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Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 27.04.2004
Aktenzeichen: 2 Bs 108/04
Rechtsgebiete: BauNVO 1990


Vorschriften:

BauNVO 1990 § 3 Abs. 2
BauNVO 1990 § 3 Abs. 4
Ein Altenheim mit einer vollstationären Dementenabteilung, deren Appartements nach dem zugrundeliegenden Nutzungskonzept und ihrer Ausstattung auch dort noch ein Mindestmaß an eigenständiger Gestaltung und Sicherung des durch die Wohnung geprägten Lebensbereiches und des häuslichen Lebens ermöglichen und dessen Bewohner jeweils für ein bestimmtes Appartement Nutzungsverträge abschließen, die ohne ihre Zustimmung nicht abgeändert werden können, ist ein Wohngebäude, das ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege seiner Bewohner dient und deshalb nach § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 in einem reinen Wohngebiet zulässig ist.
2 Bs 108/04

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 2. Senat, durch die Richter K. Schulz, Dr. Ungerbieler und Probst am 27. April 2004 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 24. Februar 2004 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerinnen hat keinen Erfolg.

Aufgrund der mit der Beschwerde gemäß § 146 Abs. 4 VwGO dargelegten Gründe besteht keine Veranlassung, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über deren Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung abzuändern. Diese Ausführungen geben keinen Anlass, im Rahmen der nach §§ 80 a Abs. 3, 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Abwägung zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Antragstellerinnen an einer vorläufigen Einstellung der Errichtung des Bauvorhabens (Neubau eines "Altenwohnheims mit vollstationärer Dementenstation") und den gemäß § 212 a BauGB grundsätzlich mit Vorrang versehenen Interessen der Beigeladenen an einer Ausnutzung der Baugenehmigung dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen den Vorrang zu geben. Die mit der Beschwerde erhobenen Rügen lassen nicht erkennen, dass ihr Widerspruch gegen die Baugenehmigung Erfolg haben wird.

1. Soweit die Antragstellerinnen geltend machen, das genehmigte Vorhaben widerspreche den Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung im maßgeblichen Bebauungsplan Nienstedten 17/Osdorf 42 vom 23. März 1993, der für das betroffene Grundstück eine Nutzung als reines Wohngebiet festsetzt, wird dies nicht zu einer Aufhebung der der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung führen. Zwar vermitteln die Festsetzungen eines Bebauungsplanes über die Art der baulichen Nutzung den jeweiligen Grundstückseigentümern eines Baugebiets kraft ihres Gebietserhaltungsanspruchs einen subjektiven Abwehranspruch gegenüber solchen Bauvorhaben, die den Planfestsetzungen zur zulässigen Art der baulichen Nutzung widersprechen (vgl. z.B. BVerwG, Urt. v. 16.9.1993, BVerwGE Bd. 94, S. 151, 155 ff.). Das Verwaltungsgericht hat jedoch zu Recht festgestellt, dass das genehmigte Vorhaben eines Altenheims mit einer Dementenstation ein Wohngebäude im Sinne des § 3 Abs. 2 und 4 BauNVO 1990 ist und damit dem im Bebauungsplan festgesetzten reinen Wohngebiet entspricht: Nach § 3 Abs. 4 BauNVO 1990 gehörten zu den in einem reinen Wohngebiet zulässigen Gebäuden auch solche, die ganz oder teilweise der Betreuung und Pflege ihrer Bewohner dienen. Das streitige Vorhaben sei daher insgesamt - auch hinsichtlich der vorgesehenen Ausstattung mit einer vollstationären Dementenstation für 28 Bewohner der Betreuungseinrichtung - als Wohngebäude im Sinne des § 3 Abs. 2 BauNVO einzustufen. Nach dem genehmigten Betriebskonzept würden die in dem geplanten Altenheim untergebrachten Personen trotz der bei einem Teil von ihnen zu erwartenden besonders intensiven Pflegebedürftigkeit, insbesondere bei den Demenzerkrankten, dort wohnen und nicht nach Art eines Krankenhauses untergebracht sein.

