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Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 24.01.2008
Aktenzeichen: 1 K 83/07
Rechtsgebiete: VO 1408/71/EWG, EStG


Vorschriften:

VO 1408/71/EWG Art. 13 ff.
EStG § 32 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Niedersachsen

1 K 83/07

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Frage, ob ein Kindergeldanspruch besteht.

Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger, wohnt in Deutschland, arbeitet jedoch seit 1999 für ein Unternehmen in Groningen (Niederlande) und bezieht aus dieser Tätigkeit ein sozialversicherungspflichtiges Entgelt. Er war im streitbefangenen Zeitraum verheiratet - inzwischen ist er geschieden - und hat zwei Kinder, die in den Jahren 1984 und 1988 geboren sind. Für die Kinder zahlte die Beklagte der Ehefrau des Klägers Kindergeld bis zunächst Dezember 2000. Ab Januar 2001 zahlte die dafür zuständige holländische Behörde dem Kläger nach Art. 13 Abs. 2 a, 73 der VO EG 1408/71 vom 14. Juni 1971 (ABl. L 149 vom 5. 7. 1971) Kindergeld nach holländischem Recht. Die Ehefrau des Klägers erhielt vom Beklagten ein Differenzkindergeld, das die unterschiedliche Höhe des holländischen und des deutschen Kindergeldes ausglich. Mit Ablauf des Monats September 2002 stellte die niederländische Kindergeldbehörde ihre Zahlungen ein. Zur Begründung verwies die niederländische Behörde darauf, dass die Ehefrau des Klägers eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe, das stehe der Weiterzahlung des holländischen Kindergeldes nach den Art. 10 der VO EG 574/72 und Art. 76 VO EG 1408/71 entgegen. Auf das Schreiben der "Socialen Verzekeringsbank" vom 30.10.2006 in den Kindergeldakten wird Bezug genommen. Wie es in dem Schreiben weiter heißt, sei der Anspruch auf niederländisches Kindergeld inzwischen auch deshalb erloschen, weil die Kinder das 18. Lebensjahr vollendet hätten und das niederländische Recht eine Weiterzahlung über das 18. Lebensjahr hinaus nicht vorsehe. Nach Einstellung der Zahlungen des niederländischen Kindergeldes übernahm das Niedersächsische Landesamt für Bezüge und Versorgung (NLBV) als Arbeitgeberin der Ehefrau die Weiterzahlung des Kindergeldes. Im Juni 2006 haben sich der Kläger und seine Frau getrennt, die Kinder leben seitdem im Haushalt des Klägers. Daraufhin stellte auch das NLBV die Kindergeldzahlungen an die Ehefrau ein mit Wirkung ab Juli 2006. Für Juni 2006 hat der Kläger das Kindergeld von seiner Frau erhalten.

Der Kläger beantragte nunmehr bei der Beklagten die Weiterzahlung des Kindergeldes. Diesen Antrag wies die Beklagte im Bescheid vom 30. November 2006 mit dem Hinweis darauf zurück, dass die Kindesmutter einen vorrangigen Anspruch habe. Gleichzeitig stellte ihm die Beklagte anheim, Kindergeld beim NLBV aus dem Anspruch der Kindesmutter heraus zu beantragen. Der dagegen erhobene Einspruch hatte keinen Erfolg. Im Einspruchsbescheid vom 7. März 2007 versagte die Beklagte den Anspruch nunmehr unter Hinweis auf § 65 Abs. 1 EStG. Nach der Norm sollten Doppelleistungen vermieden werden. Bereits die Existenz eines anderen materiellrechtlichen Anspruchs schließe einen Kindergeldanspruch gegen sie aus. Ein solcher anderer Anspruch bestehe im Streitfall, weil der Kläger einen Anspruch auf holländisches Kindergeld habe.

Mit der Klage verfolgt der Kläger seinen Anspruch auf deutsches Kindergeld weiter. Er ist der Auffassung, dass er einen Anspruch auf deutsches Kindergeld gegen die Beklagte habe. Ihm sei wenigstens ein Differenzkindergeld zum holländischen Kindergeld zu zahlen. Er sei dem Rat der Beklagten gefolgt und habe darüber hinaus Kindergeld beim NLBV beantragt. Der Antrag sei mündlich abschlägig beschieden worden, weil die Kinder bei ihm lebten.

