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Gericht: Finanzgericht München
Urteil verkündet am 14.12.2006
Aktenzeichen: 9 K 4120/06
Rechtsgebiete: EStG, FGO


Vorschriften:

EStG § 10d Abs. 4
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8
FGO § 101 S. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht München

9 K 4120/06

Ablehnung der Verlustfeststellung nach § 10 d EStG 1994 bis 1999

In der Streitsache

hat das Finanzgericht München, 9. Senat, durch

den Richter am Finanzgericht als Einzelrichter

ohne mündliche Verhandlung

am 14. Dezember 2006

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Der Beklagte wird unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 7. April 2005 und 19. August 2005 verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts eine neue Entscheidung über die Anträge auf Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum 31.12.1994, 31.12.1995, 31.12.1996, 31.12.1997, 31.12.1998 und 31.12.1999 zu treffen.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand:

Streitig ist, ob das beklagte Finanzamt (FA) den Erlass von Bescheiden über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31.12.1994 bis 31.12.1999 zu Recht abgelehnt hat.

Der ledige Kläger hat nach einer Lehre als Bankkaufmann in der Zeit vom 1. September 1994 bis 31. August 2000 an der Fachhochschule ... studiert. Nach Abschluss des Studiums im September 2000 arbeitete er als Diplom-Betriebswirt und erzielte aus dieser Beschäftigung Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.

Am 21. Dezember 2004 reichte der Kläger die Einkommensteuererklärung und Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs für 1997, am 24. Juli 2005 die Einkommensteuererklärungen und Erklärungen zur Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs für 1994, 1995, 1996, 1998 und 1999 beim FA ein. In den Erklärungen wurden Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Studium als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit erklärt. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die streitgegenständlichen Einkommensteuererklärungen Bezug genommen.

Das FA lehnte mit Bescheiden vom 7. April 2005 für 1997 und vom 19. August 2005 für die übrigen Jahre die Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung ab, weil der Antrag auf Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht fristgerecht gestellt worden sei und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme.

Gegen die Ablehnungsbescheide erhob der Kläger jeweils Einspruch mit der Begründung, dass er Verlustfeststellungen nach § 10d Abs. 4 EStG beantragt habe und für diese § 46 Abs. 2 EStG nicht anwendbar sei. Für die Feststellung der Verluste nach § 10d Abs. 4 EStG sei auch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, da nach § 181 Abs. 5 Abgabenordnung (AO) ein Verlustfeststellungsbescheid noch möglich sei, wenn er für eine spätere Steuerfestsetzung - hier für die Einkommensteuer ab 2000 - von Bedeutung sei. Mit Schreiben vom 31. August 2005 beantragte der Kläger das Ruhen des Verfahrens, da zur der entscheidungserheblichen Frage ein Verfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängig sei. Das FA teilte mit Schreiben vom 11. Januar 2006 mit, das die Einsprüche bis zur Entscheidung des BFH in den Revisionsverfahren XI R 56/04 und XI R 33/04 ruhten.

