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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 31.07.2007
Aktenzeichen: 12 K 1664/06
Rechtsgebiete: EStG, FGO, SGB VIII


Vorschriften:

EStG § 74 Abs. 1 S. 1
EStG § 74 Abs. 1 S. 3
EStG § 74 Abs. 1 S. 4
FGO § 101 S. 2
FGO § 102 S. 2
SGB VIII § 27
SGB VIII § 34
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht München

12 K 1664/06

Kindergeld

In der Streitsache

hat der 12. Senat des Finanzgerichts München

aufgrund der mündlichen Verhandlung

vom 31. Juli 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Der Bescheid vom 28. Juni 2005 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 29. März 2006 werden insoweit aufgehoben, als darin die Abzweigung des Kindergeldes gegenüber dem Kläger für die Monate Juli 2005 bis Februar 2006 abgelehnt wird. Die Beklagte wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Abzweigung des Kindergeldes für A für die Monate Juli 2005 bis Februar 2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Der Kläger gewährt seit dem 26. Januar 2005 für die am xx.xx.1991 geborene A Hilfe gemäß §§ 27, 34 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII in Form einer Heimunterbringung im Jugendhaus D und kommt für sämtliche Kosten auf.

Die Mutter von A (die Beigeladene), befand sich von Mitte Januar 2005 bis Mitte Juni 2005 in Haft. Sie erbrachte wegen Leistungsunfähigkeit keine Unterhaltszahlungen. Auch nach der Haftentlassung war sie leistungsunfähig und bezog Leistungen nach dem SGB II. Seit 5. Februar 2007 befindet sie sich wieder in Haft.

Der Kläger stellte am 27. Januar 2005 bei der zuständigen Familienkasse (FK) einen Antrag auf Auszahlung von Sozialleistungen nach § 48 SGB I ab 14. Januar 2005 für A. Mit Schreiben vom 9. Mai 2005 beantragte der Kläger die Abzweigung von Kindergeld gemäß § 74 Abs.1 Einkommensteuergesetz (EStG). Am 22. Juni 2005 beantragte die Beigeladene die Festsetzung von Kindergeld für A.

Mit Bescheid vom 28. Juni 2005 zweigte die FK das Kindergeld für A für den Zeitraum Februar 2005 bis Juni 2005 an den Kläger ab, da die Beigeladene mangels Leistungsfähigkeit keinen Unterhalt für A geleistet habe. Im Begleitschreiben an den Kläger teilte die FK mit, dass die Beigeladene ab Juli 2005 ihre Unterhaltspflicht gegenüber A nicht verletze, da A regelmäßig am Wochenende in deren Haushalt zurückkehre.

Der Kläger legte gegen den Bescheid vom 28. Juni 2005 Einspruch ein, soweit damit die Abzweigung des Kindergelds für A ab Juli 2005 abgelehnt wurde. Am 30. Januar 2006 teilte der Kläger der Beigeladenen mit, dass sie einen Kostenbeitrag für A in Höhe des Kindergeldes gemäß § 94 Abs. 3 SGB VIII zu leisten habe. Mit Einspruchsentscheidung vom 29. März 2006 änderte die FK den Bescheid vom 28. Juni 2005 dahingehend, dass ab März 2006 ein Erstattungsanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG in Höhe von 154 EUR für A gewährt werde. Im Übrigen wies sie den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung der hiergegen erhobenen Klage trägt der Kläger im Wesentlichen vor, dass die Beigeladene auch im Zeitraum Juli 2005 bis Februar 2006 wegen wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit keine Unterhaltsleistungen für A erbracht habe. Für die Unterbringung von A im Jugendhaus D würde pro Tag ein Betrag von 24,32 EUR gezahlt. Zusätzlich werde noch ein Taschengeld von 28,33 EUR pro Monat gewährt, Erstausstattungen bezahlt und Kosten für die pädagogische Unterstützung i. H. v. ca. 3.000 EUR pro Monat übernommen. Für die Verpflegung von A an den Heimfahrtswochenenden werde auf Antrag Verpflegungsgeld an sie ausbezahlt, außerdem würden alle Fahrtkosten übernommen. Damit wäre der gesamte Le4 bensbedarf des Kindes auch an den Wochenenden abgedeckt, ein sog. ungedeckter Bedarf bestünde nicht.

Der Kläger beantragt,

unter teilweiser Aufhebung des Bescheids vom 28. Juni 2005 und der Einspruchsentscheidung vom 29. März 2006 die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag auf Abzweigung des Kindergelds für das Kind A für die Monate Juli 2005 bis Februar 2006 nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise

die Revision zuzulassen.

