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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Nürnberg
Urteil verkündet am 07.04.2009
Aktenzeichen: II 230/06
Rechtsgebiete: AO


Vorschriften:

AO § 169 Abs. 1
AO § 171 Abs. 3a
AO § 175 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In dem Rechtsstreit

...

hat der 2. Senat des Finanzgerichts Nürnberg

ohne mündliche Verhandlung

in der Sitzung vom 07.04.2009

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

Tatbestand:

Streitig ist, ob eine Änderung der Steuerfestsetzungen für die Streitjahre noch zulässig ist.

Der Kläger begann im Jahre 1994 mit dem Einzelhandel von Sportartikeln. In den Streitjahren lieferte er auch Waren nach Polen. So kaufte der aus Polen stammende A in einer Vielzahl von Fällen bei dem Kläger Sportartikel, meist Sportschuhe, für verschiedene Abnehmer in Polen an. Die Waren wurden von polnischen Fahrern beim Kläger abgeholt, bezahlt und an polnische Kundenadressen verfrachtet. Die Geschäfte organisierte im Hintergrund der ebenfalls in Polen gebürtige deutsche Staatsangehörige B. Der Kläger erfasste diese Geschäfte in seinen Umsatzsteuervoranmeldungen als steuerfreie Ausfuhrlieferungen. Im Rahmen von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen wurde festgestellt, dass für die Ausfuhren nach Polen gefälschte Zollbelege verwendet wurden. Aufgrund der Feststellungen der Steuerfahndung (vgl. Fahndungsbericht) wurden diese Lieferungen des Klägers nun als steuerpflichtig behandelt und entsprechend in den Umsatzsteuervoranmeldungen berichtigt. Diese Vorgänge führten zu Erhöhungen der Umsatzsteuer in 1995 um 9.294 DM und in 1996 um 328.916 DM. Das gegen den Kläger deswegen eingeleitete Steuerstrafverfahren stellte die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO wieder ein, da ihm nicht nachweisbar war, dass er von den Fälschungen wusste bzw. diese erkannte.

B wurde insoweit wegen Urkundenfälschung vom Amtsgericht C zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt.

In weiteren Geschäften im Jahre 1997 lieferte der Kläger Sportartikel an die Firmen D in Monaco und E in Frankreich. Der Kläger erfasste diese Geschäfte in seinen Umsatzsteuervoranmeldungen als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen. Im Rahmen einer Umsatzsteuersonderprüfung wurde jedoch festgestellt, dass es sich bei dem Unternehmen in Monaco um eine Briefkastenfirma und bei der Firma in Frankreich um ein Unternehmen handelte, das Geschäfte mit Bratpfannen und Kasserollen machte. Zudem wurden weitere als steuerfrei behandelte Ausfuhren nach Polen festgestellt, bei denen gefälschte Zollstempel verwendet worden waren. Infolgedessen wurden die Umsatzsteuervoranmeldungen korrigiert und die Umsätze als steuerpflichtig behandelt. Diese Vorgänge führten zu Erhöhungen der Umsatzsteuer in 1997 um 194.847 DM.

