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Beginn der Entscheidung

Gericht: Finanzgericht Sachsen
Urteil verkündet am 20.11.2006
Aktenzeichen: 5 K 875/03 Kg
Rechtsgebiete: SGB VIII, EStG, BGB, FGO


Vorschriften:

SGB VIII § 34
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 74 Abs. 1
BGB § 1612 Abs. 1
FGO § 102
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Sachsen

5 K 875/03 Kg

Familienleistungsausgleich

In dem Finanzrechtsstreit

hat der 5. Senat

durch

den Berichterstatter gem. § 79a Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 Finanzgerichtsordnung (FGO)

ohne mündliche Verhandlung

am 20.11.2006

für Recht erkannt:

Tenor:

Die in dem Bescheid der Beklagten vom 27.8.2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.3.2003 erfolgte Abzweigung des Kindergeldes in Höhe von monatlich 154 EUR an das Landratsamt M wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung in dieser Höhe Sicherheit leistet.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten um die Abzweigung des Kindergeldes an das Jugendamt des Landratsamts M (Beigeladener).

Die Klägerin ist die Mutter des F , geb. 8.5.1991, der sich krankheitsbedingt ab August 2002 in dem Internat Schloss G bei E befand, wo er zur Schule ging und ganztags betreut wurde. Nach dem übersandten Prospekt versteht sich das Internat als Ergänzung und nicht als Ersatz für das Familienleben, so dass eine Heimfahrt zu den Eltern an jedem zweiten Wochenende Pflicht ist. Das beigeladene Landratsamt leistete vom 31.7.2002 bis zum 8.6.2005 Hilfe zur Erziehung gemäß § 34 Sozialgesetzbuch ( SGB) VIII in Form der Unterbringung in einer betreuten Wohnform (Internat Schloss G ). Die Klägerin leistete keinen Kostenbeitrag an das Jugendamt. Dieses beantragte gemäß § 74 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) die Auszahlung des anteiligen Kindergeldes. Die Familienkasse des Arbeitsamts - jetzt: Agentur für Arbeit - O (Beklagte) setzte mit Bescheid vom 27.8.2002 ab August 2002 für F Kindergeld in Höhe von 154 EUR fest und zweigte diesen Betrag in voller Höhe an das Jugendamt M mit der Begründung ab, die Aufwendungen des Landratsamts für das Kind würden überwiegen; die Abzweigung sei in dieser Höhe angemessen, weil das Kindergeld insoweit für den Kindesunterhalt bestimmt sei. Gegen diese Abzweigung legte die Klägerin mit der Begründung Einspruch ein, das Kindergeld solle aufgeteilt werden, da sie ebenfalls Unterhalt leiste. Das Kind halte sich nicht nur im Internat, sondern bis 20.8.2003 mindestens 170 Tage bei ihr auf und werde von ihr versorgt. Sämtliche Kosten der häuslichen Betreuung würden das Kindergeld überschreiten. Am 12.3.2003 wies die Familienkasse den Einspruch zurück, weil die Klägerin ihre gesetzliche Unterhaltspflicht lediglich mit einem Betrag erfülle, der geringer als das monatliche Kindergeld sei.

