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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 17.06.2008
Aktenzeichen: 4 Bs 76/08
Rechtsgebiete: AufenthG, BGB


Vorschriften:

AufenthG § 60 a Abs. 2 Satz 1
BGB § 1685 Abs. 2
Bei der Frage, ob die Abschiebung in unverhältnismäßiger Weise in die allgemeine Handlungsfreiheit des Ausländers eingreift, ist auch ein Umgangsrecht, das dem Ausländer gemäß § 1685 Abs. 2 BGB im Interesse des Kindes zusteht, zu berücksichtigen (in Abgrenzung zu VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006, AuAS 2007, 38).
Hamburgisches Oberverwaltungsgericht Beschluss

4 Bs 76/08

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Hamburgische Oberverwaltungsgericht, 4. Senat, durch den Richter Pradel, die Richterin Huusmann und den Richter Graf von Schlieffen am 17. Juni 2008 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 21. April 2008 geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 15. April 2008 auszusetzen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und begehrt Abschiebungsschutz.

Der 1968 geborene Antragsteller reiste 1983 im Wege der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland ein und erhielt 1985 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Ab 1989 wurde er u.a. wegen wiederholter Körperverletzungsdelikte und wegen Handelns mit Betäubungsmitteln verurteilt. Mit Bescheid vom 26. Mai 1994 wurde er ausgewiesen; der Bescheid ist bestandskräftig geworden. Von August 1992 bis August 1996 befand er sich in Haft, zuletzt als Freigänger. Am 16. August 1995 wurde sein Sohn A. geboren. Nach der Entlassung aus der Strafhaft lebte der Antragsteller bis zu seiner Flucht in die Niederlande im April 1998 mit der Mutter des Kindes, einer serbischen Staatsangehörigen, und dem Kind zusammen. Nach seiner Festnahme im Januar 1999 wurde er mit Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. April 1999 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Am 2. August 2000 wurde er aus der Haft heraus in die Türkei abgeschoben.

Einen Antrag auf Befristung der Wirkungen von Ausreise und Abschiebung lehnte die Antragsgegnerin ab. Das sich hieran anschließende Klageverfahren wurde am 29. November 2004 durch Vergleich beendet. Die Wirkungen wurden auf 12 Jahre ab der Ausreise befristet u.a. unter dem Vorbehalt, dass keine weiteren gravierenden Straftaten oder ausländerrechtlichen Verstöße bekannt würden.

Im November 2004 wurde die Mutter des Sohnes des Antragstellers nach Serbien abgeschoben. Sein Sohn wurde von den Eltern des Antragstellers, bei denen er auch schon zuvor gelebt hatte, adoptiert.

Im August 2005 reiste der Antragsteller nach vorheriger Ankündigung gegenüber der Antragsgegnerin wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein, um bei seinem Sohn zu leben. Er stellte sich den Grenzschutzbehörden und wurde sogleich festgenommen. Er verbüßte anschließend bis zum 21. April 2008 seine restlichen Freiheitsstrafen. Während der Strafhaft wurde er in die Sozialtherapeutische Abteilung aufgenommen und absolvierte dort vom Dezember 2005 an bis Dezember 2007 durchgängig verschiedene Maßnahmen. Mit Schreiben vom 15. April 2008 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin, die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung zu befristen und ihm eine Aufenthaltserlaubnis sowie bis dahin eine Duldung zu erteilen.

Der Antragsteller hat daneben beim Verwaltungsgericht einstweiligen Rechtsschutz gegen die von der Antragsgegnerin geplante Abschiebung begehrt. Diesen Antrag hat er mit der bestehenden, dem Schutz des Art. 6 GG unterfallenden familiären Lebensgemeinschaft begründet. Den Antrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. April 2008 abgelehnt. Zur Begründung für das Fehlen eines Abschiebungshindernisses hat es entscheidend darauf abgestellt, dass der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht habe, dass zwischen ihm und seinem Sohn tatsächlich eine Eltern-Kind-Gemeinschaft bestehe. Er habe seinen Sohn bis zu dessen zehnten Lebensjahr kaum gesehen, da er zumeist in der Türkei gelebt habe, und die Großeltern seines Sohnes, die ihn 2004 adoptiert hätten, dürften die Elternrolle eingenommen haben. Der Beschluss ist dem Antragsteller am 21. April 2008 zugestellt worden.