Da der Kläger für das Streitjahr 1995 keine Umsatzsteuerjahreserklärung abgegeben hatte, schätzte das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen entsprechend der korrigierten Voranmeldungen und setzte die Umsatzsteuer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) mit dem Bescheid vom 21.11.1997 in Höhe von 14.750 DM fest. Den Vorbehalt der Nachprüfung hob es mit dem Bescheid vom 09.06.1999 ohne Änderung der Besteuerungsgrundlagen auf. Am 08.07.1999 reichte der Kläger die Umsatzsteuererklärung unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Fahndungsprüfung ein und gab darin unter anderem steuerpflichtige Umsätze zu 15% in Höhe von 621.961 DM, steuerfreie Ausfuhrlieferungen von 4.705 DM und abziehbare Vorsteuerbeträge von 77.420 DM an. Das Finanzamt folgte den erklärten Angaben, änderte die Steuerfestsetzung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 2 AO und setzte mit dem an den Kläger adressierten Änderungsbescheid vom 23.07.1999 die Umsatzsteuer für 1995 wie vom Kläger berechnet in Höhe von 16.405 DM fest. Mit Schreiben vom 02.09.1999 beantragte der steuerliche Vertreter für den Kläger, die Steuerfestsetzung für 1995 wieder unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu stellen, weil sich aufgrund von in Polen laufender Gerichtsverfahren gegebenenfalls neue Beweismittel bzw. Tatsachen ergeben könnten. Den Antrag lehnte das Finanzamt mit dem Bescheid vom 06.09.1999 unter Hinweis auf die wegen des Ablaufs der Einspruchsfrist am 26.08.1999 eingetretene Bestandskraft der Steuerfestsetzung für 1995 ab. Es wies in dem Bescheid darauf hin, dass nach Abschluss der Gerichtsverfahren zu prüfen sei, ob nicht darin ein steuerlich rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO zu sehen sei.

Für das Streitjahr 1996 schätzte das Finanzamt ebenfalls zunächst die Besteuerungsgrundlagen unter Berücksichtigung der berichtigten vorangemeldeten Daten und setzte in dem Bescheid vom 09.06.1999 die Umsatzsteuer für 1996 in Höhe von 0 DM unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) fest. Aufgrund der Erklärung vom 22.07.1999, in der der Kläger wieder unter Berücksichtigung der Fahndungsergebnisse unter anderem steuerpflichtige Umsätze zu 15% in Höhe von 2.963.798 DM und abziehbare Vorsteuerbeträge von 483.883 DM, aber keine steuerfreien Umsätze angab, setzte das Finanzamt die Umsatzsteuer wie vom Kläger berechnet in Höhe eines Erstattungsbetrages von 38.305 DM fest und hob in dem an den Kläger adressierten Änderungsbescheid vom 09.08.1999 den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Aufgrund des Einspruchs vom 31.08.1999, in dem der steuerliche Vertreter die Beibehaltung des Vorbehalts der Nachprüfung beantragte, setzte das Finanzamt in dem nach § 172 Abs. 1 Satz 2 AO geänderten und an den steuerlichen Vertreter adressierten Bescheid vom 16.09.1999 die Steuerfestsetzung für 1996 wieder gemäß § 164 Abs. 1 AO unter den Vorbehalt der Nachprüfung.

Auch die Besteuerungsgrundlagen für das Streitjahr 1997 schätzte das Finanzamt wegen Nichtabgabe der Steuererklärung. Ebenfalls in Anlehnung an die berichtigten Voranmeldungen setzte es die Umsatzsteuer mit dem Bescheid vom 09.06.1999 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung in Höhe von 10.000 DM fest. Aufgrund der am 22.07.1999 eingegangenen Umsatzsteuererklärung, in der der Kläger u.a. steuerpflichtige Umsätze zu 15% in Höhe von 2.029.918 DM, steuerfreie Ausfuhrlieferungen von 19.733 DM und abziehbare Vorsteuerbeträge von 295.590 DM angab, wobei er den Feststellungen der Umsatzsteuersonderprüfung folgte, setzte das Finanzamt wie vom Kläger berechnet in dem an ihn adressierten Änderungsbescheid vom 10.08.1999 die Umsatzsteuer mit 10.385 DM fest und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Entsprechend des Einspruchs vom 31.08.1999, der sich sowohl auf 1996 als auch auf das Streitjahr 1997 bezog, setzte das Finanzamt auch die Steuerfestsetzung für 1997 mit dem Änderungsbescheid vom 16.09.1999 wiederum unter den Vorbehalt der Nachprüfung.