Mit der hiergegen erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, eine Abzweigung hätte nicht erfolgen dürfen, da der unterhaltsrechtliche Aufwand für F allein durch die Klägerin nicht getragen werden könne. Der Sohn halte sich zwar die Hälfte der Zeit im Internat auf, sie habe ihn aber für das gesamte Jahr vollständig einzukleiden, für 170 Tage zu verköstigen und den von ihm genutzten Wohnraum bereitzuhalten. Ihre Ehe mit dem Kindsvater befinde sich seit 1999 im Scheidungsprozess. Die anteiligen Kosten für F eigengenutzten Wohnraum würden sich auf monatlich 260,85 EUR belaufen. Hinzu kämen noch 100 EUR im Monat für Verpflegung und Hygiene für 170 Tage und insbesondere Anschaffungen für den Aufenthalt im Internat. Das monatliche Kleidungsgeld von 46 EUR reiche nicht aus, so dass von einem weiteren Aufwand von ca. 25 EUR ausgegangen werde. Ihre monatlichen Kosten für F würden demnach 385 EUR betragen. Die Klägerin sei arbeitslos und erhalte lediglich Unterhaltsgeld im Rahmen einer Umschulung in Höhe von monatlich 839,93 EUR. Allein ihre Kreditbelastungen und sonstige Wohnkosten würden monatlich 1.237,72 EUR betragen. Die Klägerin könne keinen Kostenbeitrag an das Landratsamt M zahlen. Dies alles hätte bei der Abzweigung des Kindergeldes im Rahmen der Ermessensausübung berücksichtigt werden müssen. Der Unterhalt nach § 1612 Abs. 1 und 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) könne nicht nur durch die Entrichtung einer Geldrente, sondern auch durch Betreuung abgedeckt werden. Im Rahmen der Trennung der Eheleute wäre bestimmt worden, dass die Klägerin den Unterhalt im Wege der Betreuung und ihr Ehemann den Unterhalt durch Entrichtung einer Geldrente gewähren. Es handele sich bei dem Schulinternat nicht um eine Heimerziehung. F müsse diese Schule wegen seines Krankheitsbildes, sog. ADHS-Syndrom, aufsuchen. Die heimatliche Schule habe eine weitere Beschulung abgelehnt. F habe sich von August 2002 bis zum Abschluss der Sommerferien 2003 an insgesamt 176 Tagen im Haushalt der Klägerin aufgehalten. Eine entsprechende nach Datum und Dauer gegliederte Aufstellung wurde zur Gerichtsakte übergeben.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Arbeitsamts O vom 27.8.2002 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.3.2003 insoweit aufzuheben, als das festgesetzte Kindergeld an das Landratsamt M ausgekehrt wird.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Ermessen sei dahingehend auszuüben gewesen, dass Kindergeld abgezweigt werden könne. Die Klägerin habe zwar Aufwendungen für ihren Sohn, der Kostenaufwand des Trägers der Jugendhilfe sei jedoch höher. Lediglich in den Zeiträumen, in denen der Sohn der Klägerin zusätzlich zu den Wochenenden in den Ferien von der Klägerin betreut werde, ergebe sich ein anteiliger Kindergeldanspruch der Klägerin. Der Internatsaufenthalt von F und der Zeitraum von ca. 170 Tagen, in dem sich der Sohn bei der Mutter aufgehalten hat, würden nicht bestritten.

Der Senat hat mit Beschluss vom 18.7.2006 das Landratsamt M in G gemäß § 60 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Verfahren beigeladen.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung und durch den Berichterstatter nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO erteilt.

II. Die zulässige Klage ist begründet. Die erfolgte Abzweigung war rechtswidrig.

Die Klägerin ist Anspruchsberechtigte im Sinne des § 62 Abs. 1 EStG. Die Voraussetzung für eine Abzweigung des Kindergeldes an das Jugendamt ergeben sich aus § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG. Danach kann Kindergeld in angemessener Höhe an ein Kind des Kindergeldberechtigten bzw. wie im Streitfall an die Stelle, die dem Kind Unterhalt gewährt, ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte dem Kind gegenüber seinen gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkommt bzw. keinen Unterhalt leistet (vgl. BFH-Urteil vom 17. Februar 2004 VIII R 58/03, BStBl II 2006, 130). Dies gilt auch dann, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.

