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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 08.04.2009
Aktenzeichen: 10 K 784/08
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In der Streitsache

...

hat der 10. Senat des Finanzgerichts München

unter Mitwirkung ...

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 08. April 2009

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I. Die am ....10.1965 geborene Klägerin (Klin) nahm am 01.11.2003 M (geb. 18.06.1948) zur Betreuung in ihren Haushalt auf. M ist geistig behindert, hör-, seh- und gehbehindert. Der Grad der Behinderung beträgt gemäß dem ab 01.01.1978 gültigen Schwerbehindertenausweis 100, zusätzlich sind die Merkzeichen G und RF eingetragen. M arbeitet in einer Werkstatt für Behinderte. Als Betreuerin des M ist Rechtsanwältin D eingesetzt. Die Aufnahme des M erfolgte auf der Grundlage einer Vereinbarung über begleitetes Wohnen in der Familie vom 11./18.02.2004 zwischen dem Träger des Begleiteten Wohnens in der Familie, dem M und der Klin, auf den wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen wird. Grundlage des Vertrages sind die Eingliederungshilferegelungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bzw. des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XII) sowie die Leistungsvereinbarung zwischen dem Träger des begleiteten Wohnens und dem Landeswohlfahrtsverband (LWV). Der Träger der Sozialhilfe gewährt im Rahmen der Eingliederungshilfe für M ein monatliches Betreuungsgeld. Dieses beinhaltet zum einen die Hilfe zum Lebensbedarf bzw. die Grundsicherung. Der davon erfasste Grundbedarf, der Mehrbedarf und die Unterkunftskosten werden durch Leistungen des Sozialhilfeträgers gedeckt, soweit das einzusetzende eigene Einkommen des M (Rente wegen voller Erwerbsminderung, Lohn aus Behindertenwerkstätte) nicht ausreicht. Daneben umfasst das Betreuungsentgelt die Hilfe zur Pflege. Das Betreuungsentgelt wird über den Sozialhilfeträger bzw. die Betreuerin an die Klin ausgezahlt. Diese hat hieraus einen monatlichen Barbetrag und eine Bekleidungspauschale an M auszuzahlen. Der Träger des begleiteten Wohnens erhält für die fachliche Beratung und Begleitung des M und der Gastfamilie eine Leistungspauschale.

Am 01.12.2008 zog M in den Haushalt einer anderen Familie.

Die Beklagte (die Familienkasse --FK--) lehnte den Kindergeldantrag vom 23.07.2007 mangels Eltern-Kind-Verhältnis mit Bescheid vom 12.09.2007 ab. Hinsichtlich des Vorliegens der weiteren Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs für ein volljähriges behindertes Kind hat die FK bislang keine Entscheidung getroffen. Den gegen den Ablehnungsbescheid gerichteten Einspruch wies die FK mit Einspruchsentscheidung vom 31.01.2008 als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die fristgerecht eingereichte Klage. Zu deren Begründung wird im Wesentlichen Folgendes geltend gemacht: Die Klin besorge für M die Dinge des täglichen Lebens, sie koche für ihn, schneide ihm die Haare, achte auf Hygiene, wasche die Wäsche und kaufe für M ein. Insbesondere teile sie auch das Taschengeld für M ein, da dieser mit Geld nicht umgehen könne. Ferner überwache sie die Medikamenteneinnahme. M habe keine Familienangehörigen. Die Eltern seien 1969 bzw. 1993 verstorben. Die einzige noch lebende Tante wehre sich gegen einen Kontakt zu M. M sei aufgrund seiner Behinderung trotz Volljährigkeit nicht in der Lage ohne fremde Hilfe seine Angelegenheiten im Bereich der Lebensführung wahrzunehmen. Daher erbringe die Klin wegen insoweit gegebener Hilflosigkeit für M Betreuungs- und Erziehungsleistungen. Die Klin erbringe Betreuungsleistungen im Bereich der Gesundheitssorge, der häuslichen Versorgung, der Unterstützung bei Behördenangelegenheiten, der Vermögenssorge und der lebenspraktischen Tätigkeit. Aufgrund des fünfjährigen Zusammenlebens sei eine ideelle Dauerbindung entstanden, deren Lösung sowohl M als auch die Klin als belastend empfunden hätten.

