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Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 23.02.2006
Aktenzeichen: 1 K 76/04
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand

Die Klägerin ist als Beamtin im Dienst des Landes Niedersachsen tätig. Sie begehrt Kindergeld für ihre Tochter S., ihr zweitältestes Kind, für den Zeitraum Januar bis Mai 2002. S. vollendete am 04.05.2002 ihren 27. Geburtstag und schloss im Juni 2002 ihr Hochschulstudium an der G-Universität mit der Magisterprüfung ab.

Die Beteiligten streiten allein über die Frage, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes im maßgeblichen Zeitraum den gesetzlichen Grenzbetrag überschritten haben. S. ging während ihres Studiums einer nichtselbständigen Aushilfstätigkeit nach und bezog außerdem eine Halbwaisenrente. Der Beklagte ermittelte die Einkünfte und Bezüge von S. für den streitigen Zeitraum mit insgesamt 3.525,63 € (Bl. 15 GA). Weil dieser Betrag den anteiligen Grenzbetrag des Kindes gemäß § 32 Abs. 4 Sätze 2 und 7 Einkommensteuergesetz (EStG) von 2.995 € überstieg, hob der Beklagte im Dezember 2003 die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2002 auf und forderte das ausgezahlte Kindergeld zurück. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos.

Im Klageverfahren wies die Klägerin folgende weitere Aufwendungen des Kindes nach:

 gesetzliche Rentenversicherung (Bl. 72 KiG-Akte)207,45 €
gesetzliche Pflegeversicherung (Bl. 37 GA) 5 x 13,0465,20 €
private Krankenversicherung (Bl. 37 GA) 5 x 90,92454,60 €
Summe727,25 €

Die private Krankenversicherung deckte das durch den Beihilfeanspruch der Klägerin für die Krankheitskosten ihrer Tochter nicht abgedeckte Krankheitskostenrisiko.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

unter Aufhebung des Einspruchsbescheides vom 20.01.2004 und Änderung des Bescheides vom 01.12.2003 den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin für ihre Tochter S. für den Zeitraum Januar bis einschließlich Mai 2002 Kindergeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 25.01.2005 entschieden hatte, dass die gesetzlichen Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung des Kindes nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 EStG einbezogen werden dürfen, erklärte sich der Beklagte bereit, die Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge von S. für die Zwecke der Grenzbetragsberechnung von den Einkünften von S. abzuziehen. Dies gelte aber nicht für die freiwilligen Beiträge zur Krankenversicherung, weil sich die Entscheidung des BVerfG nicht auf solche Aufwendungen bezogen habe. Der Einkommensgrenzbetrag des Kindes sei auch nach Abzug der Renten- und Pflegeversicherungsbeiträge überschritten, mit der Folge, dass kein Anspruch auf Kindergeld bestehe.

Gründe

I. Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Kindergeld für ihre Tochter S. für den streitigen Zeitraum. Der diesbezügliche Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Mit Ausnahme der zwischen den Beteiligten streitigen Frage, ob der Einkommensgrenzbetrag des Kindes überschritten ist, sind alle übrigen gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für die Tochter der Klägerin S. erfüllt.

Auch der anteilige Einkommensgrenzbetrag, den der Beklagte nach § 32 Abs. 4 EStG zutreffend mit 2.995 € ermittelt hat, ist nicht überschritten. Denn die vom Beklagten errechneten Einkünfte und Bezüge des Kindes (vor Abzug von Renten-, Pflege- und Krankenversicherungsbeiträgen) in Höhe von 3.525,63 € sind um die gesetzlichen Rentenversicherungsbeiträge in Höhe 207,45 €, die gesetzlichen Pflegeversicherungsbeiträge in Höhe von 65,20 € und die Beiträge für die private Krankenversicherung in Höhe von 454,60 € zu kürzen. Dies ergibt insgesamt Einkünfte und Bezüge des Kindes in Höhe von 2.798,38 €, die unter dem oben erwähnten anteiligen Grenzbetrag liegen.

Die Abziehbarkeit der Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur gesetzlichen Pflegeversicherung bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes ergibt sich aus § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der für den Senat nach § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz verbindlichen verfassungskonformen Auslegung, wie sie sich aus dem Beschluss des BVerfG vom 11.01.2005 - 2 BvR 167/02 - BVerfGE 112, 164, ergibt.