Der in der mündlichen Verhandlung nicht erschienene Kläger beantragt schriftsätzlich

unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom ........... und des Einspruchsbescheides vom ........... den Beklagten zu verpflichten, an ihn ab Juli 2006 Kindergeld für seine beiden Kinder J. und L. zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an der im Einspruchsbescheid vertretenen Rechtsauffassung fest und weist darauf hin, dass der Kläger einen vorrangigen Anspruch auf holländisches Kindergeld habe. Dieser Anspruch ergebe sich aus Art. 13 VO (EG) 1408/71. Die Norm enthalte gleichzeitig eine Vorrangregelung, wonach für Familienleistungen ausschließlich holländisches Recht anwendbar sei. Diese grundsätzliche Existenz des holländischen Anspruchs schließe einen Anspruch nach deutschem Recht aus. Der Ausschluss gelte auch dann, wenn - wie im Streitfall - der holländische Anspruch wegen niedrigerer Altersgrenzen nicht mehr bestehe.

Wegen des Vortrags der Parteien im übrigen wird auf den Inhalt ihrer Schriftsätze im Klage- und im Vorverfahren Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Klage hat Erfolg.

1. Der Kindergeldanspruch des Klägers bemisst sich nach nationalem deutschem Recht.

a. Das Gericht stützt diese Erkenntnis zunächst auf seine Überzeugung, dass der Anspruch des Klägers grundsätzlich vom Regelungsbereich des Art. 13 Abs. 2 a der VO (EWG) 1408/71 erfasst wird. Nach dieser Norm unterliegen Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates abhängig beschäftigt sind, den Rechtsvorschriften dieses Staates und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnen. Mit den Rechtsvorschriften im Sinne dieser Norm sind alle Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit (Art. 1 j der VO) und damit als Familienleistungen (Art. 1 u der VO) auch die nationalstaatlichen Regelungen über das Kindergeld gemeint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005, Beilage 1; BFH-Urteil vom 24. März 2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BFH/NV 2006, 1554 ).

b. Weiter geht das Gericht davon aus, dass das vorgenannte Gemeinschaftsrecht Vorrang vor dem nationalen deutschen Recht hat (ständige Rspr. des EuGH, vgl. z.B. Entscheidung vom 15. Juli 1964 (Costa/ENEL) Rs 6/64, Slg. 1964, 1251).

c. Das Gericht versteht die vorgenannten Gemeinschaftsnormen des Art. 13 ff. der VO (EWG) 1408/71 als Konkurrenzregelung zwischen den Anwendungen der jeweiligen nationalen Ansprüche auf Kindergeld einerseits des Wohnlandes und andererseits des Beschäftigungslandes. Sie stellt ein in sich geschlossenes System von Kollisionsregelungen dar, das der Anwendung des Beschäftigungslandprinzips Vorrang gibt vor dem Prinzip des Wohnsitzlandes. Die Regelung wird außerdem vom Ausschließlichkeitsprinzip getragen, sodass alle Personen, die von der Verordnung erfasst werden, ausschließlich den Rechtsvorschriften eines Mitgliedslandes unterliegen (siehe dazu BVerfG, BVerfGE 110, 412 , BFH/NV 2005, Beilage 1; BFH, BFHE 212, 551, BFH/NV 2006, 1554 ).

d. In dieser Rechtslage hebt sich der Streitfall durch die Besonderheit hervor, dass der Kläger nach holländischem Recht, dem Recht des Beschäftigungslandes, keinen Kindergeldanspruch - mehr - hat. Im Juli 2006 waren beide Kinder des Klägers bereits 18 Jahre alt. Wie die holländische Behörde Sociale Verzekeringsbank, Bureau voor Duitse Zaken mit Schreiben vom 30.10.2006 in den Akten der Beklagten mitgeteilt hat, endet der Kindergeldanspruch nach holländischem Recht mit Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes. Diese Feststellung hat auch der Bundesminister der Finanzen mit Erlass vom 12.02.2002 IV C 3 - S - 2225a - 7/02, BStBl I 2002, 241 getroffen. Dem schließt sich auch der Senat an. Daraus folgt zugleich, dass es für den Streitfall einen Konkurrenzkonflikt zwischen Kindergeld nach holländischem und nach deutschem Recht nicht gibt.