Erstmals mit Schreiben vom 27.01.2005, dann mit weiteren Schreiben vom 26.04.2005, vom 10.05.2005 und vom 27.06.2005, beantragte der Kläger, die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1995, 1996 und 1997 dahin zu ändern, dass die als umsatzsteuerpflichtige Lieferungen versteuerte Ware, welche eindeutig ins polnische Ausland gelangt sei, als steuerfreie Lieferungen belassen werden. Aufgrund der nun abgeschlossenen strafrechtlichen Ermittlungen stehe fest, dass die Ware tatsächlich ins Ausland geliefert worden, er, der Kläger, aber mit gefälschten Ausfuhrbelegen getäuscht worden sei. Zum Beweis legte er u.a. Kopien aus den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten und aus der Anklageschrift des Verfahrens gegen B und in Kopie das gegen B ergangene Urteil vor.

In der staatsanwaltlichen Verfügung vom 27.11.1998 wird ausgeführt, dass kein Anlass zu der Annahme bestehe, dass die vom Kläger nach Polen verkauften Waren in Deutschland geblieben seien. Nach Aktenlage sei davon auszugehen, dass die Waren unter Verwendung gefälschter Rechnungen nach Polen ausgeführt und dabei polnische Eingangsabgaben hinterzogen worden seien. In dem Strafurteil gegen B wird ausgeführt, dass bei der Ausfuhr der vom Kläger nach Polen gelieferten Waren gefälschte deutsche Zolldokumente verwendet worden seien, um die Belastung durch den polnischen Zoll gering zu halten.

Mit Bescheid vom 28.07.2005 lehnte das Finanzamt eine Änderung der Steuerfestsetzungen wegen Ablaufs der Festsetzungsfristen ab. Der fristgerecht eingelegte Einspruch wurde mit der Entscheidung vom 03.08.2006 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat Klage erhoben und sinngemäß beantragt, den Ablehnungsbescheid vom 28.07.2005 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.08.2006 aufzuheben und das Finanzamt zu verpflichten, die Umsatzsteuerbescheide für 1995, 1996 und 1997 dahin zu ändern, dass die als umsatzsteuerpflichtig erfassten Lieferungen nach Polen steuerfrei belassen werden und die Umsatzsteuer für 1995 i.H.v. 7.111 DM, die Umsatzsteuer für 1996 i.H.v. - 367.221 DM und die Umsatzsteuer für 1997 i.H.v. - 184.462 DM festgesetzt wird.

Zur Begründung trägt er folgendes vor:

Die Klage sei erforderlich, um mögliche Haftungsansprüche gegen die früheren steuerlichen Vertreter geltend machen zu können. Es sei zu prüfen, ob das Einspruchsschreiben vom 31.08.1999 dahin auszulegen sei, dass umfassende Einsprüche gegen die Umsatzsteuerbescheide die Streitjahre betreffend gewollt gewesen seien und nicht lediglich Einsprüche mit dem Ziel, die Steuerfestsetzungen wieder unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu stellen. Die Einsprüche hätten bezweckt, die Steuerfestsetzungen wegen in Polen angestrengter Gerichtsverfahren offen zu halten. Unter diesem Gesichtspunkt sei die Festsetzungsverjährung nicht eingetreten.

Es sei auch nicht zwischen den nach § 164 AO und § 165 AO getroffenen Regelungen unterschieden worden. Offensichtlich habe der frühere steuerliche Vertreter des Klägers die Vorläufigkeit der Steuerfestsetzungen beantragt. Der Schriftverkehr zwischen dem Finanzamt und dem einspruchsführenden Steuerberater deute auf die Vorläufigkeitsregelung hin. Da eine Endgültigkeitserklärung nicht erfolgt sei, bestehe nach wie vor die Vorläufigkeit der Steuerbescheide. Jedenfalls ergäbe sich aus den jeweiligen Schreiben, dass bereits telefonisch auf Beweise verwiesen worden sei, die eine Änderung der Steuerbescheide ermöglicht hätten. Insofern sei vor Ablauf der regulären Festsetzungsfrist ein Änderungsantrag gestellt worden; somit sei eine Ablaufhemmung eingetreten.