Die Klin beantragt,

die FK unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 12.09.2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 31.01.2008 zu verpflichten, zu ihren Gunsten ab Dezember 2003 bis Februar 2008 Kindergeld für M festzusetzen.

Die FK beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie darauf, dass kein Eltern-Kind-Verhältnis bestehe.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze ... Bezug genommen.

Der Senat hat gemäß Beschluss vom 12.03.2009 Beweis erhoben, durch Vernehmung der Zeugen D und des Mitarbeiters G des Trägers des begleiteten Wohnens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des Inhalts der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

II. Die Klage ist unbegründet.

1. M ist nicht als Pflegekind der Klin im Sinne des § 32 Abs. 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz --EStG-- zu berücksichtigen.

Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für alle Kinder i.S. von § 32 Abs. 1 EStG, mithin auch für Pflegekinder i.S. von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Pflegekinder sind gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.

a) Unstreitig hat die Klin M zwar in ihren Haushalt aufgenommen. Auch ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern des M bestand nicht mehr. Es fehlte jedoch an dem familienähnlichen Band zwischen der Klin und M. Ein familienähnliches Band liegt vor, wenn das Kind wie zur Familie angehörig angesehen und behandelt wird. Dies wird dann angenommen, wenn zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Kind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern besteht ( BFH-Urteil vom 05.10.2004 VIII R 69/02, BFH/NV 2005, 524). Zu einem bereits Volljährigen lässt sich ein familienähnliches Band nur bei Hilflosigkeit oder Behinderung des Volljährigen oder bei Vorliegen sonstiger besonderer Umstände begründen, da die körperliche Versorgung und Erziehung des Pflegekindes bei einem gesunden Volljährigen in der Regel keine entscheidende Rolle mehr spielen (BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 524).

b) Im vorliegenden Fall sprechen bereits die Bestimmungen der Vereinbarung über das begleitete Wohnen gegen ein familienähnliches Band. M soll nicht als Familienmitglied, sondern als "Gast" behandelt werden. Der Aufgabenkreis der Klin als Oberhaupt der Gastfamilie umfasst die angemessene Versorgung und die individuelle Unterstützung des M. Diese beziehen sich vor allem auf die Bereiche Verpflegung, Wäscheversorgung, Wohnraumreinigung, Hygiene, Wahrnehmung von Arztterminen und Einnahme verordneter Medikamente. Die Betreuung und Versorgung im Haushalt der Klin wird jedoch nicht eigenverantwortlich von der Klin wahrgenommen. Vielmehr bestehen Mitbestimmungs- und Kontrollrechte sowohl für den Träger des begleiteten Wohnens als auch für die Betreuerin.

aa) So hat die Klin dem Träger alle wesentlichen Veränderungen betreffend Gesundheit und Abwesenheit des Gastes und alle für das Vertragsverhältnis relevanten wesentlichen Veränderungen und Vorkommnisse mitzuteilen. Ferner ist der Träger über auftretende Schwierigkeiten zu informieren. Die Gastfamilie darf persönliche Gegenstände und Geldbeträge des Gastes nicht bzw. nur in Absprache mit der Betreuerin oder dem Träger entgegennehmen oder sich übereignen lassen. Der Träger ist zu regelmäßigen und bei Bedarf durchzuführenden Gesprächen mit der Gastfamilie und dem Gast verpflichtet, was u.a. Beratung und Anregungen zur Konfliktbewältigung sowie Unterstützung bei verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten umfasst. Die Klin ist zudem gegenüber dem Träger auskunftspflichtig und zur Duldung von Hausbesuchen verpflichtet. Bei längeren Abwesenszeiten des Gastes wird das Betreuungsgeld gekürzt. Ebenso kann das Betreuungsgeld bei regelmäßiger Beschäftigung oder Betreuung außerhalb der Familie gekürzt werden. Der Gast haftet für von ihm im Gasthaushalt verursachte Schäden. Zudem entscheidet der Träger nach pflichtgemäßem Ermessen über die Beendigung der Wohnmaßnahme. Insoweit deutet auch die Höhe der nach dem Bescheid des Landratsamt R vom 14.12.2005 dem Träger gewährten monatlichen Pauschale (569,70 EUR) darauf hin, dass die fachliche Beratung und Begleitung des behinderten Menschen und der Gastfamilie von erheblichem Gewicht ist. Schließlich hat die Klin auch Anspruch auf eine Entlastungszeit von 4 Wochen je Kalenderjahr, in der für eine anderweitige Unterbringung des Gastes gesorgt werden muss.

