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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 03.03.2009
Aktenzeichen: 10 K 2048/08
Rechtsgebiete: EStG, VO 1408/71/EWG


Vorschriften:

EStG § 62 Abs. 2
EStG § 63 Abs. 1
EStG § 65
VO 1408/71/EWG
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In der Streitsache

...

hat der 10. Senat des Finanzgerichts München

unter Mitwirkung ...

ohne mündliche Verhandlung

am 03. März 2009

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I. Der Kläger (Kl) ist polnischer Staatsangehöriger. Er ist der Vater der Kinder M (geb....07.1992), P (geb. ....07.1995), D (geb. ....02.2000) und I (geb. ....03.2005). Die Kinder leben bei der Ehefrau des Kl in Polen. Der Kl ist seit 25.06.2007 Mieter einer Wohnung in Deutschland und seit 01.07.2007 bei der zuständigen Meldebehörde gemeldet.

Seit 02.07.2007 ist er als Gewerbetreibender in Deutschland tätig. Angemeldet wurden die Tätigkeiten Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Betonstein- und Terrazzohersteller sowie Boden-leger. Nach der Bescheinigung der polnischen Versicherungsanstalt ZUS vom 22.10.2007 (Formular 101) unterliegt der Kl in Polen keiner Sozialversicherungspflicht.

Mit Beginn am 01.07.2007 hat der Kl in Deutschland eine private Rentenversicherung abgeschlossen. Nach Angaben des Kl ist seine Ehefrau in Polen nicht berufstätig.

Nach den Eintragungen bei Nr. 6.2 und Nr. 7 des Formulars E 411 wurde vom zuständigen polnischen Träger für Familienleistungen bestätigt, dass die Ehefrau des Kl für die Zeit ab 01.07.2007 Anspruch auf Familienleistungen für die vier Kinder hat.

Die Beklagte (die Familienkasse --FK--) setzte mit Bescheid vom 10.04.2008 zugunsten des Kl ab Juni 2007 nur jeweils die Hälfte des gesetzlichen Kindergelds fest. Im Übrigen lehnte sie die Kindergeldfestsetzung ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die FK mit Einspruchsentscheidung vom 04.06.2008 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die fristgerecht eingereichte Klage. Zu deren Begründung wird im Wesentlichen Folgendes geltend gemacht: Der Kl sei Selbstständiger im Sinne der Verordnung (EWG) 1408/71, da er nicht versicherungspflichtig sei und sich privat rentenversichert habe. Im Übrigen werden die Gründe des BFH-Urteils vom 13.08.2002 VIII R 54/00 (BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869) angeführt.

Der Kl beantragt,

die FK zu verpflichten, unter Abänderung des Bescheids vom 10.04.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.06.2008, ab Juni 2007 Kindergeld in voller Höhe festzusetzen.

Die FK beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie darauf, dass der Kl mangels Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und seine Ehefrau mangels Erwerbstätigkeit nicht in den Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen fielen. Wegen der in beiden Staaten bestehenden Ausschlussvorschriften bestehe nur ein Anspruch auf hälftiges Kindergeld.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze ... Bezug genommen.

Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung --FGO--).

II. 1. Die Klage ist unbegründet.

a) Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) hat für Kinder i.S. des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Der Kl ist seit 25.06.2007 Mieter einer Wohnung in Deutschland und geht von dort aus seiner gewerblichen Tätigkeit nach. Anhaltspunkte dafür, dass der Kl in dieser Wohnung keinen (weiteren) Wohnsitz begründet hätte, bestehen nicht.

Die einschränkenden Bestimmungen des § 62 Abs. 2 EStG greifen beim Kl nicht ein, da dieser seit dem Beitritt Polens zur EU am 01.05.2004 gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU) Freizügigkeit genießt.

b) Die Kinder des Kl werden nach § 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG berücksichtigt. Ein Anspruchsausschluss nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG findet nicht statt, da die Kinder bei der Ehefrau des Kl in Polen und damit in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union leben.

c) Der Kindergeldanspruch wird jedoch durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.

aa) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG wird nicht durch vorrangiges EU-Recht verdrängt.

