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Gericht: Finanzgericht Münster
Urteil verkündet am 15.03.2007
Aktenzeichen: 14 K 3073/06 E
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG


Vorschriften:

AO 1977 § 171 Abs. 10
AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
AO 1977 § 180 Abs. 1 Nr. 2a
EStG § 16 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Münster

14 K 3073/06 E

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten über die Gewährung eines Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Der am 26. Dezember 1945 geborene Kläger war Kommanditist der O***gesellschaft ****GmbH & Co. (O***GmbH & Co. KG). Die O*** GmbH & Co. KG verkaufte mit Vertrag vom 8. Mai 2000 die "N***", ihr einziges Schiff. Die "N***wurde am 16. Juni 2000 an den Erwerber übergeben.

Ausweislich der Mitteilungen für 2000 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen des Finanzamtes I*** vom 22. November 2002 und vom 9. September 2003 hatte der Kläger als Beteiligter der O***GmbH & Co. KG nach Anwendung des § 15a EStG anzusetzende steuerpflichtige Veräußerungsgewinne und andere tarifbegünstigte Einkünfte gem. §§ 16, 34 EStG in Höhe von 39.604,36 DM erzielt.

Der gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderte Einkommensteuerbescheid 2000 vom 8. April 2003 erfasste zwar die laufenden Einkünfte aus der Beteiligung des Klägers an der O***GmbH & Co. KG entsprechend den Angaben der Mitteilung über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 22. November 2002 mit 0 DM, der Veräußerungsgewinn hingegen blieb unberücksichtigt.

Am 22. Juli 2005 änderte der Beklagte den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 8. April 2003 gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO erneut und legte der Besteuerung des Klägers nunmehr um den Veräußerungsgewinn von 39.604,00 DM erhöhte Einkünfte aus Gewerbebetrieb zugrunde. Der Bescheid nimmt Bezug auf die Mitteilung zur gesonderten und einheitlichen Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 9. September 2003 und enthält den Hinweis, dass innerhalb der Rechtsbehelfsfrist die Nachholung eines Antrags auf ermäßigte Besteuerung gem. § 34 Abs. 1 EStG möglich sei.

Mit seinem Einspruch vom 4. August 2005 beantragte der Kläger die Gewährung eines Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 EStG. Der Beklagte wies den Einspruch als unbegründet zurück. Die Gewährung des Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 EStG scheide aus, da der Kläger im Zeitpunkt der Veräußerung das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet habe (Einspruchsentscheidung vom 19. Juni 2006). Der Wortlaut des Gesetzes spreche dafür, dass der Steuerpflichtige bereits im Veräußerungszeitpunkt das 55. Lebensjahr vollendet haben müsse. Dies gelte auch für den Wortlaut des § 34 Abs. 3 EStG. Zudem sei nach dem Sinn und Zweck der Regelung von einer Anknüpfung des Freibetrages an das Dispositionsrecht des Steuerpflichtigen auszugehen. Schließlich weise das BMF-Schreiben vom 20. Dezember 2005 (IV B 2-S 2242-18/05) klarstellend darauf hin, dass der Zeitpunkt der Veräußerung maßgeblich sei.

Mit der sodann erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht: Für die Gewährung des Freibetrages gem. § 16 Abs. 4 EStG reiche es aus, dass er das 55. Lebensjahr im Veranlagungszeitraum 2000 vollende. Nicht erforderlich sei, dass er es bereits im Veräußerungszeitpunkt vollendet habe. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des Gesetzes. Außerdem sei das Ende des Veranlagungszeitraumes maßgeblich, weil die Steuer zu diesem Zeitpunkt entstehe (§ 36 Abs. 1 EStG). Diese Auffassung widerspreche auch nicht dem Wortlaut des § 34 Abs. 3 EStG, der im Streitjahr noch nicht anwendbar gewesen sei. Außerdem lasse § 34 Abs. 1 EStG keinen Rückschluss auf die Regelung des § 16 Abs. 4 EStG zu. Schließlich sei das BMF-Schreiben vom 20. Dezember 2005 für den Streitfall nicht bindend.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 22. Juli 2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Juni 2006 zu ändern und die Einkommensteuer ohne Berücksichtigung des gem. § 16 Abs. 4 EStG steuerfreien Veräußerungsgewinnes in Höhe von 39.604,00 DM niedriger festzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist zur Begründung auf die Darlegungen der Einspruchsentscheidung.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) verzichtet.

II. Die Klage ist unbegründet.

Der streitige Einkommensteueränderungsbescheid 2000 vom 22. Juli 2005, in dem der Beklagte die Einkünfte aus Gewerbebetrieb um einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 39.604,00 DM erhöht hat, verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Der Beklagte war gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 180 Abs. 1 Nr. 2 a AO verpflichtet, den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 8. April 2003 zu ändern und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung des gesondert festgestellten, tarifbegünstigten Veräußerungsgewinnes festzusetzen.

Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid im Sinne von § 171 Abs. 10 AO, dem Bindungswirkung zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Diese Bindungswirkung verpflichtet das für den Erlass des Folgebescheides zuständige Finanzamt, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen. Die Anpassung steht nicht im Ermessen der Finanzbehörde (vgl. z. B. BFH Urteil vom 29. Juni 2005 X R 31/04, BFH/NV 2005, 1749 mwN). Die Verpflichtung zur Anpassung des Folgebescheides wird auch nicht dadurch beseitigt, dass das Finanzamt einen ihm bereits bekannt gegebenen Grundlagenbescheid übersehen oder diesen zunächst nicht bzw. falsch ausgewertet hat. Wird ein zunächst nicht bzw. falsch ausgewerteter Grundlagenbescheid späterhin geändert, so ist die Finanzbehörde verpflichtet, die aus dem Änderungsbescheid gebotenen Konsequenzen zu ziehen (vgl. z. B. BFH Urteil vom 29. Juni 2005 X R 31/04, BFH/NV 2005, 1749 mwN).

Dementsprechend war der Beklagte - ungeachtet der zunächst erfolgten unzutreffenden Auswertung des Grundlagenbescheides vom 22. November 2002 im Einkommensteuerbescheid vom 8. April 2003 - verpflichtet, den Grundlagenbescheid vom 9. September 2003 auszuwerten und den Veräußerungsgewinn bei der Festsetzung der Einkommensteuer im Änderungsbescheid vom 22. Juli 2005 zugrunde zu legen.

Im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung des Klägers hat der Beklagte - mangels Antrag gem. § 34 Abs. 1 EStG - zu Recht lediglich noch darüber entschieden, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe ein Freibetrag gem. § 16 Abs. 4 EStG zu berücksichtigen war (vgl. z. B. BFH Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II 1995, 893). Zutreffend hat der Beklagte die Gewährung eines solchen Freibetrages abgelehnt, da der Kläger im Zeitpunkt der Veräußerung des Mitunternehmeranteils das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und daher die Voraussetzungen des § 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung nicht vorliegen.

§ 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr 2000 geltenden Fassung lautet: "Hat der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet oder ist er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig, so wird der Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er 60.000 Deutsche Mark übersteigt. Der Freibetrag ist dem Steuerpflichtigen nur einmal zu gewähren. Er ermäßigt sich um den Betrag, um den der Veräußerungsgewinn 300.000 Deutsche Mark übersteigt."

Die bis heute - mit Ausnahme der Höhe des Freibetrages bzw. des Ermäßigungsbetrages - gleichlautende Regelung des § 16 Abs. 4 EStG ist in dieser Form erst durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250) entstanden. Bis dahin lautete die Regelung des § 16 Abs. 4 EStG: "Der Veräußerungsgewinn wird zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er bei der Veräußerung des ganzen Betriebes 30.000 Deutsche Mark und bei der Veräußerung eines Teilbetriebes oder eines Anteils am Betriebsvermögen den entsprechenden Anteil von 30.000 Deutsche Mark übersteigt. Der Freibetrag ermäßigt sich um den Betrag, um den der Veräußerungsgewinn bei der Veräußerung des ganzen Gewerbebetriebes 100.000 Deutsche Mark und bei der Veräußerung eines Teilbetriebes oder eines Anteils am Betriebsvermögen den entsprechenden Teil von 100.000 Deutsche Mark übersteigt. An die Stelle der Beträge von 30.000 Deutsche Mark tritt jeweils der Betrag von 120.000 Deutsche Mark und an die Stelle der Beträge von 100.000 Deutsche Mark jeweils der Betrag von 300.000 Deutsche Mark, wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines 55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seinen Gewerbebetrieb veräußert oder aufgibt."

Während § 16 Abs. 4 EStG in der Fassung bis zur Änderung durch das Jahressteuergesetz 1996 seinem Wortlaut nach eindeutig darauf abstellte, dass die Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe nach Vollendung des 55. Lebensjahres erfolgt, lässt sich dies aus dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung nicht zwingend herleiten. Das Gesetz spricht zwar von "hat vollendet", lässt aber den Bezugspunkt offen, d.h. es stellt keinen zwingenden Bezug zwischen dem Begriff der Vollendung des 55. Lebensjahres und dem Zeitpunkt der Veräußerung bzw. alternativ dem Ende des Veranlagungszeitraumes her.

