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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 11.09.2007
Aktenzeichen: 12 K 1275/05
Rechtsgebiete: EStG, SGB X, SGB XII, BSHG


Vorschriften:

EStG § 31 S. 2
EStG § 74 Abs. 2
SGB X § 104
SGB XII § 82 Abs. 1
SGB XII § 83 Abs. 1
BSHG § 76 Abs. 1
BSHG § 77 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht München

12 K 1275/05

Kindergeld

In der Streitsache

...

hat der 12. Senat des Finanzgerichts München

unter Mitwirkung

...

auf Grund mündlicher Verhandlung vom 11. September 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Erstattung von Kindergeld nach § 74 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) i.V.m. § 104 Sozialgesetzbuch (SGB) X für die Tochter A der Klägerin für den Zeitraum Januar 2003 bis einschließlich März 2004 an die Stadt (die Beigeladene). A befand sich bis 30. März 2003 in einer Ausbildung zur Heilpraktikerin, nebenbei bewarb sie sich -zunächst erfolglos- um einen Studienplatz an einer Fachhochschule. Auf den Antrag der Klägerin vom 12. Januar 2004 setzte die Familienkasse (der Beklagte) mit Bescheid vom 22. März 2004 Kindergeld für A ab Januar 2003 fest. Ausweislich der mit Schriftsatz vom 4. September 2007 vorgelegten Unterlagen hat die Klägerin im streitigen Zeitraum für ihre Tochter A Aufwendungen für eine zahnärztliche Zusatzversicherung, für die Haftpflicht- und Hausratsversicherung sowie die Abschlagzahlungen für Strom und Gas und im Jahr 2004 die Nebenkostennachzahlung für die von A in ... angemietete Wohnung getragen. Nach den vorgelegten Einkommensteuerbescheiden der mit ihrem Ehemann zusammenveranlagten Klägerin erfolgte die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes in den Jahren 2003 und 2004 durch das ausgezahlte Kindergeld.

Die Beigeladene gewährte A und ihrem nichtehelichen Sohn S im streitigen Zeitraum ohne Anrechnung von Kindergeld monatlich Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Höhe von 688,60 EUR (Januar bis Juni 2003), 692,40 EUR (Juli bis Dezember 2003), 694,09 EUR (Januar und Februar 2004) sowie 592,09 EUR (März 2004) jeweils zuzüglich eines monatlichen Mietzuschusses von 163 EUR. Mit Schreiben vom 16. März 2004 machte die Beigeladene gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 EStG in der im streitigen Zeitraum geltenden Fassung i.V.m. § 104 SGB X hinsichtlich des Kindergelds für A ab Januar 2003 geltend und beantragte die Auszahlung des Kindergelds an sich.

Die Familienkasse zahlte das Kindergeld für A für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 in Höhe von (15 Monate x 154 EUR =) 2.310 EUR an die Beigeladene aus und informierte die Klägerin hierüber mit Schreiben vom 22. März 2004. Ab April 2004 wurde das Kindergeld fortlaufend an die Klägerin ausbezahlt. Unter dem Datum vom 19. August 2004 erließ die Familienkasse einen Abrechnungsbescheid nach § 218 Abgabenordnung (AO), in dem der Kindergeldanspruch der Klägerin für A für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 aufgrund der Erstattung an die Stadt gemäß § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt angesehen wurde. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg (vgl. Einspruchsentscheidung vom 3. März 2005). Mit der vorliegenden Klage wendet sich die Klägerin weiterhin gegen die Erstattung des Kindergelds für A an die Beigeladene. Zur Begründung trägt sie vor, dass die Auszahlung des Kindergelds an die Beigeladene rechtswidrig sei. Da sie und ihr Ehemann mit der Tochter A und dem Enkelkind S nicht in einer Bedarfsgemeinschaft lebten, stünden der Beigeladenen keine Ansprüche gegen sie zu. Dies ergebe sich aus § 91 Abs. 1 BSHG in Verbindung mit weiteren Bestimmungen im BSHG sowie im SGB. § 91 BSHG diene der Durchsetzung des Nachrangprinzips von Sozialhilfe. Durch diese sozialhilferechtliche Sonderregelung habe der Gesetzgeber, unabhängig von der Leistungsfähigkeit bzw. tatsächlich erbrachten Unterhaltsleistungen seitens der Eltern, bewusst auf ein Rückgriffsrecht verzichtet. Das fehlende Rückgriffsrecht könne nicht durch die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach § 74 Abs. 2 EStG umgangen werden. Die zur Abzweigung von Kindergeld nach § 74 Abs. 1 EStG ergangene Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei daher nicht auf Erstattungen nach § 74 Abs. 2 EStG zu übertragen. Allenfalls soweit das Kindergeld für die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes nicht erforderlich sei und der Förderung der Familie diene, könnte es als vorrangige Sozialleistung anzusehen sein. In ihrem Fall liege die Steuerbelastung jedoch über dem gezahlten Kindergeld. Wollte man einen Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers annehmen, käme es zu einer Ungleichbehandlung zwischen Kindergeldberechtigten, die an den Sozialhilfeträger auszuzahlendes Kindergeld in Anspruch nehmen, und solchen Kindergeldberechtigten, die durch den Ansatz der Freibeträge bei ihrer Veranlagung Steuererstattungen erhielten und diese nicht an den Sozialhilfeträger abtreten müssten. Soweit von den Eltern des Kindes tatsächlich geleisteter Unterhalt im Streitfall maßgeblich sei, seien nicht nur ihre Unterhaltszahlungen, sondern auch die des Vaters von A zu berücksichtigen.