Zwar bestimmt sich der Vorrang zwischen den Familienleistungen verschiedener EUMitglieder grundsätzlich nach den Prioritätsregeln der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. 1 28 vom 30. Januar 1997, S. 1) und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 (VO Nr. 574/72) des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (konsolidierte Fassung, ABlEG Nr. 1 28 vom 30. Januar 1997, S. 1).

Im vorliegenden Fall wird die Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG jedoch nicht durch die Verordnung Nr. 1408/71 sowie die Verordnung Nr. 574/72 verdrängt, denn das deutsche Kindergeld fällt zwar in den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 (vgl. dazu BFH-Urteil vom 13.08.2002 VIII R 54/00, BStBl II 2002, 869), da Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h) VO Nr. 1408/71 Familienleistungen wie das deutsche Kindergeld umfasst.

Der Kl wird aber nicht vom persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung erfasst.

Nach Art. 2 Abs. 1 VO Nr. 1408/71 gilt die Verordnung u.a. für Selbstständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedsstaats sind, sowie für deren Familienangehörige. Insoweit enthält Art. 1 Buchst a VO Nr. 1408/71 zwar eine allgemeine Definition des Begriffs "Selbstständiger". Dieser wird für den Bezug von Kindergeld nach deutschen Rechtsvorschriften jedoch durch die besondere Definition in Anhang I Teil I Buchst. E verdrängt.

Nach Anhang I Teil I Buchst. E Unterabs. b erster Spiegelstrich der VO Nr. 1408/71 gilt als Selbstständiger i.S. von Art. 1 Buchst. a Ziff. ii der VO Nr. 1408/71, wer eine Tätigkeit als Selbstständiger ausübt und in einer Versicherung der selbstständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters versicherungs- oder beitragspflichtig ist.

Selbstständige im Sinne dieser Verordnung sind damit die in § 2 S. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) aufgeführten Personenkreise, insbesondere Gewerbetreibende, die in die Handwerksrolle eingetragen sind und in ihrer Person die für die Eintragung in die Handwerksrolle erforderlichen Voraussetzungen erfüllen (§ 2 S. 1 Nr. 8 SGB VI). Ferner werden Personen erfasst, die im Zusammenhang mit ihrer selbstständigen Tätigkeit regelmäßig keinen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigen, dessen Arbeitsentgelt aus diesem Beschäftigungsverhältnis regelmäßig 400 EUR im Monat übersteigt, und die auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind (§ 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI). Des Weiteren erfasst § 4 Abs. 2 SGB VI alle sonstigen nicht nur vorübergehend selbstständig tätigen Personen, wenn sie die Versicherungspflicht innerhalb von fünf Jahren nach der Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit oder dem Ende einer Versicherungspflicht gemäß § 2 SGB VI aufgrund der selbstständigen Tätigkeit beantragen.

Im vorliegenden Fall erfüllt der Kl jedoch nicht die Voraussetzungen für die Eintragung in die Handwerksrolle (§ 6 Abs. 1 Handwerksordnung --HandwO--), da die von ihm angemeldeten Tätigkeiten nach Abschnitt 1 Nr. 1 und Nr. 2, Abschnitt 2 Nr. 3 Anlage B zu § 18 Abs. 2 HandwO als zulassungsfreie Handwerke bzw. handwerksähnliche Gewerbe betrieben werden können. Nicht ersichtlich ist auch, dass der Kl auf Dauer und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig ist. Schließlich wurde auch eine auf Antrag des Kl bestehende Versicherungspflicht nach § 4 Abs. 2 SGB VI nicht dargelegt.

Auch die Voraussetzungen einer auf sonstiger Grundlage beruhenden gesetzlichen Rentenversicherungspflicht im Sinne des Anhangs I Teil I Buchst. E Unterabs. b zweiter Spiegelstrich der VO Nr. 1408/71 wurden nicht dargelegt.

Die vom Kl abgeschlossene freiwillige private Rentenversicherung erfüllt dagegen nicht das Erfordernis einer Versicherungs- oder Beitragspflicht in einer Versicherung der selbstständig Erwerbstätigen im Sinne des Art. 1 Buchst. a Ziff. ii der VO Nr. 1408/71, weil die Vorschrift nur auf die sozialen Alterssicherungssysteme der einzelnen Mitgliedsstaaten und nicht auf privat vereinbarte Versicherungsverhältnisse abstellt.

