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Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 20.08.2009
Aktenzeichen: 11 K 121/08
Rechtsgebiete: AO, EStG


Vorschriften:

AO § 5
AO § 191 Abs. 1
EStG § 42d Abs. 1
EStG § 42d Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids, mit dem der Beklagte (das Finanzamt -FA-) die Klägerin als Arbeitgeberin für nicht ordnungsgemäß angemeldete und abgeführte Lohnsteuer und Nebenleistungen (Zeitraum November 2002 bis Dezember 2004) in Anspruch genommen hat.

Die Klägerin betreibt ein Transportunternehmen. Bei einer Lohnsteuer-Außenprüfung stellte der Prüfer fest, die Klägerin habe Lohnzahlungen durch "Umwandlung" in steuerfreie Fahrkostenerstattungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, in steuerfreie und steuerpflichtige Verpflegungsmehraufwendungen und steuerfreie Übernachtungsaufwendungen nicht ordnungsgemäß als in voller Höhe lohnsteuerpflichtigen Arbeitslohn behandelt und die darauf entfallende Lohnsteuer nicht in zu treffender Höhe angemeldet und gezahlt.

In einer Zusatzvereinbarung zum Arbeitsvertrag der Arbeitnehmer, z.B. vom 3. Juli 2001 mit dem Arbeitnehmer X, weist die Klägerin darauf hin, dass der Stundenlohn von 16,50 DM nur eine Abrechnungsgröße darstelle. Da sie Abwesenheitsgelder, Kilometergelder in den Lohn eingerechnet habe, könne es zu Differenzen kommen; der Auszahlungsbetrag ändere sich dadurch aber nicht.

Mit Bescheid vom 13. September 2007 wurde die Klägerin für die Lohnsteuerbeträge und Nebenleistungen über 8.145,88 EUR in Haftung genommen. Der Anspruch wurde auf § 42d Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gestützt. Gegen die Geschäftsführer der GmbH wurde ein Strafverfahren eingeleitet, das noch abgeschlossen ist.

Im Haftungsbescheid führt das FA aus, ein Haftungsausschluss der Klägerin liege nicht vor und die Klägerin sei als Arbeitgeberin mit einer Inanspruchnahme als Haftende einverstanden. Zudem wird auf den Prüfungsbereicht vom 30. August 2007 verwiesen.

Der dagegen erhobene Einspruch war erfolglos.

Im Einspruchsbescheid vom 28. Februar 2008 erklärt das FA "unter Berücksichtigung der Gesamtumstände" sei der Arbeitgeber vor den Arbeitnehmern in Anspruch zu nehmen. Auch bei einer Veranlagung der Arbeitnehmer sei der Arbeitgeber vorrangig in Anspruch zu nehmen, wenn nach einer Außenprüfung eine "Vielzahl von meist kleineren Lohnsteuerbeträgen" nachzufordern sei und das Verfahren der Vereinfachung diene. Das sei hier der Fall, "da es sich um eine größere Anzahl von Arbeitnehmern" handele.

Dagegen richtet sich die Klage, mit der vorgetragen wird, die Entgeltabrechung habe der langjährigen und bei mehreren Prüfungen unbeanstandeten Übung sowie den Vereinbarungen entsprochen. Gehaltsumwandlungen seien grundsätzlich zulässig und in der Branche üblich. Die Umwandlungen müssten lediglich vor der Entstehung des Lohnanspruchs vereinbart werden. Dies sei teilweise mündlich, teilweise schriftlich (s. Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer X) geschehen. Die Arbeitnehmer seien bei Einstellung über das Lohnabrechnungsverfahren ausdrücklich informiert worden. Nur in wenigen Fällen sei dies allerdings schriftlich geschehen.

Im Übrigen beruft sich die Klägerin auf Festsetzungsverjährung und erklärt, mit einer Inanspruchnahme nach der Lohnsteuerprüfung nicht einverstanden gewesen zu sein.

