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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 14.02.2007
Aktenzeichen: 9 K 2453/06
Rechtsgebiete: EStG, SGB XII, FGO


Vorschriften:

EStG § 74 Abs. 1
SGB XII § 94 Abs. 2
FGO § 101 S. 2
Sätze 3 2. Alternative i.V.m. Abs. 1 Satz 4 EStG über einen Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes sind erfüllt, wenn ein vollstationär in einer Behinderteneinrichtung untergebrachtes Kind Eingliederungshilfe durch den Sozialhilfeträger erhält und die Eltern zu einem monatlichen Kostenbeitrag von 26 EUR nach § 94 Abs. 2 SGB XII herangezogen werden.
Finanzgericht München

9 K 2453/06

Abzweigung des Kindergelds für ab Oktober 2004

In der Streitsache

hat der 9. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung

der Richterin am Finanzgericht als Vorsitzende,

des Richters am Finanzgericht und

des Richters am Finanzgericht sowie

der ehrenamtlichen Richter und

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 16. Februar 2005 und der hierzu erlassenen Einspruchsentscheidung vom 17. Mai 2006 verpflichtet, über den Abzweigungsantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Bescheid über die Ablehnung der Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) rechtmäßig ist.

Der am ... geborene Sohn des Beigeladenen, M, erhält vom Kläger Eingliederungshilfe nach den §§ 39 ff. Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw. (ab dem 1.1.2005) nach den §§ 53 ff.

Sozialgesetzbuch XII (SGB XII). M ist aufgrund einer Schwerbehinderung nicht in der Lage, ein selbständiges Leben zu führen und erhält Pflege und Betreuung in einer vollstationären Einrichtung. Daneben geht er einer Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte nach. Die Kosten für Pflege und Betreuung belaufen sich nach Angaben des Klägers auf rund 5.700 EUR monatlich (rund 4.600 EUR für die Wohnheimbetreuung und rund 1.100 EUR für die Werkstatttätigkeit).

Vom Beigeladenen wird ein Unterhaltsbeitrag von 26 EUR monatlich nach § 91 Abs. 2 BSHG bzw. § 94 Abs. 2 SGB XII gezahlt.

Mit Schreiben vom 22. September 2004 beantragte der Kläger bei der beklagten Familienkasse die Abzweigung des Kindergeldes für M. Der Beklagte teilte dies dem Beigeladenen mit und übersandte ihm - da dieser noch kein Kindergeld bezogen hat - Antragsformulare für das Kindergeld. Der Beigeladene reichte im November 2004 den Kindergeldantrag für M beim Beklagten ein. Er teilte darüber hinaus mit, dass ihm neben dem monatlichen Kostenbeitrag von 26 EUR Kosten für zwei Besuchsfahrten jährlich zum Sohn (einfache Entfernung 600 km) entstünden. Mit Bescheid vom 1. Februar 2006 setzte der Beklagte gegenüber dem Beigeladenen Kindergeld für M ab Januar 2000 fest.

Mit Schreiben vom 16. Februar 2005 lehnte der Beklagte die Abzweigung des Kindergeldes an den Kläger ab, da vom Beigeladenen Unterhalt gewährt werde. Dagegen erhob der Kläger Einspruch, den der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 17. Mai 2006 als unbegründet zurückwies mit der Begründung, eine Unterhaltspflichtverletzung des Beigeladenen sei nicht gegeben.

Dagegen richtet sich die Klage. Der Kläger trägt vor, eine Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 S. 4 EStG an die Stelle, die dem Kind Unterhalt gewähre, setze eine Unterhaltspflichtverletzung des Kindergeldberechtigten nicht voraus. Auch sei die Entscheidung, den Abzweigungsantrag deshalb abzulehnen, weil der Kindergeldberechtigte einen pauschalierten Unterhaltsbeitrag nach § 94 Abs. 2 SGB XII zahle, ermessensfehlerhaft.

Denn Sinn dieser gesetzlichen Regelung sei es nicht, den unterhaltsrechtlichen Bedarf eines vollstationär untergebrachten volljährigen Kindes zu sichern. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers habe die Regelung ausschließlich der Verwaltungsvereinfachung gedient.