Der Zeuge G hat insoweit auch bestätigt, dass er als Vertreter des Trägers des begleiteten Wohnens dafür Sorge getragen hat, dass die finanzielle Versorgung, die soziale Zuwendung, die ordentliche Unterbringung, die Ernährung und die Hygiene für M in der Gastfamilie sichergestellt sind. Dabei erfolgt die Begleitung der Familie durch Beratung und das Treffen von Absprachen.

bb) Auch die Betreuerin D hat nach ihrer Zeugenaussage erhebliche Mitbestimmungs- und Kontrollrechte. Ihre Bestallung umfasst alle Betreuungsaufgabenkreise. Sie ist danach insbesondere zuständig für die Vermögenssorge (z.B. Verwertung von Vermögensgegenständen, Zurverfügungstellung von Taschengeld) , für rechtlich relevante Entscheidungen in der Gesundheitssorge (z.B. Einwilligung in Operationen) und für die Durchführung von Behördenangelegenheiten (z.B. Verlängerung von Behindertenausweis, Antragstellung für soziale Maßnahmen). Auch hat sie angegeben, dass sie diese Aufgaben für M auch tatsächlich wahrgenommen hat.

cc) Danach hält es der Senat zwar für glaubhaft, dass die Klin die von ihr dargelegten Betreuungs- und Versorgungsleistungen im Bereich der Gesundheitssorge, der häuslichen Versorgung, der Unterstützung bei Behördenangelegenheiten, bei der Vermögenssorge und bei der lebenspraktischen Tätigkeit gegenüber M erbracht hat und ihm soziale Zuwendung zuteil kommen ließ.

Da diese Betreuungs- und Versorgungsleistungen aber in fremdem Auftrag und unter fremder Kontrolle stattfanden, entsprachen sie nicht der typischerweise eigenverantwortlichen Betreuung und Versorgung leiblicher Kinder durch ihre Eltern. Dies wird auch durch die von der Klin erstellte Wutdokumentation bestätigt. Denn dort ergibt sich z.B. aus der für den 06.10.2006 geschilderten Situation, dass M sich insbesondere durch den Mitarbeiter des Trägers und die Betreuerin in seiner Freiheit eingeschränkt sah. Nach Überzeugung des Senats ähnelt ein solches Aufsichts- und Betreuungsverhältnis, bei dem der haushaltszugehörige Betreuer im Auftrag und unter Kontrolle und Mitwirkung nicht nichthaushaltszugehörige Personen tätig wird, nicht dem Familienverhältnis zwischen Eltern und leiblichen Kindern.

Vielmehr ähnelt dieses Verhältnis eher der Unterbringung in anderen Formen des betreuten Wohnens. Entgegen der Darlegung des Zeugen G scheitert die Vergleichbarkeit nicht daran, dass Träger --als Alternative zur stationären Unterbringung-- in betreuten Wohngruppen nur Personen mit schwieriger zu handhabenden Formen der Behinderung unterbringt. Denn im hier maßgeblichen Zusammenhang kann Vergleichsmaßstab nur die Ausgestaltung des Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnisses sein. Dieses zeichnet sich aber auch in anderen Formen des betreuten Wohnens und der stationären Unterbringung durch eine Verantwortungs- und Aufgabenabgrenzung zwischen "haushaltszugehörigen" und nicht haushaltszugehörigen Personen aus. Demgegenüber ist im typischen Pflegekindverhältnis die haushaltszugehörige Person meist zugleich rechtlicher Betreuer und es sind keine weiteren nicht haushaltzugehörigen Personen vorhanden, die quasi von außen in den Haushalt hinein betreuen und versorgen.