Auch die Beiträge des Kindes zu seiner privaten Krankenversicherung sind bei der Ermittlung seiner Einkünfte und Bezüge abzuziehen, wenn sie, wie im Streitfall, einen Krankenversicherungsschutz vermitteln, der demjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht.

Zwar hat das BVerfG in dem erwähnten Beschluss diese Frage offen gelassen (BVerfGE 112, 164, 183). Es hat aber eine verfassungskonforme Auslegung gebilligt, die es im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH, Urteil vom 21.07.2000 - VI R 153/99 - BStBl. II 2000, 566) erlaubt, den Relativsatz in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG "die zur Bestreitung des Unterhalts (...) bestimmt oder geeignet sind" auch auf die Einkünfte des Kindes zu beziehen (BVerfGE 112, 164, 182 ff.).

In diesem Beschluss ist das BVerfG zu dem Ergebnis gekommen, dass in Höhe der Beiträge des Kindes zu seiner gesetzlichen Sozialversicherung, also auch zu seiner gesetzlichen Krankenversicherung, die Einkünfte des Kindes gebunden sind, also für die Bestreitung seines Unterhalts nicht zur Verfügung stehen und deshalb nicht in die Bemessungsgröße für den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einbezogen werden dürfen (so schon Nds. FG, Urteile vom 16.04.2003 - 7 K 723/98 - EFG 2003, 1250; vom 13.08.2003 - 4 K 174/00 - EFG 2003, 1798; vom 15.08.2003 - 4 K 365/01 - EFG 2004, 746; noch weitergehend Nds. FG, Urteil vom 20.07.1999 - 7 K 471/98 - EFG 1999, 1137).

Gleiches gilt nach Ansicht des Senats für die Beiträge zu einer privaten Krankenversicherung des Kindes, wenn diese Versicherung - wie im Streitfall - einen der gesetzlichen Krankenversicherung vergleichbaren Versicherungsschutz gewährt. Die Beiträge zu beiden Formen der Versicherung haben die gleiche Funktion; sie sind Aufwendungen für eine Mindestvorsorge gegen die Risiken der Krankheit. In beiden Fällen stehen die für die Krankenversicherung zu zahlenden Beiträge nicht für den Unterhalt des Kindes zur Verfügung. Dass die Beiträge in dem einen Fall aufgrund gesetzlicher Verpflichtung abzuführen sind, im anderen Fall auf einem entsprechenden Vertragsabschluss des Kindes beruhen, macht im Hinblick auf die Verfügbarkeit der hierfür erforderlichen Mittel für den Unterhalt des Kindes keinen Unterschied (a.A. FG Schleswig-Holstein, Urteil vom 09.11.2005 - 5 K 55/05 - EFG 2006, 192, das unzutreffend allein danach unterscheidet, ob die Aufwendungen auf gesetzlicher Anordnung oder privatem Vertragsabschluss beruhen). Denn der Versicherungsschutz gegen Krankheit ist existentiell notwendig. Die Vorsorge für den Krankheitsfall durch eine Krankenversicherung führt zu Aufwendungen, welche die subjektive steuerliche Leistungsfähigkeit des Betroffenen unvermeidbar mindern und für ihn indisponibel sind (so auch BFH, Vorlagebeschluss vom 14.12.2005 - X R 20/04 - BStBl. II 2006, 312, 322f., 324 ff., mit ausführlichen Hinweisen zu inhaltsgleichen Wertungspositionen im Steuer-, Sozialhilfe-, Pflegeversicherungs-, Familienleistungsausgleichs-, Beamtenversorgungs- und Beihilferecht; Hidien/Anzinger, FR 2005, 1016; Seer/Wendt, NJW 2006, 1, 3f.; Nds. FG, Urteil vom 09.11.2005 - 2 K 477/04 - EFG 2006, 273; FG Düsseldorf, Urteil vom 16.03.2006 - 14 K 3294/04 Kg - EFG 2006, 904; Balke/Habscheidt, NWB 2006, Fach 3, 13871, 13874ff.).

II. Selbst wenn private Krankenversicherungsbeiträge nicht bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes berücksichtigt werden könnten und damit der maßgebliche anteilige Grenzbetrag in Höhe von 2.995 € mit 3.252,98 € um 257,98 € überschritten wäre, hätte der Senat der Klage zum überwiegenden Teil stattgegeben.

