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Gericht: Finanzgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 09.09.1997
Aktenzeichen: VIII 619/92
Rechtsgebiete: EStG


Vorschriften:

EStG § 33 Abs. 1
EStG § 33 Abs. 2 S. 1
EStG § 33a Abs. 2
Aufwendungen für den Internatsbesuch eines an Legasthenie erkrankten Kindes können als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG berücksichtigt werden.
Finanzgericht Niedersachsen

VIII 619/92

In dem Rechtsstreit

hat der VIII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts

nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 9. September 1997,

an der mitgewirkt haben:

Vorsitzender Richter ... am Finanzgericht, Richter ... am Finanzgericht, Richterin ... am Finanzgericht, ehrenamtliche Richterin ..., ehrenamtlicher Richter ...,

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Einkommensteuer wird unter Aufhebung des Einspruchsbescheids vom 6. Oktober 1992 und Änderung der Einkommensteuerbescheide für 1988 vom 21. Mai 1990, für 1989 vom 30. Januar 1991 und für 1990 vom 4. März 1992 herabgesetzt unter Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen in 1988 von 9.702,00 DM, in 1989 von 8.664,00 DM und in 1990 von 8.208,00 DM.

Ein Ausbildungsfreibetrag für J ist daneben nicht zu berücksichtigen.

Die Steuerberechnung wird dem Finanzamt übertragen.

Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben.

Tatbestand:

Streitig ist, ob Aufwendungen für den Internatsbesuch des Sohnes der Klägerin in England als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG zu berücksichtigen sind.

Der Kläger ist Amerikaner und von Beruf Geo-Physiker, die Klägerin ist Engländerin und Psychologin. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1988 bis 1990 machten sie Aufwendungen für den Internatsbesuch des Sohnes der Klägerin in England, den 1974 geboren J , als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG geltend (Schulgeld und Reisekosten von insgesamt 1988 = 30.803,15 DM, 1989 = 34.588,30 DM und 1990 =- 36.359,46 DM).

Das beklagte Finanzamt -FA- lehnte die Berücksichtigung der Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung ab. Es gewährte nur den Ausbildungsfreibetrag für auswärtige Unterbringung in Höhe von 1.800,00 DM.

Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruch die vorliegende Klage. Die Kläger tragen vor, daß J seit 1988 in England in einem Spezialinstitut behandelt werde, das über spezielle Lern- und Behandlungsangebote für Schüler mit ausgeprägten Teilleistungsschwächen im Lern-, Lese- und Rechtschreibbereich (Dyslexie) verfügt. Das Kind leide unter einer solch erheblichen Lernbehinderung, daß eine Beschulung nach schulaufsichtsbehördlicher sowie medizinischer Erkenntnis im deutschsprachigen Raum mit Erfolg nicht durchzuführen sei. Da das nächstliegende Spezialinstitut in Großbritannien gelegen sei, werde es seit 1988 in der "Language Development Unit Department, M School" unter medizinischer Aufsicht schulisch betreut.

Die Abzugsfähigkeit der Aufwendungen gemäß § 33 Abs. 1 EStG sei insbesondere deshalb gegeben, weil das Kind seit 1984 nach umfassender psychologischer und pädagogischer Bewertung des Schulaufsichtsamtes von der Schulpflicht aus medizinischen Gründen befreit sei. Darüber hinaus ergäben die vorliegenden medizinischen Gutachten und Aussagen des behandelnden Arztes - die Bescheinigungen vom 26.09.1989, 06.05.1992 und 06.04.1993 des Abteilungsvorstehers für Kinder-und Jugendpsychatrie an der Universität (Prof. Dr. S ) - ein klares und eindeutiges medizinisches Votum. Die bei dem Kind festgestellte Funktionsschwäche des zentralen Nervensystems sei als Krankheit anzusehen, die einer seelischen Behinderung entspreche. Die Behandlung dieser Krankheit, die weder an Staatsschulen noch an "normalen" Privatschulen möglich sei, müsse in einer Spezialeinrichtung im englischsprachigen Raum vorgenommen werden.

Die Kläger haben ihren ursprünglichen Klagantrag in der mündlichen Verhandlung eingeschränkt, nachdem festgestellt wurde, daß der Vater des Kindes sich an den Kosten zur Hälfte beteiligt hat und nicht alle Aufwendungen abzugsfähig sind.