Das beklagte Finanzamt habe bei Erlass der streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheide bestritten, dass die von ihm nach Polen gelieferten Waren tatsächlich dorthin gelangt seien. Aufgrund des Ermittlungsergebnisses der Staatsanwaltschaft, der daraufhin ergangenen Verurteilung des B und der nun auch vorgelegten polnischen Gerichtsentscheidungen gegen A stehe fest, dass die Waren tatsächlich nach Polen verbracht worden seien. Diese nachträgliche Sachverhaltsänderung führe zu einer Berichtigungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Er verweise hierzu auf das Urteil des BFH vom 26.10.1988 (BStBl. II 1989, 75). Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 21.02.2008 C-271/06, HFR 2008, 408) stehe es der Mehrwertsteuerbefreiung einer Ausfuhrlieferung nicht entgegen, wenn der Nachweis mit gefälschten Belegen geführt worden, dies jedoch für den Liefernden nicht erkennbar gewesen sei. Er habe die fraglichen Lieferungen mit ordnungsgemäßen Ausfuhrunterlagen an die polnischen Transportunternehmer übergeben, jedoch von diesen bzw. von den hinter diesen stehenden B und A gefälschte Ausfuhrnachweise zurückerhalten. Er habe von diesen Fälschungen nachweislich keine Kenntnis gehabt und er habe diese auch nicht als Fälschungen erkennen können. Das Finanzamt sei daher zur Änderung der Steuerbescheide verpflichtet.

Auch die an die Firmen D und E gelieferten Waren seien für den Export nach Polen vorgesehen gewesen und durch die Vermittlung von B versandt worden. Er, der Kläger, habe auch diesbezüglich keine Kenntnis davon gehabt, dass die Lieferungen mit gefälschten Papieren begleitet worden seien. Auch insoweit seien die Umsätze als steuerfrei zu behandeln.

Das Finanzamt beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht es sich im Wesentlichen auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung. Ergänzend trägt es Folgendes vor:

Keiner der gegenüber dem Kläger ergangenen Umsatzsteuerbescheide enthalte Angaben zur Vorläufigkeit nach § 165 AO. Ziel der vom Kläger am 31.08.1999 und am 02.09.1999 eingelegten Einsprüche sei es ausdrücklich gewesen, die Steuerfestsetzungen wieder unter den Vorbehalt der Nachprüfung im Sinne von § 164 AO zu setzen. Den Einsprüchen sei für die Streitjahre 1996 und 1997 stattgegeben worden; damit seien diese Einspruchsverfahren erledigt gewesen. Wegen der in Bestandskraft erwachsenen Steuerfestsetzung für das Streitjahr 1995 sei der Antrag vom 02.09.1999, auch für dieses Jahr die Steuerfestsetzung wieder unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu setzen, mit Bescheid vom 06.09.1999 abgelehnt worden.

Erst im Jahre 2005 seien erneut Änderungsanträge des Klägers die Streitjahre betreffend eingegangen. Für alle Steuerbescheide sei aber mit Ablauf des 31.12.2003 die Festsetzungsfrist abgelaufen, so dass Änderungen nicht mehr möglich gewesen seien. Aus den Steuerakten seien weder Gesprächsnotizen über angeblich zu früherer Zeit geführte Telefonate noch Beweisangebote ersichtlich, die einen Änderungsantrag zum Gegenstand gehabt hätten.

Der staatsanwaltschaftliche Beschluss über die Einstellung des Strafverfahrens gegen den Kläger datiere aus 1998 und liege somit weit vor dem Ablauf der Festsetzungsfrist für die Streitjahre. Weder diesem Beschluss noch den vorgelegten Gerichtsentscheidungen komme die Bedeutung eines rückwirkenden Ereignisses im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu.