1. Der Senat ist der Auffassung, dass es, ausgehend von der steuerrechtlichen und sozialrechtlichen Doppelfunktion des Familienleistungsausgleichs (vgl. § 31 Satz 1 und 2 EStG, BVerfGE 112, 164, 174 ff.) und der gegenwärtigen Gesetzeslage bei einer Überschreitung des Grenzbetrages von Verfassungs wegen einer Übergangsregelung bedarf, die den Umständen Rechnung trägt, dass mit steigenden Einkünften und Bezügen des Kindes die Unterhaltspflicht der Eltern zwar abnimmt, aber nicht sofort gänzlich entfällt und in einem solchen Fall die finanzielle Leistungsfähigkeit der Familie derjenigen von Kinderlosen nicht sofort gleichwertig ist, sondern es erst mit weiter steigenden Einkünften und Bezügen der Kinder zu einer vergleichbaren finanziellen Leistungsfähigkeit der Familie kommt. Die sich nach herrschender Meinung aus § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ergebende Fallbeilwirkung, wonach die Überschreitung des Grenzbetrages nur um 1 € zur völligen Versagung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes führt, ist nach Auffassung des Senats verfassungs-rechtlich nicht zu rechtfertigen, weil sie die aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abgeleiteten verfassungsrechtlichen Gebote der Systemgerechtigkeit (vgl. Peine, Systemgerechtigkeit: Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle, 1985, S. 53ff.), der Widerspruchsfreiheit (vgl. BVerfGE 98, 106) und der Verhältnismäßigkeit missachtet und zudem das Verbot gleichheitswidriger Progressionssprünge verletzt (gleicher Ansicht Kanzler, FR 2000, 1358, 1359; Balke/Habscheidt, NWB 2006, Fach 3, 13871, 13877; das BVerfG hat diese Frage in BVerfGE 112, 164, 185 ausdrücklich offen gelassen).

2. Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Fallbeilwirkung des Grenzbetrages ist die verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende (vgl. BVerfGE 112, 164, 177), aber systematisch nicht überzeugende Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 1 und 2 EStG (gleicher Ansicht Tipke, Die Steuerrechts-Ordnung, Band II, 2. Aufl. 2003, S. 807ff., insbes. S. 809; Kanzler, DStJG 24 (2001), 416, 450), wonach einerseits für minderjährige Kinder unabhängig von ihren Einkünften und Bezügen und andererseits für die älteren Kinder - unter weiteren, hier nicht relevanten Voraussetzungen - das Kindergeld oder der Kinderfreibetrag in voller Höhe gewährt wird, unabhängig davon, ob das Kind keine eigenen Einkünfte oder Bezüge erzielt oder seine Einkünfte und Bezüge den Grenzbetrag erreichen. Das Gesetz unterstellt bei Eltern volljähriger Kinder mit Einkünften und Bezügen bis zur Höhe des Grenzbetrages, soweit die steuerrechtliche Funktion des Familienleistungsausgleichs angesprochen ist, also eine ebenso hohe Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind, als wenn das Kind keinerlei Einkünfte und Bezüge hätte. Gleiches gilt, wenn Kindergeld als Sozialleistung gezahlt wird. Die im Vergleich mit Kinderlosen verminderte Leistungsfähigkeit der Familie ist unterschiedslos durch das volle Kindergeld auszugleichen, gleichgültig ob das Kind keinerlei Einkünfte und Bezüge erzielt oder solche bis zur Höhe des Grenzbetrages.

Selbst bei Einkünften und Bezügen des Kindes in Höhe des Grenzbetrages geht das Gesetz also von einer ungeschmälerten Unterhaltspflicht der Eltern beziehungsweise von der - auch in der Höhe - unverändert verminderten finanziellen Leistungsfähigkeit der Familie aus.

Das BVerfG (BVerfGE 112, 164, 177) hebt hervor, dass deutlich erkennbarer und verfassungsrechtlich bedenkenfreier Zweck der Begrenzung von Ansprüchen gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist, diejenigen Eltern von finanziellen Entlastungen durch Freibeträge und Kindergeld auszuschließen, deren Kinder über eigene Einkünfte und Bezüge in einer das zu schützende Existenzminimum übersteigenden Höhe verfügen, so dass zugleich die Unterhaltspflicht der Eltern entfällt oder sich mindert. Die folgerichtige Beachtung dieses Zwecks verlangt nach Auffassung des BVerfG, dass über die Einbeziehung von Mitteln des Kindes in die Bemessungsgröße für die Freigrenze die mögliche Entlastungswirkung solcher Mittel bei den unterhaltspflichtigen Eltern entscheidet.