Die Klägerin beantragt,

den Haftungsbescheid vom 13. September 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. Februar 2008 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er weist darauf hin, dass aus den Vorprüfungen nichts hergeleitet werde könne. Der Prüfer habe festgestellt, dass durch Mehrfachberechnungen der Klägerin das steuerlich günstigste Ergebnis ermittelt worden se, offensichtlich um die Kosten für die Sozialversicherung zu minimieren. Dadurch sei aber auch die Lohnsteuer nicht ordnungsgemäß angemeldet und gezahlt worden. Wegen der eingeleiteten Strafverfahren sei noch keine Verjährung der Lohnsteueransprüche eingetreten.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Der angefochtene Haftungsbescheids ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung -FGO-).

Der angefochtene Haftungsbescheid sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung sind schon deshalb aufzuheben, weil die Verwaltungsakte an einem Ermessensfehler leiden und deshalb rechtswidrig sind. Ob die weiteren Einwendungen der Klägerin gegen die Rechtmäßigkeit der Haftungsinanspruchnahme zutreffen, kann deshalb dahingestellt bleiben.

Die Entscheidung, einen Dritten als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, hat der Gesetzgeber gemäß § 191 Abs. 1, § 5 AO in das Ermessen der Finanzbehörde gestellt (Entschließungsermessen). Hat der Arbeitgeber den Arbeitslohn nicht vorschriftsmäßig ermittelt, einbehalten und abgeführt, kann das FA die Lohnsteuer bis zum Ablauf der Verjährungsfrist sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Arbeitnehmer nachfordern (§ 42d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG). Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind danach Gesamtschuldner.

Die Wahl, an welchen Gesamtschuldner sich das FA halten will (Auswahlermessen), hat es nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung der durch Recht und Billigkeit gezogenen Grenzen zu treffen (ständige Rechtsprechung des Senats und des BFH, Urteil vom 20. Juli 1988 I R 61/85, BStBl II 1989, 99). Das setzt grundsätzlich voraus, dass das FA in eine entsprechende Prüfung eingetreten ist. Nach § 102 FGO dürfen die Finanzgerichte eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörden nur auf Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch überprüfen. Eine solche von Amts wegen durchzuführende Überprüfung setzt indessen voraus, dass die Ermessensentscheidung des FA erkennbar durchgeführt worden ist. Das FA muss folglich seine Ermessenserwägungen spätestens in der Einspruchsentscheidung kundtun, damit sie von den Finanzgerichten überprüft werden kann.

Im Streitfall hat der Senat bereits erhebliche Zweifel, ob in dem Eingeben der automatisierten Erläuterungstexte 3421, der Kennziffer 16 (Hinweis auf die in unzutreffender Höhe einbehaltene Lohnsteuer), Erläuterungstext 3474, Kennziffer 17 (Hinweis darauf, dass kein Haftungsausschluss vorliege und Einverständnis mit der Haftung bestehe) sowie des Hinweises im Prüfungsbericht vom 30. August 2007, der Arbeitgeber hafte, eine ausreichende Darlegung des Entschließungsermessens gesehen werden kann. Diesbezügliche Zweifel können jedoch dahingestellt bleiben, da jedenfalls die Entscheidung des FA hinsichtlich des Auswahlermessens fehlerhaft ist, was zur Aufhebung der streitigen Verwaltungsakte führen muss.

Zur Auswahl zwischen den Arbeitnehmern als Steuerschuldnern und der Klägerin als Haftungsschuldnerin hat das FA seine Ermessensentscheidung zwar in dem angefochtenen Einspruchsbescheid begründet. Diese Begründung ist jedoch fehlerhaft und kann die Entscheidung des Beklagten nicht stützen. Der FA sieht Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte, insbesondere die schnelle und einfache Nacherhebung der Lohnsteuer, als maßgebend an und bezieht sich dabei ausdrücklich auf das Urteil des BFH vom 16. März 1962 VI 85/61 U, BStBl III 1962, 282.

Das FA übersieht dabei aber, dass die Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung insoweit nicht erfüllt sind. Die Vereinfachung des Verfahrens durch die Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftungsschuldner setzt schon nach der vorzitierten Entscheidung voraus, dass nach einer Lohnsteuerprüfung viele Lohnsteuerbeträge aufgrund eines im wesentlichen gleich liegenden Tatbestandes nachzuzahlen sind (so auch BFH, Urteil vom 6. März 1980 VI R 62/77, BStBl II 1980, 289 unter IV; Schmidt- Drenseck, EStG, 28. Auflage, § 42d Anm. 5e).

