Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 19.09.2006
Aktenzeichen: 13 K 40/06
Rechtsgebiete: BGB, AO 1977


Vorschriften:

BGB § 130
AO 1977 § 129
AO 1977 § 157
AO 1977 § 172 ff.
AO 1977 § 239 Abs. 1 S. 1
Widerruf eines Steuerbescheid bis zur Bekanntgabe schriftlich möglich
Finanzgericht Niedersachsen

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Zinsbescheid vom 06.10.2005 wirksam bekannt gegeben wurde.

Die Kläger stritten vor dem Finanzgericht über die Höhe der festzusetzenden Einkommensteuer für 1991, die hinsichtlich des streitigen Teils bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Rechtsstreit ausgesetzt war. Nach endgültiger Erfolglosigkeit der Klage setzte der Beklagte Aussetzungszinsen mit Bescheid vom 06.10.2005 für die Dauer vom 28.08.2001 bis zum 15.10.2005 in Höhe von 36.015 Euro fest. Der Bescheid wurde am selben Tag vormittags von der Poststelle des Beklagten zum Postamt gebracht und aufgegeben. Nach einem Aktenvermerk des Bearbeiters vom 06.10.2005 hat er wiederum noch an diesem Tag nach Absendung des Bescheides mit einem Mitarbeiter des empfangsberechtigten Steuerbüros telefoniert und diesem mitgeteilt, dass der am heutigen Tage abgesandte Zinsbescheid nicht bekannt gegeben werden solle, da er inhaltlich falsch sei.

Mit Zinsbescheid vom 17.10.2005 setzte der Beklagte nunmehr Zinsen in der richtigen Höhe von 67.620 Euro für die Zeit vom 21.01.1998 bis 15.10.2005 fest. Gegen diesen Bescheid legten die Kläger Einspruch ein mit der Begründung, dass der Bescheid vom 06.10.2005 wirksam geworden sei. Eine Änderungsvorschrift läge nicht vor.

Der Beklagte wies den Einspruch durch Entscheidung vom 20.12.2005 als unbegründet zurück. Das Steuerbüro sei bereits am 06.10.2005 über die Aufgabe des Bekanntgabewillens benachrichtigt und am 07.10.2005 nochmals erinnert worden. Zudem lägen die Voraussetzungen des § 129 AO vor, da die Erstfestsetzung dadurch zustande gekommen sei, dass sich der Sachbearbeiter in der Zeile versehen habe.

Im Klageverfahren tragen die Kläger vor, der Bescheid vom 06.10.2005 sei wirksam bekannt gegeben worden. Die Aufgabe des Bekanntgabewillens sei zu einem Zeitpunkt erfolgt, als der Bescheid den Herrschaftsbereich der Behörde bereits verlassen gehabt habe. Der danach erfolgte Anruf habe den Bekanntgabewillen nicht mehr beseitigen können. Eine Änderungsmöglichkeit liege ebenfalls nicht vor.

Die Kläger beantragen,

den Festsetzungsbescheid über Aussetzungszinsen vom 17.10.2005 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 20.12.2005 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Bescheid vom 06.10.2005 sei nicht wirksam geworden. Der Sachbearbeiter habe am Nachmittag des 06.10.2005 die Fehlerhaftigkeit des Zinsbescheids bemerkt und noch am selben Tag mit einem Mitarbeiter des Steuerbüros der Kläger telefoniert. Dabei sei dem Mitarbeiter erläutert worden, dass der Bescheid nicht bekannt gegeben werden solle. Hierüber sei auch ein Aktenvermerk gefertigt worden. Am nächsten Tag sei nochmals an den Sachverhalt erinnert worden. Demzufolge sei der Bescheid nicht wirksam geworden. Der Zinsbescheid vom 17.10.2005 habe folglich ergehen dürfen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Klage ist begründet.

1.

Der Beklagte durfte den Bescheid vom 06.10.2005 nicht ändern, da er mit Zugang beim Prozessbevollmächtigten der Kläger wirksam geworden ist. Eine Korrekturvorschrift liegt - unstreitig - nicht vor. Aus den Akten lässt sich weder erkennen, worauf der Fehler bei Erstellung des Bescheides vom 06.10.2006 beruht noch sind die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift nach §§ 172 ff. AO erfüllt.

2.

Der Bescheid vom 06.10.2005 ist mit dem Zugang beim Empfangsbevollmächtigten der Kläger wirksam geworden. Ein Verwaltungsakt wird gegenüber demjenigen, für den er bestimmt oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird (§ 124 Abs. 1 S. 1 AO).

Der Zinsbescheid ist dem empfangsberechtigten Steuerberater wirksam bekannt gegeben worden. Bekanntgabe bedeutet die mit Willen der Behörde erfolgende Eröffnung (Kundgabe) des Verwaltungsaktes an den Betroffenen (vgl. Pahlke in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 122 Rz. 6 m.w.N.). Der Verwaltungsakt wird insbesondere dann nicht wirksam, wenn seine Bekanntgabe ohne Bekanntgabewillen erfolgte (vgl. BFH-Urteil vom 12.08.1996 - VI R 18/94, BStBl. II 1996, 627). Der Bekanntgabewille wird indes bei der abschließenden Zeichnung der Aktenverfügung durch den zuständigen Amtsträger gebildet und durch Abzeichnung sowie anschließende Abgabe des Verwaltungsaktes in den Geschäftsgang dokumentiert (BFH- Urteil vom 24.11.1988 - V R 123/83, BStBl. II 1989, 344). Im Streitfall hat der zuständige Bearbeiter die Aktenverfügung - unstreitig - mit Bekanntgabewillen gezeichnet und sodann in den Geschäftsgang gegeben.