Der Kläger hat mit dem Schriftsatz vom 08.03.2007, das Finanzamt mit Schreiben vom 13.04.2007 dem schriftlichen Verfahren zugestimmt. Die Beteiligten haben sich daher übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 90 Abs. 2 FGO). Aufgrund des rechtlichen Hinweises des Berichterstatters vom 06.05.2008 ist keine veränderte prozessuale Lage entstanden, die eine mündliche Verhandlung erforderlich gemacht hätte. Die Rechtstandpunkte sind von den Beteiligten ausführlich dargelegt worden (vgl. Gräber/Koch, FGO-Kommentar, 6. Aufl. 2006, § 90 Rz. 17).

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat keinen Erfolg, weil eine Änderung der Steuerfestsetzungen nicht mehr zulässig ist. Die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis für die Streitjahre sind wegen Verjährung erloschen (§§ 47, 169 AO). Rückwirkende Ereignisse, die zu einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO berechtigen würden, liegen nicht vor.

1. Eine Änderung der Steuerfestsetzungen ist nicht mehr möglich, weil die Festsetzungsfristen abgelaufen waren, bevor die Änderungsanträge im Jahre 2005 gestellt wurden.

a) Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Festsetzungsfrist beträgt für Umsatzsteuern regelmäßig vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO); sie beginnt in den Fällen, in denen eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird (vgl. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO).

b) Auf den Streitfall bezogen ist festzustellen, dass der Kläger verpflichtet war, Umsatzsteuerjahreserklärungen abzugeben (vgl. § 18 Abs. 3 UStG). Die Steuererklärungen reichte er für 1995 am 08.07.1999, für 1996 am 22.07.1999 und für 1997 ebenfalls am 22.07.1999 ein. Damit begann für alle Streitjahre die vierjährige Festsetzungsfrist mit Ablauf des 31.12.1999 und endete mit Ablauf des 31.12.2003 (vgl. §§ 108 Abs. 1, 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO). Eine Wiedereinsetzung gemäß § 110 AO in die gesetzlich bestimmte Festsetzungsfrist kommt nicht in Betracht (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 19.08.1999 III R 57/98, BStBl. II 2000, 330; BFH-Beschluss vom 31.11.2007 VIII B 85/07, [...], jeweils mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Pahlke/Koenig/Pahlke, AO-Kommentar, § 110 Rz. 12, Tipke in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 110 AO Tz. 5), weil es sich dabei nicht um eine Handlungs- oder Erklärungsfrist, sondern um eine für das Verwaltungsverfahren verbindliche gesetzliche Frist handelt.

c) Soweit die Steuerfestsetzungen der Streitjahre 1996 und 1997 gemäß § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung standen, hinderte dies nicht den Ablauf der Festsetzungsfrist. Vielmehr entfiel für diese Jahre der Vorbehalt der Nachprüfung mit Ablauf des 31.12.2003 gemäß § 164 Abs. 4 Satz 1 AO. Eine vorläufige Steuerfestsetzung für die Streitjahre gemäß § 165 AO wurde weder vom Kläger beantragt, noch waren die streitbefangenen Umsatzsteuern vorläufig festgesetzt worden.