Nach der Dienstanweisung der Familienkasse sei eine Abzweigung von Kindergeld nach bereits erfolgter Auszahlung des Kindergeldes an die Berechtigte nicht mehr möglich. Insoweit sei das Ermessen der Familienkasse auf Null reduziert. Die Abzweigung des Kindergeldes für die Zeit von Juli 2005 bis Februar 2006 könne daher nur erfolgen, wenn die Beigeladene eine verbindliche und unwiderrufliche Erklärung abgebe, dass sie im Streitzeitraum keine Unterhaltsleistungen für A habe erbringen müssen, dass sie mit den Zahlungen des Kindergeldes an den Kläger einverstanden sei und das an sie ausgezahlte Kindergeld erstatte. Diese Erklärung habe die Beigeladene nicht abgegeben. Außerdem widerspräche sie teilweise dem Vorbringen des Klägers.

Mit Beschluss vom 5. September 2006 wurde die Mutter des Kindes zum Verfahren beigeladen. Die Beigeladene trägt vor, sie habe im Zeitraum vom 16. Juni 2005 bis November 2006 nur drei Einkaufsgutscheine im Wert von je 5 EUR für die Wochenendheimfahrten von A erhalten. Die Fahrtkosten an den Wochenenden seien erstattet worden. Ihre Aufwendungen seien unterschiedlich hoch gewesen, zwischen 20 EUR und 40 EUR, in den Ferien etwas mehr.

Das Gericht erließ am 16. Mai 2007 einen Gerichtsbescheid gegen den die Beklagte fristgemäß Antrag auf mündliche Verhandlung stellte.

Auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt nach Satz 3 auch dann, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Die Auszahlung kann gemäß Satz 4 auch an die Person oder Stelle erfolgen, die dem Kind Unterhalt gewährt.

Im Streitfall ist der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt. Diese Vorschrift setzt anders als Satz 1 keine Verletzung der Unterhaltpflicht voraus, sondern erfasst den Sachverhalt, dass der Kindergeldberechtigte wegen fehlender Leistungsfähigkeit entweder überhaupt keinen Barunterhalt oder einen niedrigeren Unterhalt als das Kindergeld zahlen muss (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171).

Es ist im vorliegenden Fall unstreitig, dass die Beigeladene im Streitzeitraum nicht leistungsfähig war, sondern selbst Sozialleistungen erhielt. Damit sind die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3, 1. Alternative i.V.m. Satz 4 EStG erfüllt. Die Beigeladene war mangels Leistungsfähigkeit nicht barunterhaltspflichtig und der Kläger ist für den sächlichen Unterhalt des Kindes aufgekommen, indem er den gesamten Lebensbedarf einschließlich Pflege und Erziehung sicherstellte.

Bei der Entscheidung, ob das Kindergeld an Unterhalt gewährende Personen oder Stellen abgezweigt werden soll (§ 74 Abs. 1 Satz 4 EStG), handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, die nach § 102 Finanzgerichtsordnung (FGO) nur der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Außer in den in dieser Vorschrift genannten Fällen der Ermessensüberschreitung und des Ermessensfehlgebrauchs kann eine Ermessensentscheidung der Behörde nur dann rechtswidrig sein, wenn die Behörde unbeachtet lässt, dass sich der Ermessensspielraum im konkreten Einzelfall derart verengt hat, dass nur eine bestimmte Entscheidung richtig sein kann (Ermessensreduzierung auf Null; vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 102 Rz 2). Maßgeblich für die gerichtliche Beurteilung sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (vgl. BFH-Beschluss vom 25. November 1999 VII R 40/99, BFH/NV 2000, 591), hier also der Einspruchsentscheidung vom 29. März 2006.

Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass die Behörde ihre Ermessensentscheidung aufgrund einer einwandfreien und erschöpfenden Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts getroffen hat und alle für die Ermessensausübung nach dem Sinn und Zweck der Ermächtigungsnorm wesentlichen Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat (BFH-Urteil vom 22. Juni 1990 III R 150/85, BStBl II 1991, 864).