Aus Gründen der Systemgerechtigkeit und der Widerspruchsfreiheit muss dieser Gedanke auf die Problematik der Fallbeilwirkung des Grenzbetrages übertragen werden. Wenn das Gesetz bei Einkünften und Bezügen des Kindes in Höhe des Grenzbetrages (immer noch) von einer unverminderten Unterhaltspflicht der Eltern und einer unverändert hohen Förderungsbedürftigkeit der Familie ausgeht, kann diese Unterhaltspflicht und Förderungsbedürftigkeit bei einem Anstieg der Einkünfte und Bezüge des Kindes nur um 1 € nicht sofort ganz entfallen. Die mögliche Entlastungswirkung der beim Kind um 1 € gestiegenen Einkünfte oder Bezüge beträgt im Hinblick auf die Unterhaltspflicht der Eltern und die Förderungsbedürftigkeit der Familie ebenfalls nur 1 €. Die Fallbeilwirkung verletzt diese im Gesetz angelegte Systematik und macht den Familienleistungsausgleich an dieser Stelle widersprüchlich.

Jedenfalls bei der ständig steigenden Zahl von Fällen, in denen der Kinderfreibetrag in voller Höhe zur Freistellung des Familienexistenzminimums erforderlich ist, führt die Fallbeilwirkung überdies zu gleichheitswidrigen Progressionssprüngen, die dem Prinzip eines gleichmäßigen Belastungsanstiegs (BVerfGE 87, 153, 170) widersprechen (gleicher Ansicht Kanzler, FR 2000,1358, 1359).

Schließlich verletzt die Fallbeilwirkung das aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleitete Proportionalitätsgebot. Der aus Art. 3 GG abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat Verfassungsrang (vgl. Sachs, GG, 3. Aufl. 2003, Art. 20, Rn. 145, 154). Der Grundsatz der Proportionalität verbietet es, aus unwesentlichen Unterschieden gravierende Rechtsfolgen abzuleiten (so auch BFH, Urteil vom 11.08.1999 - XI R 12/98 - BStBl. II 2000, 229, 230). Eine solche unverhältnismäßige Rechtsfolge entfaltet der Grenzbetrag in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, wenn ihm Fallbeilwirkung beigemessen wird. Im ungünstigsten Fall führt die Erhöhung der Einkünfte und Bezüge des Kindes nur um 1 € bei den Eltern zum Wegfall des vollen Kindergeldes in Höhe von 1.848 € beziehungsweise des vollen Kinderfreibetrages in Höhe von 5.808 €. Die "schädliche" Steigerung der Kindeseinkünfte um 1 € löst eine unverhältnismäßige Rechtsfolge aus und erlangt damit eine Bedeutung, die ihr von ihrem Gewicht her nicht zukommt.

3. Der Senat hält eine verfassungskonforme Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG angesichts der nachfolgend beschriebenen höchstrichterlichen Spruchpraxis für zulässig und deshalb zur Vermeidung einer sonst in Betracht kommenden Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG für geboten, nach der der Kinderfreibetrag um den Betrag zu kürzen ist, um den die Einkünfte und Bezüge des Kindes den jeweils maßgeblichen Grenzbetrag übersteigen. Entsprechendes gilt nach Auffassung des Senats für das Kindergeld. Hier ist das Kindergeld unter Anwendung des der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Grenzsteuersatzes von 31,82% (vgl. Schmidt/Glanegger, EStG, 25. Aufl. 2006, § 31 Rz 9) entsprechend zu kürzen.

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist die verfassungskonforme Auslegung einer Norm geboten, wenn unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt (vgl. zuletzt BVerfGE 112, 164, 182f. mit Hinweisen auf die ältere Rechtsprechung). Durch den Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und den Gesetzeszweck werden der verfassungskonformen Auslegung Grenzen gezogen (vgl. BVerfG, a.a.O.). Ein Normverständnis, das in Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers treten würde, kann auch im Wege verfassungskonformer Auslegung nicht begründet werden (vgl. BVerfG, a.a.O.). Anderenfalls würde der Rechtsanwender der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vorgreifen (vgl. BVerfGE 8, 71, 79).