Nach der Erkenntnis des BVerfG in seinerEntscheidung vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, BFH/NV 2005, Beilage 1 verfolgt die VO (EWG) 1408/71 den Zweck, eine Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten mit den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden (Rdnr. 19). Eine Doppelbegünstigung solle verhindert werden (Rdnr. 82). Es solle sichergestellt werden, dass kindbezogene vergleichbare Leistungen nur einmal gewährt werden (Rdnr. 84). Sofern ein deutscher Grenzgänger durch die Anwendung des Beschäftigungslandprinzis Nachteile gegenüber dem deutschen Kindergeld erfahre, müsse er das im Interesse der Praktikabilität des Verwaltungsvollzugs hinnehmen (Rdnr. 85). Es könne den deutschen Behörden nicht abverlangt werden, die unterschiedliche Höhe ausländischer Familienleistungen in jedem Einzelfall mit denen nach deutschem Recht zu vergleichen. Aus diesem Grunde hat das BVerfG in der vorgenannten Entscheidung den Ausschluss eines deutschen Grenzgängers vom Differenzkindergeld nach deutschem Recht als zulässig erachtet. Im Hinblick auf diese Entscheidung des BVerfG und mit Bezug darauf hat der BFH am24. März 2006 III R 41/05, BFHE 212, 551, BFH/NV 2006, 1554 das Ziel der Gemeinschaftsnorm darin präzisiert, ein Nebeneinander unterschiedlicher Sozialsysteme zu vermeiden und den Berechtigten eine Meistbegünstigung verschiedener Systeme zu verwehren.

Im Streitfall besteht eine derartige Konkurrenzsituation zwischen unterschiedlichen Sozialleistungen indes nicht. Der Kläger erhält im Beschäftigungsland kein Kindergeld mehr. Es besteht deshalb auch keine Gefahr einer Doppel- oder Meistbegünstigung. Auch Gründe der Praktikabilität des Verwaltungsvollzugs gebieten keinen Ausschluss des Klägers vom deutschen Kindergeld. Der Umstand, dass nach holländischem Recht kein Anspruch auf Kindergeld für Kinder über 18 Jahren besteht, ist durch den Erlass der Finanzverwaltung vom 12.02.2002 IV C 3 - S - 2225a - 7/02, BStBl I 2002, 241 bekannt geworden, bedarf keines Verwaltungsaufwandes und wird von der Beklagten auch nicht bestritten. Nach der vorgenannten Zweckrichtung (zum Vorrang der zweckgerichteten Auslegung des Gemeinschaftsrechtes gegenüber der Auslegung nach dem Wortlaut siehe Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl. Rdnr. 259 mit weiteren Nachweisen) der VO (EWG) 1408/71 besteht daher keine Veranlassung, den Kläger vom Kindergeldanspruch nach deutschem Recht auszuschließen. Der Senat wendet daher dieses Recht an.

2. Nach § 32 Abs. 4 EStG besteht für Kinder, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben, nur unter den dort aufgeführten weiteren Voraussetzungen ein Anspruch auf Kindergeld. Ob diese Voraussetzungen im Streitfall vorliegen, hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid bislang nicht geprüft. Dafür bestand nach ihrer Rechtsauffassung folgerichtig auch keine Veranlassung. Ein Vorverfahren hat zu dieser Frage somit nicht stattgefunden. Das Gericht kann diese Prüfung daher nicht vorwegnehmen. Der Senat hat die Beklagte daher in Anwendung vom § 101 FGO verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der vorgenannten Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

Die übrigen Nebenentscheidungen ergeben sich aus § 151 Abs. 3 i.V.m. § 155 FGO und §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozeßordnung.

Der Senat hat die Revision zugelassen. Soweit ersichtlich, liegt Rechtsprechung über die Reichweite der Regelung in Art. 13 VO (EWG) 1408/71 in den Fällen noch nicht vor, in denen das Recht des Beschäftigungslandes keinen Kindergeldanspruch - mehr - vorsieht.

Ende der Entscheidung

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