Die FK ist im Streitfall ihrer Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Ermessens weder dem Grunde noch der Höhe nach nachgekommen. Weder der Bescheid vom 28. Juni 2005 noch die Einspruchsentscheidung vom 29. März 2006 enthalten Ermessenserwägungen hinsichtlich der Abzweigung. Die FK führt im Begleitschreiben zum Bescheid vom 28. Juni 2005 lediglich aus, dass keine Unterhaltspflichtverletzung der Beigeladenen vorliege. Sie hat auch den Sachverhalt nicht ermittelt, sondern erstmals im gerichtlichen Verfahren im Schriftsatz vom 4. Juli 2006 erklärt, dass es sich um eine Ermessensentscheidung handele und verschiedene Fragen aufgeworfen, die ihrer Ansicht nach bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen seien. Die Auffassung, dass bei bereits erfolgter Auszahlung des Kindergeldes das Ermessen der FK auf Null reduziert sei, wurde erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen. Die FK ging damit bei Erlass der angegriffenen Entscheidungen davon aus, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Rechtsfolgeermessens überhaupt nicht gegeben waren (sog. Ermessensunterschreitung).

Die im Streitfall vollständig fehlenden Ermessenserwägungen der Behörde können auch nicht im Klageverfahren nach § 102 Satz 2 FGO nachgeholt werden, da § 102 Satz 2 FGO lediglich Ergänzungen von Ermessenserwägungen zulässt, mithin die Ausübung des Ermessens voraussetzt.

Das Gericht ist bei Feststellung einer Ermessensunterschreitung darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Es ist nicht befugt, sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der entscheidungsbefugten Behörde zu setzen. Die FK war daher gemäß § 101 Satz 2 FGO zu verpflichten, den Antrag des Klägers auf Abzweigung für die Monate Juli 2005 bis Februar 2006 erneut unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessenspielraums zu bescheiden.

Nach Auffassung des Senats ist dabei abzuwägen, ob im Hinblick auf die umfassende Unterhaltsgewährung für A durch den Kläger noch Raum für angemessene Unterhaltsleistungen der Beigeladenen blieb und in welcher Höhe ggf. solche Unterhaltsleistungen zu berücksichtigen sind. Die Abzweigung ist auch nicht von einer Rückzahlung des ausbezahlten Kindergelds durch die Beigeladene abhängig zu machen. Die Abzweigung von Kindergeld ist auch rückwirkend, ab dem der Antragstellung durch den Antragsteller nachfolgenden Monat möglich (BFH-Urteil vom 16. April 2002 VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575). Im Streitfall wurde der Antrag am 9. Mai 2005 gestellt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 74 Abs. 1 EStG kann das "für ein Kind festgesetzte Kindergeld" an Dritte ausbezahlt werden, wobei die Familienkasse durch Verwaltungsakt darüber entscheidet, ob der Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes auf einen Auszahlungsberechtigten i.S.d. § 74 Abs. 1 EStG übergehen soll. Dass eine derartige Entscheidung die noch nicht erfolgte Auszahlung des festgesetzten Kindergeldes voraussetzt, ist dem Gesetzestext nicht zu entnehmen. Wäre für die Entscheidung über eine Abzweigung Voraussetzung, dass die Familienkasse das Kindergeld noch nicht gezahlt hat, könnte diese durch die weitere Auszahlung des Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten vollendete Tatsachen schaffen und die Abzweigung unmöglich machen, mit der Folge, dass der Abzweigungsberechtigte, dem nach Sinn und Zweck der Norm die Möglichkeit gegeben sein soll, schnell und unbürokratisch finanzielle Hilfe zu erhalten, im Wege eines Amtshaftungsprozesses versuchen müsste, Schadenersatz zu erhalten. Da es andererseits der Familienkasse möglich ist, bis zur Bestandskraft der Abzweigungsentscheidung Kindergeld dem Kindergeldberechtigten unter Vorbehalt der endgültigen Erfolglosigkeit des Abzweigungsbegehrens auszuzahlen oder - wie es die Dienstanweisung der FK ausdrücklich vorsieht - das Kindergeld vorläufig einzubehalten (Abschn. 74.1.3 Satz 5 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs, BStBl I 2004, 742), wäre es nicht sachgerecht, wenn die Behörde im Falle uneingeschränkter Auszahlung sich darauf berufen könnte, dass aufgrund erfolgter Zahlung eine Abzweigung nur mehr möglich sei, wenn der Kindergeldberechtigte die Bereitschaft zur Zurückzahlung der ausgezahlten Beträge erklärt (vgl. auch Urteil des Bundessozialgerichts vom 28. August 1984 1 RJ 82/83, [...]).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 139 Abs. 4 FGO; der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und den Vollstreckungsschutz folgt aus §§ 151 Abs. 1 und 3, 155 FGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 der Zivilprozessordnung.

Die Revision war nicht zuzulassen, da der Senat weder von höchstrichterlichen Entscheidungen abgewichen ist noch die hier zu entscheidenden Fragen von grundsätzlicher - über den Streitfall hinausgehender - Bedeutung sind (§ 115 Abs. 2 FGO).

Ende der Entscheidung

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