 2008, 29 m. w. N.). Bestätigt sieht sich der Senat in dieser Rechtsauffassung auch dadurch, dass die Klägerin z.B. durch den Wiedereintritt in eine (andere) Kirchengemeinschaft erneut eine Kirchensteuerpflicht hätte begründen können und somit Verrechnungspotential hätte schaffen können. Gleiches würde für den Fall einer Heirat des Steuerpflichtigen gelten. Ferner erscheint es dem Senat auch den Finanzbehörden nicht zumutbar, in jedem Steuerfall mit Ablauf des Erstattungsjahres bei Änderungen von Vorjahresveranlagungen, Saldierungsberechnungen - z.B. aus den Erhebungskontoauszügen - anzustellen, ohne hierfür konkreten Anlass zu haben. Vielmehr macht sich die Behörde erst mit Bearbeitung der Einkommensteuerveranlagung des Erstattungsjahres erstmalig Gedanken darüber, ob ein Ereignis steuerlich zu berücksichtigen ist und ob ein vorrangiger Ausgleich mit geleisteten Zahlungen im Erstattungsjahr nicht vollständig möglich ist.

3. Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass unabhängig von vorstehender Frage, wann der Erstattungsüberhang endgültig feststand, der Beklagte auch deshalb befugt war, eine erneute Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO durchzuführen, weil die zu ändernden Bescheide vom 04.05.2005 allein auf einer vorhergehenden Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO beruhten. Denn im Fall der reinen Umsetzung einer Folgebescheidsänderung ist das Finanzamt verpflichtet, einen Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung zu übernehmen. In diesem Fall hat der BFH (vgl. BFH-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 8/88, BStBl II 1989, 438) zu Recht anerkannt, dass es dem Finanzamt nicht zuzumuten sei, bei jeder Folgeänderung zu überprüfen, ob neue Sachverhalte, Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die eine weitergehende Änderung rechtfertigen könnten. Entsprechend kann nach Ansicht des Senates vom Finanzamt auch nicht verlangt werden, bei jeder Anpassung eines Folgebescheides den Sachverhalt auf ein zwischenzeitlich eingetretenes rückwirkendes Ereignis zu überprüfen (vgl. ebenso Bartmann StW 2003, 197f; in diesem Sinne auch FG Düsseldorf vom 23. März 2004, a.a.O. Rn. 22). Auch wenn die vorstehend angesprochene Entscheidung des BFH zu einer nachfolgende Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ergangen ist, handelt es sich nach Auffassung des Senates bei der Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO im Verhältnis zu § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO gleichfalls um eine punktuelle Änderung, ohne dass diese zwingend bzw. regelmäßig mit einer umfassenden erneuten Überprüfung des gesamten Steuerfalles einhergeht.

4. Ist danach die Änderung der vorhergehenden Bescheide dem Grunde nach nicht zu beanstanden, bestehen auch gegen die Höhe der ermittelten anteiligen Rücktragsbeträge nach Aktenlage keine Bedenken. Die Klägerin hat insoweit auch keinerlei Einwendungen erhoben.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache, insbesondere hinsichtlich der Frage, wann das Ereignis "Erstattungsüberhang" abschließend eintritt, sowie der Frage, ob sich die Änderungsbefugnis der Finanzbehörden auch im Fall der Umsetzung einer Folgebescheidsänderung bei der ein Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernommen wird, verbrauchen kann, nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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