3.

Der Beklagte hat den zunächst gebildeten Bekanntgabewillen weder rechtzeitig aufgegeben noch die entäußerte Willenserklärung, die im Zinsbescheid verkörpert war, wirksam vor Bekanntgabe widerrufen.

a)

Eine Aufgabe des Bekanntgabewillens kann nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, durch klare und eindeutige Dokumentation des Aufgabewillens lediglich bis zu dem Zeitpunkt erfolgen, bis zu dem der Bescheid den Herrschaftsbereich der Behörde verlassen hat (vgl. BFH-Urteil vom 12.08.1996 - VI R 18/94, BStBl. II 1996, 627). Zum Zeitpunkt der Aufgabe zur Post hatte der zuständige Bearbeiter den Fehler im Zinsbescheid nicht bemerkt. Er hatte folglich keine Veranlassung, den Bekanntgabewillen schon zu diesem Zeitpunkt aufzugeben. Eine Aufgabe erfolgte nach dem Aktenvermerk in den Behördenakten erst als der Bescheid bereits den Herrschaftsbereich des Beklagten verlassen hatte. Durch die bloße Dokumentation konnte der Bekanntgabewille folglich nicht mehr beseitigt werden.

b)

Nach Auffassung des Senats ist durch die telefonische Mitteilung des Sachbearbeiters beim Steuerbüro des Klägers der Verwaltungsakt bzw. die in ihm enthaltene Willenserklärung der Behörde nicht wirksam widerrufen worden. Zwar geht der Senat davon aus, dass aufgrund der Regelung des § 124 AO, der die Wirksamkeit eines Verwaltungsaktes mit dessen Bekanntgabe verknüpft, also dem Zeitpunkt der Möglichkeit der Kenntnisnahme des Inhalts der Einzelfallregelung, die Behörde den einmal in die Welt gesetzte, verkörperte Willenserklärung widerrufen kann (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 23.03.2006, II 347/04, juris). Denn erst mit seinem Wirksamwerden entfaltet der Verwaltungsakt seine vollständige Bindungswirkung. Ab diesem Zeitpunkt sind die ausdrücklichen Verfahrensregeln der Abgabenordnung zu beachten, die nur noch eine eingeschränkte Abänderbarkeit (vgl. §§ 172 ff. AO) für die Behörde vorsehen. Von einer ähnlichen Situation geht auch die zivilrechtliche Regelung des § 130 Abs. 1 S. 2 BGB aus, der einen Widerruf verkörperter Willenserklärung bis zum Zugang beim Empfänger zulässt.

c)

Ein Widerruf der Willenserklärung kann nach Absendung des schriftlichen Verwaltungsaktes indes nur durch schriftliche Mitteilung bzw. Verwaltungsakt erfolgen (ebenso FG Hamburg, Urteil vom 23.03.2006, II 347/04, juris). Dies gilt nach Auffassung des Senats jedenfalls dann, wenn der zu widerrufende Verwaltungsakt selbst der Schriftform unterlag. Für das Erfordernis der Schriftform sprechen nicht nur Gründe der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Denn nur im Falle der Schriftform kann der Steuerpflichtige zweifelsfrei feststellen, ob ein ihm bekannt gegebener Verwaltungsakt Geltung beanspruchen kann. Für das Schriftformerfordernis des Widerrufs spricht letztlich auch, dass der Widerruf als gegenteilige Willenserklärung der Behörde den gleichen Regeln unterworfen ist wie der Verwaltungsakt, dessen Wirksamkeit verhindert werden soll.

Da Zinsbescheide gemäß §§ 239 Abs. 1 S. 1, 157 Abs. 1 S. 1 AO der Schriftform unterliegen, hätte folglich auch der Widerruf des Zinsbescheides schriftlich erfolgen müssen.

d)

Gegen das Schriftformerfordernis spricht insbesondere auch die Regelung des § 130 Abs. 1 S. 2 BGB nicht. Zwar ist ein Widerruf einer schriftlichen Willenserklärung im Zivilrecht auch durch mündliche Mitteilung möglich. Der Rechtsgedanke des § 130 BGB gilt indes nicht unmittelbar im Verwaltungsrecht. Eine Übertragung kann nur insoweit erfolgen als spezifische öffentliche Vorschriften, zu denen auch die Formvorschriften gehören, nicht eine entgegenstehende Regelung enthalten. Da § 157 AO das Schriftformerfordernis für Steuerverwaltungsakte und gemäß § 239 AO auch für Zinsbescheide anordnet, lässt sich der Verfahrensordnung eine entgegenstehende Regelung entnehmen. Dabei gilt das Schriftformerfordernis für den gesamten Zeitraum des Entstehens des Steuerverwaltungsaktes bis zu dessen vollständigen Wirksamwerden, so dass der Widerruf des Zinsbescheides bereits vor dem Wirksamwerden des Zinsbescheides ebenfalls das Schriftformerfordernis erfüllen muss.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.



Ende der Entscheidung

Zurück