Diese Auslegung entspricht nach Überzeugung des Senats auch der besonderen Bedeutung des Merkmals der Haushaltszugehörigkeit und dem Erfordernis des Ausscheidens aus sonstigem Obhuts- und Fürsorgeverhältnis (vgl. hierzu auch BFH-Beschluss vom 25.01. 1971 GrS 6/70, BFHE 101, 247, BStBl II 1971, 274) im Rahmen des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG.

c) Darüber hinaus scheidet ein familienähnliches Band auch deswegen aus, weil aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich eine ideelle Dauerbindung und ein Autoritätsverhältnis wie zwischen Eltern und Kindern entwickelt hat (s. hierzu Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, § 32 EStG Rn. 9). Zwar geht der Senat davon aus, dass M entsprechend dem --durch das Attest des behandelnden Arztes vom 10.10.2007 bestätigten-- Vortrag der Klin aufgrund seiner Behinderung für die Dinge des Alltags der Betreuung und Versorgung bedurfte. Auch wenn diese Pflegeleistungen zu einem wesentlichen Teil von der Klin erbracht wurden, genügt dies jedoch nicht, um ein dem Eltern-Kind-Verhältnis ähnliches Verhältnis zu begründen. Denn ein solches Pflegekindschaftsverhältnis beinhaltet mehr als ein bloßes Pflegeverhältnis ( BFH-Urteil vom 04.04.1975 VI R 218/72, BFHE 115, 477, BStBl II 1975, 636). Insbesondere setzt es aufgrund des Tatbestandsmerkmals des Bandes, die Entstehung einer dem Eltern-Kind-Verhältnis ähnlichen inneren Bindung zwischen Kindergeldberechtigtem und Pflegekind voraus. Insoweit spricht jedoch bereits der Altersunterschied gegen die Entstehung einer Eltern-Kind-Bindung. Die Klin war bei Beginn der Aufnahme des M 38 Jahre, ihr zum Haushalt gehörender leiblicher Sohn 17 Jahre alt. Demgegenüber war M zu diesem Zeitpunkt bereits 55 Jahre alt. Insoweit ergibt sich aus der Wutdokumentation der Klin zum einen auch, dass M gegenüber dem leiblichen Sohn der Klin versucht hat, die Rolle eines Großvaters oder Onkels einzunehmen. Zum anderen lässt sich aus der Dokumentation erkennen, dass M auch aus der Perspektive der Klin nicht als Kind in der Familie, sondern eher als Fremdkörper empfunden wurde (s. etwa 06.10.2006: "...ich kann mich nicht wohlfühlen in 2/3 des Hauses. Es ist ein ständiges Kämpfen an der Grenzlinie"; 24.12.2007: "...M tobt in der Küche, ich fühle mich ein wenig bedroht dieses Mal..."). Der Senat verkennt insoweit nicht, dass die Klin sich dem M gegenüber in besonderer Weise sozial zugewendet hat und auch eine persönliche Beziehung zu ihm aufgebaut hat. Ein solche Beziehung mit Pflegeleistungen wie gegenüber einem Kleinkind kann jedoch beispielsweise auch in der Altenpflege entstehen, ohne dass dadurch eine innere Bindung wie zwischen Eltern und leiblichen Kindern entstünde.

Hinzu kommt, dass eine erzieherische Einwirkungsmöglichkeit aufgrund des absoluten Alters des M, seines nach dem Attest vom 10.10.2007 keiner zu erwartenden Besserung unterliegenden Aggressionsverhaltens und des Altersunterschieds zwischen der Klin und M allenfalls in sehr eingeschränktem Umfang (Absetzung der Psychopharmaka) erkennbar ist. Nach dem Gesamtbild der Umstände hat die Klin daher zwar ein Verantwortungsverhältnis gegenüber dem zu betreuenden und zu pflegenden M übernommen. Hierdurch ist jedoch kein familienähnliches Band entstanden.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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