Die Klägerin hat ihre Unterhaltsverpflichtung als Mutter des Kindes F durch Haushaltsaufnahme und Betreuung im Sinne der §§ 1601, 1606 Abs. 3 und 1610 BGB erfüllt. Nach den unbestrittenen Angaben der Klägerin im Einspruchs- und Klageverfahren betragen die Kosten dafür mehr als das monatliche Kindergeld ( § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG). Demzufolge liegen die Voraussetzungen für eine Abzweigung nicht vor. Der Gesetzgeber hat bei der - hier allerdings nicht streitigen - Frage der Ermittlung der Vorrangstellung eines Kindergeldberechtigten nach § 64 Abs. 2 EStG der Haushaltsaufnahme ein ausschlaggebendes Gewicht beigemessen und Barunterhaltsleistungen eines anderen Berechtigten unberücksichtigt gelassen. Dies beruht auf der typisierenden Annahme, dass in erster Linie derjenige Kindergeldberechtigte die größeren Lasten trägt, der das Kind in seinem Haushalt versorgt und betreut. Nach der Rechtsprechung des BFH trägt der Kindergeldberechtigte bei einer Heimunterbringung des Kindes die größeren Lasten aber nur dann, wenn die Betreuung in der Wohnung einen auch zeitlich bedeutsamen Umfang erreicht (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 2003 VIII R 91/98, BFH/NV 2004, 324). Der BFH vertritt die Auffassung, dass die Betreuung des Kindes in dem Haushalt des Berechtigten dann keinen zeitlich bedeutsamen Umfang hat, wenn der Aufenthalt des Kindes erkennbar nicht über Besuche bei den Eltern in den Ferien oder im Urlaub hinausgeht. Der BFH hat drei Monate pro Jahr für einen Zeitraum gehalten, der einen gewöhnlichen Ferienaufenthalt überschreitet (BFH-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 224/98, BStBl II 2001, 713). Im Streitfall hat F von August 2002 bis August 2003 176 Tage bzw. Nächte im Haushalt der Klägerin zugebracht, also weit mehr als einen bloßen Jahresurlaub. Dabei ist unschädlich, dass F sich außer in den Ferien ansonsten nur tageweise an Wochenenden und Feiertagen bei der Klägerin aufgehalten hat. Denn auch Kinder, die sich auswärts in Berufsausbildung befinden, gehören zum Haushalt der Eltern, wenn sie am Ausbildungsort - wie hier das Kind F im Internat - keinen eigenen unabhängigen Haushalt führen, sondern regelmäßig an Wochenenden und in den Ferien in die elterliche Wohnung zurückkehren, wo ihnen weiterhin ein Zimmer zur Verfügung steht (vgl. BFH-Urteil vom 23. April 2002 IX R 52/99, BStBl II 2003, 234).

Die zu § 64 EStG dargestellte Rechtsprechung kann auch zu der hier streitigen Frage herangezogen werden, ob der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 74 Abs. 1 EStG nachkommt. Die Klägerin betreute ihren Sohn in der genannten Zeit, sie versorgte und erzog ihn. Außerdem hat sie monatliche Kosten für F Wohnraum, Verpflegung, Hygiene und Kleidung aufgewendet, die sie unbestritten mit 385 EUR angab. Dies alles ist als Unterhaltsleistung der Klägerin anzusehen, so dass eine Abzweigung des Kindergeldes an das Jugendamt keine Rechtsgrundlage hat.

Es kann dahinstehen, ob der Familienkasse darin zu folgen wäre, dass der Kostenaufwand des Trägers der Jugendhilfe höher sei als die von der Klägerin getragenen Unterhaltskosten. Denn auch in diesem Fall müsste die Abzweigung aufgehoben werden, weil die Familienkasse das ihr bei der Anwendung des § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt hat, § 102 FGO. Denn sie ist offensichtlich davon ausgegangen, dass eine Ermessensreduzierung auf Null dahingehend eingetreten ist, dass allein die Abzweigung des gesamten Kindergeldbetrages an den Beigeladenen ermessensfehlerfrei ist. Nach § 5 Abgabenordnung 1977 ( AO) hat die Finanzbehörde das ihr eingeräumte Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Der erkennbare Zweck des § 74 Abs. 1 EStG liegt darin, dass dann, wenn der Kindergeldberechtigte keine Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes trägt, das Kindergeld nicht ihm, sondern entweder dem Kind oder aber demjenigen zugute kommen soll, der dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt. So liegt der Fall hier aber nicht, wie oben dargestellt. Die Familienkasse räumt selbst ein, dass die Klägerin Unterhalt geleistet hat, und hätte deswegen bei fehlerfreier Ermessensausübung spätestens in der Einspruchsentscheidung Überlegungen anstellen müssen, in welchem Verhältnis das Kindergeld zwischen der Klägerin und dem Beigeladenen aufzuteilen wäre.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind nach § 139 Abs. 4 FGO nicht erstattungsfähig. Diese Kosten der unterlegenen Beklagten aufzuerlegen, hätte nur dann der Billigkeit entsprochen, wenn der Beigeladene mit einem eigenen Antrag auch ein Kostenrisiko eingegangen wäre, § 135 Abs. 3 FGO (vgl. auch Gräber/Stapperfend, Kommentar zur FGO vor § 139 Rz 135, 136)

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 3 und Abs. 1 FGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 und § 711 Satz 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

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