Allerdings muss eine verfassungskonforme Norminterpretation nicht an der subjektiven Vorstellung des Gesetzgebers scheitern, sofern nur ein Maximum dessen aufrecht erhalten wird, was der Gesetzgeber gewollt hat (vgl. BVerfGE 8, 28, 34; 9, 194, 200; 12, 45, 61; 33, 52, 70; 49, 148, 157; 72, 278, 295).

Außerdem hat die Rechtsprechung in der Vergangenheit zur Beseitigung einer sonst anzunehmenden Verfassungswidrigkeit Normen gegen ihren Wortlaut und gegen den Willen des Gesetzgebers verfassungskonform ausgelegt. So hat etwa der BFH die in § 33c Abs. 1 EStG (in der bis zum Jahr 1996 geltenden Fassung, EStG 1990 in der Fassung der Bekanntmachung vom 07.09.1990, BGBl. I S. 1898, 1991 I S. 806, zuletzt geändert durch das Jahressteuer-Ergänzungsgesetz 1996 vom 18.12.1995, BGBl. I 1959) geregelten Kinderbetreuungskosten ohne Kürzung um die zumutbaren Eigenbelastung nach § 33 EStG zum Abzug zugelassen (vgl. BFH, Urteil vom 10.04.1992 - III R 184/90 - BStBl. II 1992, 814), obwohl § 33c Abs. 1 Satz 1 EStG diese Aufwendungen ausdrücklich als außergewöhnliche Belastung im Sinne von § 33 EStG definierte und der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren die Kürzung dieser Aufwendungen um die zumutbare Eigenbelastung im Sinne von § 33 EStG ausdrücklich beabsichtigt hatte (BTDrs. 10/1636, S. 59: "...wobei die zumutbare Belastung im Sinne von § 33 Abs. 3 EStG zuvor anzurechnen ist"; zur Verfassungswidrigkeit der Nachfolgeregelung vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.03.2005 - 2 BvL 7/00 - BVerfGE 112, 268). Der BFH ist in der zitierten Entscheidung sogar so weit gegangen, die Kinderbetreuungskosten gemäß § 33c Abs. 1 EStG entgegen der gesetzlichen Anordnung nicht als außergewöhnliche Belastungen im Sinne von § 33 EStG zu behandeln, sondern er hat sie den außergewöhnlichen Belastungen "in besonderen Fällen" im Sinne von § 33a EStG zugeordnet (BFH, a.a.O., S. 816). Das BVerfG hat durch Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom 17.08.1995 - 1 BvL 17/85 - HFR 1995, 748, diese verfassungskonforme Auslegung des BFH gegen den Willen des Gesetzgebers und gegen den Wortlaut der betreffenden Vorschrift ausdrücklich gebilligt.

Vergleichbares findet sich in der Rechtsprechung des BFH zur Abfärberegelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG. Nach dieser Regelung führt auch nur eine geringfügige gewerbliche Betätigung einer Personengesellschaft zu der Rechtsfolge, dass die gesamte, mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Betätigung der Gesellschaft als Gewerbebetrieb gilt und ihre gesamten Einkünfte als solche aus Gewerbebetrieb umqualifiziert werden (zur Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung vgl. Vorlagebeschluss des Nds. FG vom 21.04.2004 - 4 K 317/91 - EFG 2004, 1065 und Ergänzungsbeschluss vom 16.04.2005, EFG 2005, 1417; BVerfG, 3. Kammer des 2. Senats, Nichtannahmebeschluss vom 26.10.2004 - 2 BvR 246/98 - HFR 2005, 56). Unter Hinweis auf den verfassungsrechtlich fundierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und auf das aus ihm abgeleitete Proportionalitätsgebot hat der BFH (Urteil vom 11.08.1999 - XI R 12/98 - BStBl. II 2000, 229, 230) gleichwohl die umqualifizierende Wirkung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG bei geringfügiger gewerblicher Tätigkeit der Gesellschaft nicht eingreifen lassen.

Angesichts der dargestellten Rechtsprechung erscheint es möglich, dass die verfassungsrechtlich notwendige Übergangsregelung bei Überschreitung des in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geregelten Grenzbetrages durch eine verfassungskonforme Auslegung dieser Norm gerechtfertigt werden kann und sich eine solche Auslegung in der Rechtsanwendung durchsetzt. Eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG wird erst in Betracht kommen, wenn sich in Zukunft herausstellen sollte, dass eine Übergangsregelung nicht durch verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes zu erreichen ist.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung. Die Revision wird zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO.

Ende der Entscheidung

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