Damit nicht mehr in jedem Einzelfall die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Eltern 4 überprüft werden müssten, könne der Sozialhilfeträger davon ausgehen, dass ein Anspruchsübergang in Höhe von 26 EUR stattgefunden habe. Zwischen der früheren Regelung des § 91 Abs. 2 BSHG und der Nachfolgeregelung in § 94 Abs. 2 SGB XII bestehe dabei kein Unterschied. Die Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber dem Kind nach bürgerlichem Recht werde durch diese Regelung nicht tangiert. Die Unterhaltspflicht ergebe sich aus §§ 1601 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Nach § 1610 Abs. 2 BGB umfasse der Anspruch des Unterhaltsberechtigten den gesamten Lebensbedarf und auch die behinderungsbedingten Mehrkosten. Diese Kosten würden vom Kläger und nicht vom Beigeladenen übernommen.

Bei der Ausübung des Ermessens seien auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beteiligten und die Höhe des von dem Dritten gewährten Unterhalts von Bedeutung. Zu berücksichtigen sei auch, dass zwischen dem Beigeladenen und M nur gelegentlicher Kontakt bestehe. Seine Auffassung werde bestätigt durch die Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. Februar 2004 VII R 58/03, vom 17. November 2004 VIII R 30/04 und vom 23.

Februar 2006 III R 65/04. Es stehe im pflichtgemäßen Ermessen der Familienkassen, bei der Entscheidung über die Höhe des abzuzweigenden Betrages Aufwendungen, die der Kindergeldberechtigte in Bezug auf sein Kind unternommen habe, entsprechend zu berücksichtigen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16. Februar 2005 und der hierzu erlassenen Einspruchsentscheidung vom 17. Mai 2006 zu verpflichten, über den Abzweigungsantrag neu zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt

die Klage abzuweisen.

Aufgrund der Änderung des § 91 Abs. 2 BSHG würden Eltern zu den Kosten für eine vollstationäre Unterbringung ihres Kindes ab 01. Januar 2002 allenfalls in Höhe von 26 EUR oder 46 EUR herangezogen. Kämen Eltern, wie im Streitfall, dieser Verpflichtung nach und leisteten diesen Kostenbeitrag, sei keine Verletzung der Unterhaltspflicht zu unterstellen (Verweis auf die Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs - DA-FamEStG - 74.1.1 Abs. 3). Eine Abzweigung des Kindergeldes sei in diesen Fällen nicht möglich. Im Streitfall komme hinzu, dass dem Beigeladenen Aufwendungen für Fahrten zu seinem Sohn entstünden.

Der Senat hat mit Beschluss vom 13. November 2006 den Vater von M zum Verfahren nach § 60 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) beigeladen.

Auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 14. Februar 2007 wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet. Der Bescheid, mit dem der Beklagte die Abzweigung des Kindergeldes zugunsten des Klägers abgelehnt hat, ist ermessensfehlerhaft.

1. Entgegen der Auffassung des Klägers besteht ein Anspruch auf Abzweigung des Kindergeldes nicht schon allein deshalb, weil er an M Unhalt gewährt hat, ohne dass es auf das Vorliegen der Tatbestände des § 74 Abs. 1 S. 1 bis 3 EStG ankäme. Denn § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG ist nicht in der Weise isoliert von den Sätzen 1 bis 3 zu sehen, dass die Auszahlung ohne weiteres an eine andere Person erfolgen kann, wenn diese dem Kind Unterhalt gewährt. Vielmehr bewirkt § 74 Abs. 1 S. 4 EStG eine Erweiterung der für eine Auszahlung in Betracht kommenden Auszahlungsempfänger, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 S. 1 bis 3 EStG erfüllt sind.

2. Es liegen jedoch die Voraussetzungen für eine Ermessensentscheidung nach § 74 Abs. 1 EStG vor. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung kann das für ein Kind nach § 66 Abs. 1 EStG festgesetzte Kindergeld u.a. an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG kann diese Auszahlung auch dann erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.