Am 8. Mai 2006 übersandte der Kläger dem FA eine Kopie des BFH-Urteils vom 1. März 2006 XI R 33/04 und erkundigte sich nach dem Stand der Bearbeitung der Einsprüche. Mit Schreiben vom 12. Mai 2006 teilte das FA mit, dass in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt sei, ob eine Verlustfeststellung noch möglich sei, wenn der Antrag erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist gestellt worden sei. Hierzu habe der BFH im Urteil vom 1. März 2006 keine Aussage getroffen. Auch das BFH-Urteil vom 12. Juni 2002 XI R 26/01 (Bundessteuerblatt - BStBl - II 2002, 681) trage nichts zur Entscheidungsfindung bei. Da beim BFH unter dem Az. XI R 25/02 noch ein Verfahren zur Frage anhängig sei, ob eine erstmalige Verlustfeststellung erfolgen könne, wenn die Antragsveranlagungsfrist bzw. Festsetzungsfrist des zugrunde liegenden Einkommensteuerbescheids bereits abgelaufen sei, ruhten die Einsprüche weiterhin. Der Kläger widersprach am 16. Mai 2006 dem weiteren Ruhen der Einsprüche in einem Telefongespräch mit dem FA (Gesprächsnotiz vom 16. Mai 2006). Mit Schreiben vom 8. Juni 2006 teilte das FA mit, eine Entscheidung über die Einsprüche könne derzeit nicht getroffen werden, da über die Anwendung des BFH-Urteils vom 1. März 2006 noch auf Bundesebene beraten werde und erst danach über die Veröffentlichung im Bundessteuerblatt entschieden werde. Mit Schreiben vom 16. Juni 2006 teilte der Kläger mit, dass er die vom FA angegebenen Gründe, warum über die Einsprüche derzeit nicht entschieden werde, nicht akzeptiere und forderte das FA auf, innerhalb der nächsten vier Wochen über die Einsprüche zu entscheiden. Mit Schreiben vom 18. Juni 2006 teilte das FA dem Kläger mit, dass das BFH-Urteil vom 1. März 2006 XI R 33/04 noch nicht vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) "freigegeben" worden sei und daher noch nicht angewendet werden dürfe.

Mit Schreiben vom 19. Oktober 2006 - eingegangen am 24. Oktober 2006 - erhob der Kläger Klage. Die Verpflichtungsklage sei als Untätigkeitsklage nach § 46 Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig, denn das FA habe ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes nicht innerhalb angemessener Frist über die Einsprüche entschieden.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das FA unter Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom 7. April 2005 und 19. August 2005 zu verpflichten, die verbleibenden Verlustvorträge zur Einkommensteuer zum 31.12.1994, 31.12.1995, 31.12.1996, 31.12.1997, 31.12.1998 und 31.12.1999 gemäß den eingereichten Steuererklärungen gesondert festzustellen, hilfsweise die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt

die Klage abzuweisen.

Es hält die Untätigkeitsklage für unzulässig. Die fehlende "Freigabe" des BFH-Urteils vom 1. März 2006 XI R 33/04 sei ein zureichender Grund für das Ausbleiben der Einspruchsentscheidung.

Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet. Der Senat hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 13. Dezember 2006 dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen (§ 6 Abs. 1 FGO).

Entscheidungsgründe:

1. Die Klage ist zulässig.

Abweichend vom Grundsatz des § 44 FGO ist die Klage ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig, wenn das FA über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat. Vor Ablauf von sechs Monaten kann die Klage grundsätzlich nicht erhoben werden (§ 46 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FGO). Die Sechsmonatsfrist ist im Streitfall gewahrt. Auch hat das FA keinen zureichenden Grund genannt, warum es über die Einsprüche des Klägers nicht entscheidet. Die Voraussetzungen für das Ruhen des Verfahren nach § 363 Abs. 2 AO lagen nicht mehr vor, nachdem der BFH am 1. März 2006 bzw. 26. April 2006 über die Revisionen XI R 33/04 und XI R 56/04 entschieden hat und der Kläger einem weiteren Ruhen des Verfahrens nicht zugestimmt hat. Die vom FA genannte fehlende "Freigabe" des BFH-Urteils vom 1. März 2006 XI R 33/04 stellt keinen zureichenden Grund i.S.v. § 44 FGO dar, denn es geht im Streitfall nicht um die Anwendung eines BFH-Urteils, das in einem anderen Verfahren ergangen ist, sondern um die Anwendung von geltendem Recht, nämlich der Normen des § 10d Abs. 4 EStG i.V.m. § 181 Abs. 5 AO. Etwas anderes mag dann gelten, wenn z.B. nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine allgemeine Übergangsregelung erwartet wird oder sonst Rechtsunsicherheit über die Anwendung einer Norm besteht. Im Streitfall bestehen solche Unsicherheiten nicht, denn die in Streit befindliche Frage über den Eintritt der Feststellungsverjährung von Verlustfeststellungsbescheiden ist durch die BFH-Rechtsprechung geklärt. Dass die Finanzverwaltung diese Rechtsprechung unter Umständen nicht anwenden will, stellt keinen Grund für eine Nichtentscheidung über den Einspruch dar (vgl. von Groll in Gräber, FGO § 46 Rz. 22 m.w.N.).