Diese Erwägungen werden durch die Beschwerdebegründung nicht in Frage gestellt. Die sich aus dem Nutzungskonzept der Beigeladenen wie auch der genehmigten baulichen Gestaltung des Inneren des Gebäudes ergebende Aufenthaltssituation der künftigen Bewohner des Bauvorhabens stellt eine im reinen Wohngebiet nach § 3 Abs. 2 und 4 BauNVO grundsätzlich zulässige Form des Wohnens dar. Der Begriff des "Wohnens" umfasst unter Berücksichtigung des im Jahre 1990 geänderten Abs. 4 des § 3 BauNVO auch den dauerhaften Aufenthalt altersverwirrter Menschen in Betreuungseinrichtungen, in denen neben der häuslichen Unterbringung auch ein dem persönlichen Bedarf entsprechendes intensives Pflege- und Betreuungsangebot vorhanden ist, selbst wenn in solchen Fällen die Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises gegenüber der Betreuung und Pflege der Bewohner eher in den Hintergrund tritt (vgl. Bielenberg in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Band 5, Stand: Oktober 2003, § 3 BauNVO, Rdnr. 2, 10; Ziegler in Brügelmann, BauGB, Kommentar, Band 6, Stand: Oktober 2003, § 3 BauNVO, Rdnr. 16; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.8.2002, ZfBR 2003, S. 281 [Leitsatz]; Beschl. v. 27.7.1994, ZfBR 1995, S. 107). Maßgeblich ist, dass die in dem Heim befindlichen Personen - mögen sie auch intensiv betreut werden - dort nicht ohne eigene Mitwirkung durch behördliche oder ärztliche Anordnungen eingewiesen werden, nach dem Nutzungskonzept noch ein Mindestmaß an eigenständiger Gestaltung und Sicherung des durch die Wohnung geprägten Lebensbereichs und des häuslichen Lebens vorhanden ist und dieser Lebensbereich zumindest in einem engen räumlichen Umfeld, das auch in einem einzelnen Zimmer bestehen kann, der umfassenden Verfügungsgewalt Dritter, insbesondere der jederzeitigen Möglichkeit einer drittbestimmten Umquartierung innerhalb des Gebäudes oder einer Ausquartierung aus dem Gebäude, entzogen ist (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 20.2.1998, OVG Bs II 46/97 - in VERIS - , Beschl. v. 18.4.2002, 2 Bf 96/00 und 114/00; Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 6. Auflage 2001, Rdnr. 1448 f.; Bielenberg, a.a.O. § 3 BauNVO, Rdnr. 9). Ein Wohnen in diesem Sinne liegt nach der Baubeschreibung der Beigeladenen hinsichtlich aller Heimbewohner vor. Denn danach schließen alle zukünftigen Heimbewohner einschließlich jener, die unmittelbar in die Dementenstation aufgenommen werden, entweder selbst oder unter Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters Verträge über die längerfristige Anmietung eines bestimmten Appartements mit dem Heimträger ab, die ohne Zustimmung des Bewohners bzw. des gesetzlichen Vertreters nicht mehr abgeändert werden können. Die Appartements sind durchgängig mit Badezimmer und eigener Küchenzeile ausgestattet und ermöglichen prinzipiell eine autarke Lebensführung wie im eigenen Haushalt. Anderen Heimbewohnern und dem Pflegepersonal gegenüber kann der Zugang zu der privaten Wohnung grundsätzlich verwehrt werden. Die Bewohner haben die Möglichkeit, die Appartements mit eigenen Möbeln auszustatten und nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Zusätzlich zu dem im Vordergrund stehenden Mietverhältnis über den Wohnraum können die Bewohner Verträge über bestimmte Betreuungs- und Pflegedienste abschließen, deren Intensität insbesondere hinsichtlich der Pflegeleistungen je nach dem persönlichen Bedarf angepasst werden kann. Diese Pflegeleistung rückt dabei hinsichtlich der zukünftigen Bewohner der Dementenstation gegenüber der eigenständig gestalteten häuslichen Lebensführung zwar in den Vordergrund. Dies schließt aber ein - reduziertes - Wohnen in der durch die erforderlichen Pflegemaßnahmen geprägten Umgebung begrifflich nicht aus (vgl. Ziegler, a.a.O., § 3 BauNVO, Rdnr. 16). Der Anwendungsbereich des § 3 Abs. 2 und 4 BauNVO findet erst dort seine Grenze, wo aufgrund des im Vordergrund stehenden Klinikcharakters der Einrichtung von einem "Wohnen" nicht mehr gesprochen werden kann (Bielenberg, a.a.O. § 3 BauNVO, Rdnr. 8; Reidt, a.a.O. Rdnr. 1455). Dieser Zustand einer krankenhausähnlichen Unterbringung ist (erst) erreicht, wenn die Pflegeeinrichtung auf die medizinische Erkennung und auf die Rehabilitierung zielende Behandlung von Patienten unter dauerhafter ärztlicher Leitung ausgerichtet ist (so auch OVG Lüneburg, Urt. v. 21.8.2002, a.a.O.; OVG Hamburg, Beschl. v. 20.2.1998, OVG Bs II 46/97). Solches ist vorliegend nicht erkennbar. Ungeachtet der Tatsache, dass die Beigeladene angibt, die Betreuung der demenzerkrankten Bewohner unter modernsten geronto-psychiatrischen Ansätzen und einer speziell an diesem Krankheitsbild ausgerichteten Umgebung vorzunehmen, findet eine medizinische Behandlung durch ständig anwesendes medizinisches Personal gerade nicht statt. Vielmehr wird die medizinische Versorgung durch niedergelassene Ärzte bzw. die Hausärzte der Bewohner aufgrund gesonderter Behandlungsverträge mit diesen oder bei Bedarf durch die Einweisung in Kliniken sichergestellt und hat die Einrichtung keine medizinische Leitung oder Aufsicht. Auch fehlt es dem Bauvorhaben der Beigeladenen an den für Krankenhäuser kennzeichnenden Behandlungs- und Ordinationsräumen.