Im Streitfall liegen der Haftung jedoch völlig ungleiche Sachverhalte zugrunde: Eine - nach Ansicht des FA - unzutreffende Lohnsteuer-Pauschalierung der Fahrtkostenerstattung (15 v. H pauschale Lohnsteuer) und steuerpflichtige Verpflegungsmehraufwendungen (25 v. H. pauschale Lohnsteuer) weist keine Parallelen zu der steuerfreien Zahlung von Auslösungen für Verpflegungsmehraufwendungen und Übernachtungskosten auf. Die unzutreffende Annahme eines gleich liegenden Tatbestandes für die im Haftungswege geltend gemachten Lohnsteuerbeträge stellt eine Verkennung des für die Ermessensentscheidung erheblichen Sachverhalts dar; unter diesen Umständen ist eine fehlerfreie Ermessensausübung nicht gegeben (BFH, Urteil vom 15. Juni 1983 I R 76/82, BStBl. II 1983, 672).

Unzureichend und deshalb fehlerhaft im Rahmen der Ermessensdarlegung sind nach Auffassung des Senats im Übrigen die Ausführungen, es seien gleiche oder ähnliche Berechnungsfehler "bei einer größeren Zahl von Arbeitnehmern" gemacht worden. Zur Überprüfung der Ermessensbetätigung des FA ist nämlich zu fordern, dass das FA die angenommene Zahl der Arbeitnehmer konkret angibt, denn nur so kann überprüft werden, ob - worauf das FA zutreffend hinweist - der eine Haftung grundsätzlich rechtfertigende Vereinfachungsgedanke als Ermessenserwägung im Einklang mit der Zahl der Nachforderungsfälle steht und deshalb seine Berechtigung hat (dazu Senaturteil vom 10. Juli 2008 11 K 604/06 n.v.).

Nach Ansicht des Senats kann bei acht Personen regelmäßig nicht von einer "Vielzahl" von Fällen gesprochen werden, auch dann nicht, wenn mehrere Veranlagungsjahre nachzuarbeiten sind oder erstmalig aufgenommen werden müssen; auch erscheint der Arbeitsaufwand zur Heranziehung der Arbeitnehmer als Erstschuldner der Steuer nicht wesentlich größer als im vorliegenden Haftungsverfahren (so auch BFH, Urteil vom 20. September 1985 VI R 45/82, BFH/NV 1986, 240, in dem der BFH die Haftung des Arbeitgebers für fehlerhafte steuerfreie Auslösungen an 33 Arbeitnehmer bei bekannten Personalien dieser Arbeitnehmer für fehlerhaft hält).

Aber selbst wenn man insoweit mit dem FA trotz der vorliegenden Umstände aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung eine Inanspruchnahme der Klägerin für gerechtfertigt hielte, ist eine eingehende, die konkreten Umstände des Falles würdigende Begründung dieser Ermessensentscheidung zu fordern und nicht nur ein floskelhafter Hinweis auf die vereinfachte Steuererhebung.

Dies gilt zugleich für den allgemeinen Hinweis, "unter Berücksichtigung der Gesamtumstände". Hier ist zu fordern, dass das FA die Gesamtumstände des Falles bezeichnet und eine Abwägung des Für und Wider einer vorrangigen Inanspruchnahme des Arbeitgebers - auch für das Gericht nachvollziehbar - darstellt.

Mit der im Klageverfahren nachgeschobenen Begründung, dass das Ermessen wegen der Strafverfahren vorgeprägt sei und deshalb habe ganz entfallen können, kann das FA nicht gehört werde. Der Haftungsbescheid nimmt nicht die Geschäftsführer der Komplementärgesellschaft nach §§ 69, 34, 71 AO in Anspruch, sondern die Klägerin als Arbeitgeberin nach § 42d EStG. In den angefochtenen Bescheiden fehlt jeder Hinweis darauf, dass das Verhalten der Klägerin bzw. ihrer Geschäftsführer strafrechtlich gewürdigt und ein Strafverfahren eingeleitet wurde.

Da der Klage schon wegen der dargelegten Ermessensfehler stattzugeben ist, braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die weiteren Einwendungen der Klägerin gegen die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids zutreffen, insbesondere ob die Voraussetzungen für eine Gehaltsumwandlung vorgelegen haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Ende der Entscheidung

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