2. Umstände, die eine Ablaufhemmung gemäß § 171 AO bewirkt hätten, liegen nicht vor.

a) Einen Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzung im Sinne von § 171 Abs. 3 AO (vgl. Pahlke/Koenig/Cöster, a.a.O., § 171 Rz. 26) hat der Kläger vor Ablauf der Festsetzungsfrist am 31.12.2003 nicht gestellt. Ausweislich des Inhalts der Steuerakten und unter Berücksichtigung des Sachvortrages der vom Kläger beauftragten Bevollmächtigten in deren Schriftsätzen vom 27.01.2005, vom 26.04.2005, vom 10.05.2005 und vom 27.06 2005, liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger bereits vor dem 31.12.2003 konkrete Anträge auf Änderung der Steuerfestsetzungen gestellt oder Ausführungen dahingehend gemacht hatte, die als entsprechende Anträge auszulegen gewesen wären. Die Hinweise aus dem Schriftsatz vom 02.09.1999 in Bezug auf die Steuerfestsetzung für das Jahr 1995 deuteten zwar die laufenden Gerichtsverfahren in Polen an. Der in diesem Schreiben gestellte Antrag war aber ausdrücklich auf die Beibehaltung des Vorbehalts der Nachprüfung (§ 164 AO) gerichtet gewesen; eine andere Auslegung kommt wegen der Eindeutigkeit nicht in Betracht. Diesen Antrag lehnte das Finanzamt mit dem Bescheid vom 06.09.1999 ausdrücklich ab. Der Kläger hat den Antrag danach erkennbar nicht durch ein Einspruchs- oder Klageverfahren weiter verfolgt.

b) Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nicht durch die Einsprüche vom 31.08.1999 gemäß § 171 Abs. 3a AO gehemmt, die sich ausdrücklich als Einsprüche verstanden und sich nur gegen die Aufhebung der Nachprüfungsvorbehalte für die Steuerfestsetzungen der Jahre 1996 und 1997 richteten. Auch dieses Schreiben ist einer Auslegung wegen der Eindeutigkeit des Wortlauts nicht zugänglich. Den Einsprüchen kam das Finanzamt mit den Änderungsbescheiden vom 16.09.1999 nach, indem es jeweils den Vorbehalt der Nachprüfung wieder aufnahm. Gegen diese Bescheide ging der Kläger nicht weiter vor, sie wurden formell bestandskräftig, so dass diese Einsprüche erledigt waren und somit darüber unanfechtbar im Sinne von § 171 Abs. 3a AO im Jahre 1999 entschieden worden war (vgl. Pahlke/Koenig/Cöster, a.a.O., § 171 Rz. 38, 51).

c) Der Ablauf der Festsetzungsfrist war nicht gemäß § 171 Abs. 8 AO dadurch gehemmt, dass die Steuern für die Streitjahre vorläufig im Sinne von § 165 AO festgesetzt wurden. Der Sachvortrag des Klägers, es sei erkennbar eine vorläufige Steuerfestsetzung beantragt worden, findet in seinen eingereichten Erklärungen und in den eindeutigen Schriftsätzen seiner Bevollmächtigten keine Stütze. Es waren die Steuerfestsetzungen wegen der Schätzungen zunächst jeweils sachgerecht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 AO festgesetzt worden und die nachfolgenden Änderungsbescheide bzw. hierzu eingereichten Schriftsätze waren eindeutig stets nur auf eine Vorbehaltsfestsetzung gerichtet. Die Steuerfestsetzungen in den Änderungsbescheiden folgten ohne Abweichungen den vom Kläger angegebenen Besteuerungsgrundlagen, so dass keine Anhaltspunkte für eine Ungewissheit der Steuerentstehung in den Streitjahren im Sinne von § 165 Abs. 1 Satz 1 AO bestanden. Die vom Kläger angeführten offenen gerichtlichen Verfahren bezüglich der Ausfuhrlieferungen nach Polen hätten auch bei der Vorbehaltsveranlagung nach § 164 AO berücksichtigt werden können, wenn er sie rechtzeitig geltend gemacht hätte.

3. Die vom Kläger in seinen Anträgen im Jahre 2005 und im Klageverfahren vorgelegten staatsanwaltschaftlichen Verfügungen und gerichtlichen Entscheidungen stellen keine rückwirkenden Ereignisse im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar, sondern führen nur zu einer anderen rechtlichen Beurteilung eines unverändert verwirklichten Sachverhalts.

a) Gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis). Insoweit beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt (vgl. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO).