Nach §§ 1601 ff. BGB ist der Beigeladene seinem Sohn zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da dieser sich nicht selbst unterhalten kann. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dazu gehören auch die krankheitsbedingten Mehrkosten des behinderten und dauernd pflegebedürftigen Sohnes. Die Eingliederungshilfe mindert nicht die Bedürftigkeit des Sohnes, da sie subsidiär ist und den Unterhaltspflichtigen nicht von seiner Verpflichtung befreien soll. In der Regel geht der Unterhaltsanspruch des Kindes nach § 91 Abs. 1 Satz 1 BSHG bzw. (ab 01.01.2005) nach § 94 Abs. 1 SGB XII in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialträger über (BFH-Urteil vom 23. Februar 2006 III R 65/04, BFH/NV 2006, 1575).

Im Streitfall kann offen bleiben, ob nach Einführung eines Kostenbeitrags des unterhaltspflichtigen Elternteils in Höhe von 26 EUR durch die ab 01.01.2002 geltende Neufassung des § 91 Abs. 2 BSHG bzw. (ab 01.01.2005) § 94 Abs. 2 SGB XII dieser seine Unterhaltsverpflichtung allein durch die Leistung des Kostenbeitrags erfüllt. Denn in diesem Fall ist jedenfalls der Tatbestand des § 74 Abs. 1 Satz 3, 2. Alternative EStG gegeben, da der Unterhaltsbeitrag von 26 EUR niedriger ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld in 6 Höhe von 154 EUR monatlich (BFH-Urteil vom 17. Februar 2004 VIII R 58/03, BStBl II 2006, 130; ebenso FG Berlin, Urteil vom 21. März 2005 10 K 10366/04, EFG 2005, 1219 rkr.). Dies gilt auch dann, wenn man - wie vom Beigeladenen vorgetragen - zwei jährliche Besuchsfahrten als Betreuungsunterhalt ansieht und in den vom Beigeladenen geleisteten Unterhalt einbezieht, da auch unter Einschluss solcher geringen Unterhaltsleistungen die Höhe des in Betracht kommenden Kindergeldes offensichtlich nicht erreicht wird. Die Regelung in DAFamEStG 74.1.1 Abs. 3 widerspricht der geltenden Rechtslage.

3. Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 S. 3 und 4 EStG für eine Ermessensausübung des Beklagten erfüllt sind, dieser sein Ermessen aber nicht ausgeübt hat, da er der rechtsfehlerhaften Auffassung war, der Tatbestand des § 74 Abs. 1 EStG sei nicht erfüllt, ist die Entscheidung des Beklagten ermessensfehlerhaft und nach § 102 FGO rechtswidrig (sog. Ermessensunterschreitung).

Das hiernach dem Beklagten eröffnete Rechtsfolgeermessen ist allerdings nicht für den Kläger in dem Sinne anspruchsbegründend reduziert, dass es alleine eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Höhe des an den Kläger auszuzahlenden Kindergeldes gäbe, so dass es dem Gericht verwehrt ist, den Beklagten nach § 101 S. 1 FGO zur Auszahlung des Kindergeldes an den Kläger in einer bestimmten Höhe zu verpflichten. Der BFH hat im Urteil in BFH/NV 2006, 1575 Grundsätze aufgestellt, in welcher Weise eine ermessengerechte Aufteilung des Kindergeldes erfolgen kann, wenn - wie auch im vorliegenden Streitfall - von den gesetzlich unterhaltspflichtigen Eltern geringe Unterhaltsleistungen erbracht werden. Der Beklagte wird dies bei der der von ihm nach § 101 S. 2 FGO# nachzuholenden Ermessensentscheidung zu beachten haben. Dabei wird er auch zu prüfen haben, ob die nach Auskunft des Beigeladenen zweimal jährlich durchgeführten Besuchsfahrten tatsächlich angefallen sind und ob es sich dabei um Betreuungsleistungen handelt, welche in die Ermessenserwägungen zur Höhe des abzuzweigenden Kindergeldes einfließen.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und den Vollstreckungsschutz folgt aus §§ 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.

Dem Beigeladenen sind keine Kosten aufzuerlegen, da er keine Anträge gestellt hat (§ 135 Abs. 3 FGO ). Er erhält auch keine Kosten erstattet (§ 139 Abs. 4 FGO ).

Ende der Entscheidung

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