Ob auch eine in Polen bestehende Sozialversicherungspflicht des Kl den persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet (s. hierzu BFH-Urteil in BStBl II 2002, 869, wonach der Berufstätige der Solidargemeinschaft des deutschen Sozialversicherungssystems angehören muss), kann der Senat dahingestellt sein lassen, da eine solche Versicherungspflicht nach der vom Kl vorgelegten Bescheinigung der polnischen Versicherungsanstalt ZUS vom 22.10.2007 (Formular 101) nicht bestand.

Auch über die Ehefrau des Kl ergibt sich keine Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Prioritätsregeln des Art. 76 VO Nr. 1408/71 und Art. 10 VO Nr. 574/72, da diese nach eigenen Angaben des Kl in Polen nicht erwerbstätig ist und sich auch sonst keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass sie Arbeitnehmerin, Selbstständige, Arbeitslose oder Rentnerin im Sinne der VO Nr. 1408/71 ist.

bb) Da es somit bei der Anwendung des § 65 EStG verbleibt, kommt es nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG darauf an, ob für die Kinder des Kl in Polen Leistungen gewährt werden, die dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind.

Dies ist vorliegend der Fall. Der zuständige polnische Träger für Familienleistungen hat nach den Eintragungen bei Nr. 6.2 und Nr. 7 des Formulars E 411 bestätigt, dass die Ehefrau des Kl für die Zeit ab 01.07.2007 Anspruch auf Familienleistungen für die vier Kinder hat. Die im Einspruchsverfahren vorgetragene Behauptung, die Ehefrau des Kl habe zwar Familienleistungen in Polen erhalten, müsse diese jedoch für drei Monate zurückzahlen, da der Kl in Deutschland gewerblich tätig sei, widerspricht zum einen bereits der vorgelegten Bestätigung E 411, in der eine ab 01.07.2007 bestehende Anspruchsberechtigung der Ehefrau bescheinigt wird. Zum anderen wurde diese Behauptung im Klageverfahren weder näher substantiiert noch unter Beweis gestellt. Der Senat hat daher keinen Grund an der Richtigkeit der in der Bescheinigung enthaltenen Angaben zu zweifeln.

Schließlich würde ein Bescheid über die Aufhebung und Rückforderung von Familienleistungen durch den zuständigen polnischen Träger keine Tatbestandswirkung für das vorliegende Verfahren entfalten, soweit er auf einer unzutreffenden Anwendung von Gemeinschaftsrecht beruht (BFH-Urteil in BFHE 200, 204, BStBl 2002, 869).

Die in Polen zu beanspruchenden Familienleistungen sind auch grundsätzlich dem in Deutschland gewährten Kindergeld vergleichbar, wie sich aus dem Schreiben des Bundesamtes für Finanzen an die Familienkassen vom 14. Februar 2002 (BStBl I 2002, 241) ergibt. Der Anspruch der Mutter der Kinder auf gleichartige Familienleistungen in Polen schließt einen Anspruch des Kl auf das inländische Kindergeld nach dem EStG daher aus.

cc) Ob die FK zu Recht unter (analoger) Anwendung der Art. 12 VO Nr. 1408/71 und Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 574/72 das hälftige Kindergeld gewährt hat, kann der Senat dahingestellt sein lassen. Denn jedenfalls ergibt sich aus diesen Vorschriften kein Anspruch auf das streitgegenständliche Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe. Vielmehr ist unter der Voraussetzung, dass auch die polnischen Rechtsvorschriften die Kürzung, das Ruhen oder die Entziehung der Familienleistungen vorsehen, eine Teilung der nicht zur Auszahlung kommenden Beträge durch die Anzahl der betroffenen Leistungen vorgesehen. Daraus ergibt sich bei den hier im Raum stehenden Leistungen zweier Mitgliedsstaaten eine Halbierung der auszuzahlenden Beträge. Diese Halbierung hat die FK vorgenommen. Eine weitergehende Kürzung wurde nicht durchgeführt.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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