Hinsichtlich der Dementenstation teilt das Beschwerdegericht nicht die in der Literatur insbesondere von Fickert/Fieseler vertretende Ansicht, wonach "echte Pflegeheime", die der Aufnahme unter anderem von Personen mit hochgradigem Verwirrtheitszustand oder Alzheimerscher Krankheit dienen, von vornherein als Langzeitkrankenhäuser anzusehen seien und daher grundsätzlich nicht mehr als Wohngebäude eingestuft werden könnten (Fickert/Fieseler, Baunutzungsverordnung, 10. Auflage 2002, § 3, Rdnr. 11.7 und 20.2). Diese Auffassung ist vor dem Hintergrund der im Jahre 1990 vorgenommenen Änderung des § 3 Abs. 4 BauNVO mit dem Willen des Verordnungsgebers nicht vereinbar. Mit der Änderung des § 3 Abs. 4 BauNVO reagierte der Verordnungsgeber der BauNVO auf die nahezu einhellig anerkannte Rechtsprechung, die Altenpflegeheime städtebaulich nicht als Wohngebäude eingestuft hatte (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 17.5.1989, ESVGH Bd. 39, 241, 243; Nachweise bei Ziegler a.a.O., § 3 BauNVO, Rdnr. 15 und Bielenberg, a.a.O. § 3 BauNVO, Rdnr. 10 ). Hiermit wollte er klarstellen, dass zum Wohnen auch das Wohnen mit Betreuung und Pflege gehört (BR-Drucks. 354/89 - Beschluss -, zu Art. 1. Nr. 3 c, zitiert nach Bielenberg, a.a.O., § 3 BauNVO, Rdnr. 2). Dies gilt auch dann, wenn der Betreuungs- und Pflegezweck gegenüber dem Wohnaspekt überwiegt, solange nur die für das Wohnen konstituierenden Merkmale - zumindest im Mindestmaß - noch erfüllt sind (vgl. insofern auch BVerwG, Beschl. v. 25.3.1996, Buchholz 406.12 § 3 BauNVO Nr. 12; OVG Lüneburg, Beschl. v. 27.7.1994, ZfBR 1995, S. 107).