Die Klägerin beantragt,

in Änderung der angefochtenen Bescheide festzustellen, dass der Beklagte das Kindergeld für A für den Zeitraum Januar 2003 bis März 2004 in Höhe von 2.310 EUR an sie zu bezahlen hat.

Der Beklagte beantragt Klageabweisung.

Er bezieht sich zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung und weist ergänzend darauf hin, dass die im Streitfall nach Angabe der Klägerin erfolgte steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG dem Erstattungsanspruch der Beigeladenen nach § 74 Abs. 2 EStG nicht entgegenstehe. Andernfalls würde sich eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung zu den Kindergeldberechtigten ergeben, bei denen sich die Freibeträge nicht auswirkten.

Mit Beschluss vom 29. Mai 2007 hat der Senat die Stadt zum vorliegenden Verfahren beigeladen. Die Beigeladene weist darauf hin, dass es im Streitfall nicht um eine Inanspruchnahme der Klägerin im Sinne des § 91 Abs. 1 BSHG gehe, sondern um Kindergeld als gegenüber der Sozialhilfe vorrangige Leistung gemäß § 2 BSHG.

Auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 11. September 2007 wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

1. Der angefochtene Abrechnungsbescheid ist rechtmäßig, da die Familienkasse zutreffend das Kindergeld für A für den streitigen Zeitraum nach § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X an die Beigeladene ausgezahlt und damit den Kindergeldanspruch der Klägerin erfüllt hat.

a) Nach § 74 Abs. 2 EStG gelten für die Erstattungsansprüche der Träger von Sozialleistungen gegen die Familienkasse die §§ 102 bis 109 und 111 bis 113 SGB X entsprechend. Gemäß § 104 Abs. 1 SGB X ist dann, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, bei Vorliegen weiterer -hier nicht streitiger- Voraussetzungen der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X).

b) aa) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt § 104 Abs. 1 SGB X eine Gleichartigkeit der Leistungen der beiden Leistungsträger voraus, weil nach dem gesetzlichen Tatbestand ein Erstattungsanspruch nur ausgelöst werden kann, wenn der erstleistende Träger eine Verpflichtung des in Anspruch genommenen zweiten Trägers erfüllt hat (vgl. z.B. BSG-Urteil vom 25. April 1990 5 RJ 12/89, BSGE 67, 6). Der BFH hat sich dieser Rechtsauffassung des BSG angeschlossen (BFH-Urteil vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171). Eine Gleichartigkeit der Leistungen liegt vor, wenn beide Leistungen in der Weise gleichartig sind, dass sie demselben Zweck dienen (BFH-Urteil vom 7. Dezember 2004 VIII R 59/04, BFH/NV 2005, 864).