Sie beantragen,

unter Abänderung der Einspruchsentscheidung vom 6. Oktober 1992 als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG für 1988 nur noch 9.702,00 DM, für 1989 nur noch 8.664,00 DM und für 1990 nur noch 8.208,00 DM zu berücksichtigen.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das FA, das gegen die Höhe der Aufwendungen keine Einwände erhoben hat, verweist auf seinen Einspruchsbescheid und führt ergänzend aus, daß zur Abgrenzung von Krankheits- und Ausbildungskosten zu prüfen sei, ob die Lese- und Rechtschreib- schwäche auf einer Hirnfunktionsstörung beruhe oder eine andere nicht krankheitsbedingte Ursache habe. Der Nachweis sei durchein amtsärztliches Attest zu führen. Dieses liege nicht vor. Es sei auch nicht bekannt, ob im Zusammenhang mit dem Besuch der Schule in England eine medizinisch indizierte Legasthenie-- Behandlung durchgeführt wurde.

Nach der Klagbegründung dürfte es sich nicht um abzugfähige Krankheitskosten, sondern um Aufwendungen handeln, die lediglich die sozialen Folgen einer Krankheit beträfen und durch die nur ganz allgemein einer psychischen Belastung vorgebeugt werden solle, um die mit der Legasthenie einhergehenden Störungen nicht zu verstärken. Ein derartiger Sachverhalt erfülle jedoch nicht den Tatbestand des § 33 EStG.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird ergänzend auf die im Einspruchs- und Klageverfahren gewechselten Schriftsätze, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie die Steuerakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist nur insoweit begründet, als außergewöhnliche Belastungen in 1988 von 9.702,00 DM, in 1989 von 8.664,00 DM und in 1990 von 8.208,00 DM zu berücksichtigen sind. Ein Ausbildungsfreibetrag wegen auswärtiger Unterbringung gemäß § 33 a Abs. 2 EStG kann daneben nicht gewährt werden.

Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antragermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und insoweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).

Die Anwendung des § 33 EStG ist allerdings gemäß § 33 a Abs. 5 EStG dann ausgeschlossen, wenn es sich bei den Aufwendungen um Aufwendungen für die Berufsausbildung von Kindern im Sinne des § 33 a Abs. 2 EStG handelt. Dabei ist der Begriff der Berufsausbildung im Sinne des § 33 a Abs. 1 und 2 EStG weit zu fassen (vgl. Urteil des BFH vom 9. November 1984 VI R 40/83,BStBl II 1985, 135). Aufwendungen für die Berufsausbildung sind danach alle Geld- und Sachzuwendungen, die für die Berufsausbildung typischerweise anfallen, wie etwa Schulgelder, Aufwendungen für Bücher und anderes Lernmaterial sowie Fahrtkosten zur Ausbildungsstätte. § 33 EStG wird aber dann nicht durch § 33 a Abs. 5 EStG ausgeschlossen, wenn einem Steuerpflichtigen in Ausnahmefällen durch außergewöhnliche Umstände zusätzliche, durch die Pauschalregelungen des § 33 a Abs. 2 EStG nicht abgegoltene besondere Aufwendungen entstehen. Das kann insbesondere bei Krankheitskosten der Fall sein, auch wenn diese einem unterhaltspflichtigen Dritten entstehen (vgl. BFH-Urteile vom 18. April 1990 III R 160/86, BStBl II 1990, 962; und vom 11. Juli 1990 III R 111/86, BStBl II 1991, 62).

Krankheitskosten erwachsen einem Steuerpflichtigen regelmäßig zwangsläufig, weil er sich ihnen aus tatsächlichen Gründen nicht entziehen kann. Sie gehören aber nur dann zu den nach § 33 EStG berücksichtigungsfähigen Aufwendungen, wenn sie zum Zweck der Heilung einer Krankheit oder mit dem Ziel gemacht werden, die Krankheit erträglicher zu machen (ständige Rechtsprechung vgl. z.B. BFH-Urteil vom 26. Juni 1992 III R 8/91, BStBl II 1993, 278). In diesem Sinn sind alle Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung typisierend als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, ohne daß es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit dem Grunde und der Höhe nach bedarf. Zu den Krankheitskosten gehören nicht nur die Kosten für medizinische Leistungen im engeren Sinn, sondern auch solche für eine krankheitsbedingte Unterbringung. Keine außergewöhnlichen Belastung wird dagegen durch vorbeugende, der Gesundheit ganz allgemeindienende Maßnahmen oder durch die mit einer Krankheit verbundenen Folgekosten begründet. Derartige, die Gesundheit allgemeinfördernde Maßnahmen, dienen nicht gezielt der Heilung oder Linderung von Krankheiten und fallen daher nicht unter den Begriff der Heilbehandlung in dem eher maßgeblichen Sinn (BFH-Urteil vom 20. März 1987 III R 150/86, BStBl II 1987, 596).