§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bestimmt allerdings nicht näher, unter welchen Voraussetzungen tatsächlicher oder rechtlicher Art das Tatbestandsmerkmal "rückwirkendes Ereignis" als erfüllt anzusehen ist. Die Vorschrift bedarf daher der Auslegung. Hierzu hat der Große Senat des BFH folgende Grundsätze aufgestellt (BFH-Beschluss vom 19.07.1993 GrS 2/92, BStBl. II 1993, 897):

Aus dem Bedeutungszusammenhang, in dem § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO steht, und aus seiner Zielsetzung ergibt sich zunächst, dass der Begriff "Ereignis" alle rechtlich bedeutsamen Vorgänge umfaßt. Dazu rechnen nicht nur solche mit ausschließlich rechtlichem Bezug, sondern auch tatsächliche Lebensvorgänge. Ferner verdeutlichen die sprachliche Bedeutung des Begriffs "eintritt" und der Bedeutungszusammenhang mit § 173 Abs. 1 AO, dass sich der Vorgang ereignen muss, nachdem der Steueranspruch entstanden ist und bei Änderung eines Steuerbescheids, nachdem dieser Steuerbescheid ergangen ist.

Die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO liegen nicht vor, wenn das FA -wie im Fall des § 173 Abs. 1 AO 1977- lediglich nachträglich Kenntnis von einem bereits gegebenen Sachverhalt erlangt (vgl. BFH-Urteile vom 21.04.1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863; vom 26.07.1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786), oder wenn das Finanzamt den Sachverhalt lediglich anders würdigt (BFH-Urteile vom 03.08.1988 I R 115/84, BFH/NV 1989, 482; vom 26.10.1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75). Es reicht nicht aus, dass das spätere Ereignis den nach dem Steuertatbestand rechtserheblichen Sachverhalt anders gestaltet. Die Änderung muss sich darüber hinaus -ungeachtet der zivilrechtlichen Wirkungen- steuerlich in die Vergangenheit auswirken, und zwar in der Weise, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist.

Die Vorschrift bildet, inhaltlich über die bisherigen Regelungen hinausgehend, die verfahrensrechtliche Generalnorm für die Änderung von Steuerbescheiden in den Fällen, in denen der für die Besteuerung maßgebende Sachverhalt sich im nachhinein mit steuerlicher Rückwirkung ändert (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 155). Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukommt, ob m.a.W. eine solche Änderung dazu führt, dass bereits eingetretene steuerliche Rechtsfolgen mit Wirkung für die Vergangenheit sich ändern oder vollständig entfallen, bestimmt sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht (vgl. dazu im einzelnen BTDrucks VI/1982, S. 114, S. 155 zu § 156 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung -EGAO 1977-; BMF-Schreiben vom 01.10.1976 IV A 7S 0015- 30/76, BStBl I 1976, 576, 612, zu § 175 AO 1977; vom 24.09.1987 IV A 5 -S 0062- 38/87, BStBl I 1987, 664, 701, zu § 175 AO 1977; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl. 1990, Anm. 3 zu § 175 AO 1977). Nach diesem ist zu beurteilen, ob zum einen eine Änderung des ursprünglich gegebenen Sachverhalts den Steuertatbestand überhaupt betrifft und ob darüber hinaus der bereits entstandene (vgl. § 38 AO 1977) materielle Steueranspruch mit steuerlicher Rückwirkung noch geändert werden oder entfallen kann. Liegen beide Voraussetzungen vor, dann bedarf es für die Änderung eines bereits bestandskräftigen Steuerbescheids des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 als verfahrensrechtlicher Grundlage (soweit der BFH-Beschluss vom 19.07.1993 GrS 2/92, a.a.O.).