bb) Im Streitfall ist diese Voraussetzung erfüllt. Die Beigeladene hat der Tochter A der Klägerin im streitigen Zeitraum ohne Anrechnung von Kindergeld Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. Hierbei handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zum Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz um eine mit dem Kindergeld zweckidentische Leistung im Sinne von § 77 Abs. 1 BSHG (nunmehr § 83 Abs. 1 SGB XII) und damit anrechenbares Einkommen im Sinne von § 76 Abs. 1 BSHG (-nunmehr § 82 Abs. 1 SGB XII -vgl. z.B. Urteil des BverwG vom 25. November 1993 5C 8/90, BVerwGE 94, 326 zu §§ 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 BSHG). Der BFH hat diese Rechtsprechung auf das nach der Neugestaltung des Kindergelds durch das Jahressteuergesetz 1996 als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) gezahlte Kindergeld jedenfalls insoweit angewandt, als das Kindergeld gemäß § 31 Satz 2 EStG der Förderung der Familie dient, weil es für die gebotene steuerliche Freistellung nicht erforderlich ist (vgl. BFH-Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156). Im Streitfall ist diese Voraussetzung für das Jahr 2004 erfüllt, da die Klägerin nach dem vorgelegten Steuerbescheid 2004 auch ohne Berücksichtigung eines Kinderfreibetrags keine Einkommensteuer zu zahlen hatte. Soweit das Kindergeld nach dieser Rechtsprechung für das Jahr 2003 nur in Höhe von (1.848 EUR Kindergeld ./. .... EUR festgesetzte Einkommensteuer ./..... EUR Solidaritätszuschlag =).... EUR als Sozialleistung anzusehen ist, weil die steuerliche Wirkung des Kindergelds die Wirkung des Kinderfreibetrags nur in dieser Höhe übersteigt, vermag der erkennende Senat diese Unterscheidung nicht nachzuvollziehen. Auch soweit das Kindergeld der steuerlichen Freistellung des Einkommens in Höhe des Existenzminimums eines Kindes dient, wird es letztlich zur Sicherstellung des Lebensunterhalts des Kindes durch dieses von der Steuer freigestellte Einkommen gewährt und ist damit nach Auffassung des Senats ebenfalls zweckidentisch mit der Hilfe zum Lebensunterhalt. Auch das als Steuervergütung gezahlte Kindergeld ist daher in diesem Sinne vorrangige Leistung gegenüber der Sozialhilfe. Eine Ungleichbehandlung zwischen den Empfängern von Kindergeld und den Steuerpflichtigen, die den Kinderfreibetrag in Anspruch nehmen, ergibt sich hierdurch nicht, da bei der letztgenannten Gruppe die Erhöhung der tariflichen ESt um den Kindergeldanspruch gemäß § 31 Satz 4 EStG auch im Falle eines Erstattungsanspruchs des Sozialhilfeträgers zu erfolgen hat.

Unbeachtlich ist, dass die Klägerin nach den vorgelegten Unterlagen durch Übernahme der Nebenkosten für die Wohnung von A insoweit zum notwendigen Unterhalt der Tochter beigetragen hat, da die Beigeladene diese Kosten bei der Bedarfsberechnung für A lt. den vorliegenden Sozialhilfebescheiden gleichfalls berücksichtigt und dementsprechend hierfür Sozialhilfe geleistet hat.

c) Nach § 104 Abs. 2 SGB X gilt Abs. 1 der Vorschrift auch dann, wenn nicht der Kindergeldberechtigte Sozialleistungen erhalten hat, sondern diese Leistungen -wie im Streitfall - für einen Angehörigen des Kindergeldberechtigten erbracht wurden. Folglich entsteht ein Erstattungsanspruch auch dann, wenn der nachrangig verpflichtete Sozialleistungsträger allein gegenüber dem Kind eine Sozialleistung erbracht hat.

d) Letztlich steht auch § 91 Abs. 1 BSHG (nunmehr § 94 SGB XII) einer Erstattung des Kindergelds an die Beigeladene nicht entgegen, da diese Vorschrift lediglich das Rückgriffsrecht des Sozialhilfeträgers auf andere potentiell unterhaltsverpflichtete Personen regelt, während es im Streitfall um den Erstattungsanspruch zwischen zwei Leistungsträgern geht. Aus dem Rechtsgedanken des § 91 Abs. 1 BSHG ergibt sich nicht, dass ein nachrangig Leistungsverpflichteter -wie im Streitfall die Beigeladene- gegenüber einem vorrangig Leistungsverpflichteten keinen Erstattungsanspruch geltend machen könnte.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 Finanzgerichtsordnung (FGO). 3. Die Revision wird zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO)

Ende der Entscheidung

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