Dementsprechend können auch Aufwendungen eines Unterhaltspflichtigen für die Behandlung eines Kindes, dessen Lese- und Rechtschreibfähigkeit beeinträchtigt sind, als Krankheitskosten gemäß § 33 EStG berücksichtigt werden, wenn die Lese- und Rechtschreibschwäche im konkreten Fall eine Krankheit darstellt und die Aufwendungen zum Zweck ihrer Heilung oder Linderung getätigt werden (vgl. BFH-Urteil III R 8/91 a.a.O.).

Unter Beachtung dieser von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, denen der Senat folgt, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, daß es sich bei den der Höhe nach unstreitigen Aufwendungen für die Unterbringung des Sohnes der Klägerin in einem Internat in England um unmittelbare Krankheitskosten handelte, die einer medizinischen Behandlung einer krankhaften Legasthenie dienten und demnach eine außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG darstellen.

Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Störung der Lese- und Rechtschreibschwäche, die auf einer isolierten Störung der zentralen (zerebralen), für das Lesen und Schreiben notwendigen Wahrnehmungsfunktionen bei gleichzeitiger normaler Entwicklung der übrigen zentralen Funktionen beruht, als Krankheit anzusehen (vgl. BFH-Urteil III R 8/91 a.a.O.). Dabei hat sich der BFH auf ein nicht veröffentlichtes Urteil des bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Juli 1989 berufen, das sich insoweit auf ein Gutachten eines ordentlichen Professors für Kinder- und Jugendpsychatrie stützt (vgl. auch Brockhaus Enzyklopädie unter Legasthenie).

Wenn eine solche Legasthenie im engeren Sinne einer medizinisch indizierten Behandlung unterworfen wird, können danach die entsprechenden Kosten unmittelbare Krankheitskosten sein. Das gilt dann auch für Kosten einer auswärtigen Unterbringung, auch wenn diese internatsmäßig erfolgt und zugleich der schulischen Ausbildung dient (vgl. BFH-Urteil III R 8/91 a.a.O. und BFH-Beschluß vom 17. April 1997 - III B 216/96 - in Der Betrieb, 1997, S. 1599).

Im Streitfall wurden ausweislich ärztlicher Bescheinigungen des Abteilungsvorstehers für Kinder- und Jugendpsychatrie an der Universität G , Professor Dr. med. S , vom 26.09.1989 und 06.04.1993 (Blatt 25 und 34 der Finanzgerichtsakte) beim Sohn der Klägerin ausgeprägte Funktionsschwächen des zentralen Nervensystems festgestellt. Die bei dem Sohn der Klägerin be- stehende Lese- und Rechtschreibschwäche beruhte insoweit auf einer Hirnfunktionsstörung. Die medizinisch indizierte Behandlung der Legasthenie konnte danach auch nur in solchen Einrichtungen erfolgen, die über spezielle Lern- und Behandlungsangebote mit Schülern mit einer sog. Dyslexie verfügen.

Aufgrund der ärztlichen Bescheinigungen und Fachkompetenz des Abteilungsvorstehers für Kinder- und Jugendpsychatrie an der Universität G , des Professors Dr. S , der Bestätigungen und Stellungnahmen der Schulbehörden - des Schulaufsichtsamtes vom 17.09. und 12.12.1984 und der M School vom 6. Mai 1993 -, die der Senat als ausreichenden Ersatz eines amtsärztlichen Attests ansieht, steht auch fest, daß die Unterbringung und Unterrichtung des Sohnes der Klägerin in dem Internat in England, der M School, notwendig war.

Zur Überzeugung des Senats steht schließlich auch fest, daß im Zusammenhang mit der Unterbringung eine medizinisch indizierte Legasthenie-Behandlung durchgeführt worden ist. Denn ausweislich der Bestätigungen vom 6. Mai 1993 und 2. September 1997 der M School, einem vollfunktionierenden medizinischen Zentrum, ausgestattet mit Krankenschwestern, einem Arzt und Psychotherapeuten, besuchte J dort wegen seiner Legasthenie die Sprachheilabteilung in den Streitjahren 1988 bis 1990.

Die Steuerberechnung wird gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 dem beklagten Finanzamt übertragen. Dabei wird das Finanzamt zu berücksichtigen haben, daß bei Anerkennung der Kosten als außergewöhnliche Belastung zusätzlich ein Ausbildungsfreibetrag wegen auswärtiger Unterbringung gemäß § 33 a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht gewährt werden kann (vgl. BFH-Urteil III R 8/91 a.a.O.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung.

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