Knüpft jedoch ein Gesetz die Gewährung des Freibetrages einerseits an ein bestimmtes Alter des Steuerpflichtigen und andererseits an den Tatbestand der Betriebsveräußerung, so macht aus Sicht des Senates bereits diese Anknüpfung deutlich, dass die Begünstigung davon abhängig ist, dass die Altersgrenze bereits im Zeitpunkt der Veräußerung erreicht ist. Die Gewährung des steuerlichen Vorteils eines Freibetrages im Zusammenhang mit der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils erfolgt gerade weil der Veräußerer eine bestimmte Altersgrenze erreicht hat. Wegen dieses kausalen Zusammenhanges ist es nur folgerichtig, für die Frage, wann das 55. Lebensjahr vollendet sein muss, auf den Zeitpunkt der Veräußerung abzustellen.

In diesem Sinne ist auch die dem Gesetzeswortlaut nach parallel gestaltete Regelung zur Gewährung des Freibetrages wegen dauernder Berufsunfähigkeit des Veräußerers zu verstehen (vgl. hierzu BFH Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II 1995, 893). Auch hier stellt das Gesetz sprachlich keinen zwingenden Bezug zwischen dem Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit und dem Zeitpunkt der Veräußerung bzw. alternativ dem Ende des Veranlagungszeitraumes her. Gleichwohl ist wegen der kausalen Verknüpfung mit dem Merkmal der dauernden Berufsunfähigkeit ersichtlich, dass diese bereits im Zeitpunkt der Veräußerung vorgelegen haben muss.

Somit spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift dafür, dass § 16 Abs. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung für die Gewährung des Freibetrages auf die Vollendung des 55. Lebensjahres im Zeitpunkt der Veräußerung abstellt (so i. E. auch Kobor in Herrmann/Heuer/Raupach § 16 EStG Rz 508, 509; Wendt FR 2000, 1199,1201 unter Verweis auf BFH Urteil vom 21. September 1995 IV R 1/95, BStBl II 1995, 893; Wacker in Schmidt EStG 25. Auflage 2006, § 16 Rz 579).

Dieses Ergebnis erweist sich auch mit Blick auf die dargelegte Entstehungsgeschichte des § 16 Abs. 4 EStG, der bis zum Jahressteuergesetz 1996 ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Veräußerung abgestellt hat, als zutreffend. Der Begründung zum Jahressteuergesetz 1996 ist demgegenüber nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der Änderung des § 16 Abs. 4 EStG auch das Merkmal der Vollendung des 55. Lebensjahres im Zeitpunkt der Veräußerung hat ändern wollen. Vielmehr ist der Senat davon überzeugt, dass mit der Neufassung des § 16 Abs. 4 EStG lediglich eine sprachliche Umformulierung erfolgt ist, die - im Vergleich zur vormaligen Fassung - weniger präzise, gleichwohl aber inhaltlich unverändert an den Zeitpunkt der Veräußerung anknüpft.

Die Anknüpfung an den Zeitpunkt des Veräußerungsgeschäftes wird auch dem Sinn und Zweck der Vergünstigung gerecht. Mit der Gewährung des Freibetrages soll der Gewinn aus einer Betriebsveräußerung bzw. einer Betriebsaufgabe nicht (bzw. nicht vollständig) der Besteuerung unterworfen werden, und zwar dann, wenn der Steuerpflichtige ein bestimmtes Alter überschritten hat. Diese Regelung soll mithin die Aufgabe bzw. Veräußerung ab einem gewissen Alter erleichtern, indem die damit verbundenen steuerlichen Folgen abgemildert und soziale Härten ausgeglichen werden (vgl. Wendt FR 2000, 1199; siehe auch Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses vom 16. Mai 2000 zum Steuersenkungsgesetz, BTDrucks. 14/3366, S. 117). Dies wird durch die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Veräußerung gewährleistet, und zwar insbesondere auch deshalb, weil es der Steuerpflichtige grundsätzlich selbst in der Hand hat, den Zeitpunkt der Veräußerung zu wählen. Der Umstand, dass es dem Kläger wegen der besonderen Ausgestaltung der O********* GmbH & Co. KG als Publikumsgesellschaft nicht möglich war, den Zeitpunkt der Veräußerung des Schiffes zu bestimmen, steht dem nicht entgegen.

Im Streitfall hatte der Kläger weder im Zeitpunkt des Abschlusses des schuldrechtlichen Kaufvertrages am 8. Mai 2000 noch im Zeitpunkt der Übergabe des Schiffes am 16. Juni 2000 - und damit dem (spätesten) Zeitpunkt der Veräußerung im Sinne des § 16 EStG (vgl. hierzu BFH Urteil vom 21. September 1995, IV R 1/95, BStBl II 1995, 893, Wendt FR 2000, FR 2000, 1199) - das 55. Lebensjahr vollendet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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