b) Diese Grundsätze auf den Streitfall angewandt ergibt sich, dass aus den Rechtsentscheidungen der Staatsanwaltschaft und der Gerichte, die vom Kläger vorgelegt und benannt wurden, keine Änderung der den ursprünglichen Steuerbescheiden zugrundegelegten Sachverhalte folgte. Es hat sich hieraus lediglich eine andere rechtliche Beurteilung der die Steueransprüche begründenden Verhältnisse ergeben, die nicht die Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO eröffnet. Denn bereits in seinen ursprünglichen Umsatzsteuervoranmeldungen hatte der Kläger den Sachverhalt so dargestellt, wie er nach wie vor unverändert gegeben ist. Er hat nämlich steuerfreie Ausfuhrlieferungen nach Polen und steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen nach Monaco und Frankreich erklärt und macht diese unverändert auch jetzt im Klageverfahren geltend.

c) Allerdings haben die Feststellungen der Fahndungsprüfung und der Umsatzsteuersonderprüfung dazu geführt, dass die Steuerbefreiungen deswegen nicht anzuerkennen waren, weil der Kläger nicht die zum Beleg der Steuerbefreiungen erforderlichen Nachweise beigebracht hatte. Demzufolge hatte das Finanzamt die streitbefangenen Umsätze des Klägers in anderer Weise rechtlich beurteilt und als steuerpflichtig behandelt. Eine andere rechtliche Würdigung eines steuererheblichen Sachverhaltes fällt aber nicht unter den Begriff eines rückwirkenden Ereignisses (vgl. BFH-Urteil vom 26.10.1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75). Soweit die nun vorgelegten gerichtlichen Entscheidungen als Beweismittel zum Nachweis der Ausfuhrlieferungen angesehen werden könnten, kann darin kein rückwirkendes Ereignis gesehen werden, sondern sind nachträglich entstandene Beweismittel. Insoweit kommt aber auch eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO nicht in Betracht (vgl. vgl. Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO-Kommentar, § 173 AO Rz. 27). Denn einer darauf gestützten Änderung der Steuerfestsetzung - ggf. in entsprechender Anwendung - steht, wie oben ausgeführt, jedenfalls die Festsetzungsverjährung entgegen. Zusammenfassend folgt, dass eine Änderungsvorschrift für den hier gegebenen Sachverhalt nicht in Betracht kommt. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO kann schließlich nicht als Auffangvorschrift unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten verstanden werden (vgl. Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 175 AO Rz. 22).

d) Die Klage kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt Erfolg haben, dass nach der nun für vergleichbare Sachverhalte maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 21.02.2008 C-271/06, HFR 2008, 408), die streitbefangenen Umsätze als steuerfrei anzuerkennen wären. Denn eine Änderung der Rechtsauffassung und der Rechtsprechung fällt nicht unter den Begriff eines rückwirkenden Ereignisses und führt auch nicht dazu, dass der Ablauf der Festsetzungsfrist unmaßgeblich wäre (BFH-Urteil vom 23.11.2006 V R 28/05, UR 2007, 329).

e) Ob dem Kläger ein Anspruch auf Änderung der Steuerfestsetzungen im Billigkeitswege gemäß §§ 163, 227 AO zusteht (vgl. Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 163 AO Rz. 21), kann der Senat in diesem Klageverfahren nicht entscheiden. Die dem Streitverfahren zugrundeliegenden Verfahrensvorschriften §§ 173, 175 AO sind auf gebundene Entscheidungen gerichtet, wohingegen die Billigkeitsentscheidungen, wie sie etwa der BFH für Fälle der Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen des gutgläubigen Lieferanten vor Augen hat (vgl. BFH-Urteil vom 30.07.2008 V R 7/03, UR 2009, 161), im sachgerechten Ermessen der Finanzbehörde stehen (§ 5 AO), die das Finanzgericht nur im Rahmen des § 102 FGO überprüfen kann. Eine solche Ermessensentscheidung hat das Finanzamt jedoch bisher nicht getroffen.

Damit konnte die Klage unter keinem Gesichtspunkt erfolgreich sein.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Danach hat der Kläger als der unterliegende Beteiligte die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 143 Abs. 1 FGO).

Ende der Entscheidung

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