2. Die Klage ist im Wesentlichen begründet.

Die Ablehnung des Erlasses der beantragten Verlustfeststellungsbescheide zum 31.12.1994 - 31.12.1999 unter Hinweis auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG sowie den Ablauf der Fristen des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist rechtswidrig, denn ein verbleibender Verlustabzug ist auch dann festzustellen, wenn ein Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum, in dem der Verlust entstanden ist, wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung oder wegen Ablaufs der zweijährigen Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG nicht mehr ergehen kann, solange die gesonderte Feststellung für künftige Einkommensteuerbescheide, für die die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, von Bedeutung ist (§ 181 Abs. 5 AO). Wegen der Gründe im Einzelheiten wird auf die Urteile des BFH vom 12. Juni 2002 XI R 26/01 (BStBl II 2002, 681), vom 1. März 2006 XI R 33/04 (BFH/NV 2006, 1204) und vom 2. August 2006 XI R 65/05 (BFH/NV 2006, 2345), denen sich das Gericht anschließt, Bezug genommen.

Es kann daher offen bleiben, ob bei - wie im Streitfall - fehlendem Bezug von Arbeitslohn und damit auch fehlender Vornahme eines Lohnsteuerabzugs überhaupt § 46 Abs. 2 EStG anwendbar ist.

Das FA hat über die Frage, ob für den Kläger nach materiellem Recht in den einzelnen Jahren negative Einkünfte entstanden sind, für die ein verbleibender Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 EStG festzustellen ist und gegebenenfalls in welcher Höhe, noch keine Entscheidung getroffen, da es sich nicht für befugt gehalten hat, in die materielle Prüfung einzusteigen. Das Gericht ist in diesem Fall nicht verpflichtet, die Spruchreife nach § 101 Satz 1 FGO herbeizuführen und das FA zu verpflichten, die Verlustfeststellungsbescheide mit einem bestimmten Inhalt zu erlassen, denn ein solches Verpflichtungsurteil wäre nicht die Korrektur einer behördlichen Entscheidung, sondern würde eine erstmalige Entscheidung über die vom Kläger erklärten Werbungskosten darstellen. Dadurch würde dem Kläger eine außergerichtliche Instanz genommen (BFH-Urteil vom 2. Juni 2005 III R 66/04, BStBl II 2005, 184). Im Hinblick auf die durch die Verfassung vorgegeben Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz) hat sich das Gericht in diesem Fall darauf zu beschränken, die vom FA getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit zur überprüfen und das FA zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (§ 101 Satz 2 FGO).

3. Der Kläger hat zwar in seiner Klageschrift den missverständlichen Antrag gestellt, den Beklagten zu einer Einspruchsentscheidung zu verurteilen. Aus der Klagebegründung und insbesondere aus seinem Schriftsatz vom 8. Dezember 2006 wird jedoch deutlich, dass es ihm darum geht, das FA zu verpflichten, die Verluste in der beantragten Höhe festzustellen. Er ist damit zwar insoweit unterlegen, als nicht das beantragte Verpflichtungsurteil, sondern ein Bescheidungsurteil ergangen ist. In entsprechender Anwendung des § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO sind die Kosten dennoch in voller Höhe dem FA aufzuerlegen, da das teilweise Unterliegen nicht dem Kläger zuzurechnen ist (BFH in BStBl II 2006, 184).

4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten folgt aus §§ 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.



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