2. Auch soweit das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, die Antragstellerinnen könnten ein Abwehrrecht gegen die angefochtene Baugenehmigung nicht aufgrund der erteilten Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von im Bebauungsplan getroffenen Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung herleiten, rechtfertigt die Beschwerdebegründung keine andere Beurteilung. Die Regelungen der BauNVO zum Maß der baulichen Nutzung haben nicht kraft Bundesrechts nachbarschützende Funktion (vgl. z.B. BVerwG, Urt. v. 23.6.1995, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 128); ob der jeweilige Planungsträger entsprechende Festsetzungen eines konkreten Bebauungsplanes über das Maß der baulichen Nutzung auch zum Schutz der Nachbarn getroffen hat und diese deshalb drittschützend sind, hängt vom Willen des jeweiligen Planungsträgers ab und muss sich aus den Festsetzungen selbst, der Begründung des Planes oder aus einer sonstigen vom Plangeber ausgehenden Willensäußerung ergeben (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.10.1995, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 131). Dass, wie von den Antragstellerinnen mit der Beschwerde geltend gemacht wird, die Festsetzung einer zweigeschossigen Bauweise auf dem Grundstück der Beigeladenen zum Schutz der Nachbarn erfolgt ist, lässt sich weder dem Bebauungsplan und seiner Begründung noch dem im Beschwerdeverfahren vorgelegten Schlussbescheid der Antragsgegnerin über die Behandlung von Einwendungen der Antragstellerinnen im Planaufstellungsverfahren (Bescheid vom 25.5.1993, Az.: BA2/61.36-2/NST 17/OSDF 42) entnehmen. In letzterem wird nur hinsichtlich des auf dem Flurstück A vorgesehenen zweigeschossigen Einzelbaukörpers eine Beziehung zum südlich davon gelegenen Flurstück B der Antragstellerinnen hergestellt und zwar (nur) hinsichtlich seines Abstands zu diesem Grundstück und der Erhaltung einer freien Blickrichtung. Bezüglich der zweigeschossigen Bebauung auf dem Flurstück A wird auf die Dimensionierung der gegenüberliegenden Villenbebauung auf der Ostseite der B.-Straße verwiesen. Gegenüber der Lage des im Bebauungsplan vorgesehenen Einzelbaukörpers lässt das Vorhaben der Beigeladenen keine nachteiligen Wirkungen erkennen, da die Bebauung in diesem Bereich plangemäß zweigeschossig ausgeführt werden soll und gegenüber der Baugrenze des Bebauungsplanes um einige Meter zurücktritt. Bezüglich der dreigeschossiges Gestaltung des parallel zur S-Bahn verlaufenden Baukörpers, der mindestens ca. 40 Meter von der Grenze des Grundstücks der Antragstellerinnen entfernt errichtet wird, lassen sich nachbarschützende Erwägungen des Plangebers hieraus und aus allen weiteren Erwägungen des Plangebers nicht erkennen.

3. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ferner ausgeführt, dass auch den Festsetzungen des Bebauungsplanes und den entsprechenden Begründungen des Plangebers hinsichtlich des Verlaufs des öffentlichen Gehweges auf dem Grundstück der Beigeladenen und der Platzierung der Garagenzufahrt keinerlei Anhaltspunkte für eine nachbarschützende Wirkung zu entnehmen sind. Die Begründung der Festsetzung lässt eine ausschließlich verkehrsgestaltende Motivation für die entsprechende Festsetzung zu erkennen. Die Ausführungen der Beschwerde geben keinen Anlass für eine andere Einschätzung. Etwaigen Belästigungen der Antragstellerinnen durch den Fußgängerverkehr auf dem Gehweg, der nunmehr dicht an der südlichen Grundstücksgrenze vorgesehen ist, wird durch die vorgesehene Begrünung entlang dieser Grenze Rechnung getragen.

4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 20 Abs. 3 GKG.

Ende der Entscheidung

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