Mit seiner am 21. April 2008 erhobenen und zuletzt am 21. Mai 2008 begründeten Beschwerde trägt der Antragsteller unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen seines Bruders und seiner Mutter vor, es habe stets eine enge Vater-Sohn-Beziehung bestanden. Diese sei schutzwürdig und stehe einer Abschiebung entgegen, auch wenn infolge der Adoption das Verwandtschaftsverhältnis zu seinem Sohn erloschen sei. Die Abschiebung hätte schwerwiegende Nachteile für seinen Sohn und für ihn zur Folge.

II.

1. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg.

Der Antrag des Antragstellers ist dahingehend zu verstehen, dass keine bis zum rechtskräftigen Abschluss eines etwaigen Klageverfahrens wegen seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wirkende oder gar eine zeitlich unbegrenzt wirkende einstweilige Anordnung begehrt wird. Vielmehr geht es dem Antragsteller allein darum, vorerst nicht abgeschoben zu werden. Die Begründung, sein Aufenthalt sei zu dulden, da es zumindest offen sei, ob ihm eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen sei, lässt erkennen, dass es ihm allein um die Duldung bis zu dieser behördlichen Entscheidung geht. Für einen länger wirkenden einstweiligen Rechtsschutz wäre nach der Rechtsprechung des Senats überdies regelmäßig auch kein Raum (vgl. zuletzt Beschl. v. 27. Mai 2008, 4 Bs 42/08).

Das so verstandene Begehren des Antragstellers ist begründet. Aus den mit der Beschwerde dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) kann die Entscheidung des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben. Vielmehr ist die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen. Der Anordungsgrund ist wegen der unmittelbar bevorstehenden und von der Antragsgegnerin nur mit Rücksicht auf dieses Beschwerdeverfahren zurückgestellten Abschiebung unbestritten. Der Antragsteller hat aber auch glaubhaft gemacht, dass ihm der erforderliche Anordnungsanspruch zusteht.

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit ein rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegt. Es kann jedenfalls im vorliegenden Verfahren dahingestellt bleiben, ob es sich trotz der erfolgten Adoption des Kindes gleichwohl noch aus Art. 6 GG ergeben kann. Der Antragsteller ist zwar der leibliche Vater des Kindes, trägt jedoch keine Elternverantwortung mehr. Bereits mit der Zustimmungserklärung zur Adoption ruht die elterliche Sorge und erlischt das Umgangsrecht (§ 1751 Abs. 1 BGB). Durch die Adoption erlangt das Kind die Stellung eines leiblichen Kindes des oder der Annehmenden; die verwandtschaftlichen Beziehungen des Kindes zur Ursprungsfamilie erlöschen (§ 1755 Abs. 1 BGB). Daneben kann der Antragsteller nicht mehr Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sein. Denn Inhaber dieses Rechts ist, wer zugleich die Elternverantwortung trägt, unabhängig davon, ob sich die Elternschaft auf Abstammung oder auf Rechtszuweisung gründet (BVerfG, Beschl. v. 20.9.2006, FamRZ, 1661). Daneben kann es keine weiteren Träger des Elternrechts geben, da dies für ein Kind nur eine Mutter und ein Vater sein können (BVerfG, Beschl. v. 9.4.2003, BVerfGE 108, 82). Fraglich erscheint allerdings, ob das zugleich zur Folge hat, dass eine gleichwohl fortbestehende Lebensgemeinschaft des (adoptierten) Kindes mit seinem biologischen Vater auch nicht mehr unter den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fällt (so: OLG Schleswig, Beschl. v. 30.1.2004, FamRZ 2004, 1057; offen lassend: OLG Stuttgart, Beschl. v. 21.3.2006, FamRZ 2006, 1865).

Diese Frage kann dahingestellt bleiben, weil auch dann, wenn sie zu verneinen sein sollte, gleichwohl ein rechtliches Abschiebungshindernis vorliegen dürfte. Denn die Abschiebung des Antragstellers erweist sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls als unverhältnismäßiger Eingriff in sein Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG.

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit steht als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit auf Deutsche und auf das Bundesgebiet (Art. 11 GG) schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 10.8.2007, InfAuslR 2007, 443, m.w.N.). Die Abschiebung als Maßnahme, mit der die Pflicht eines Ausländers, das Bundesgebiet zu verlassen, durchgesetzt wird, ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich - noch - im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers. Der aus dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit folgende Schutz vor Eingriffen ist nur in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG gezogenen Rahmen, insbesondere nur in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung, gewährleistet (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört jede Rechtsnorm, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang steht. (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund solcher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht bietet - vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen - der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den allgemeinen verfassungsrechtlichen Maßstab, nach dem das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt werden darf (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Das gilt gleichermaßen für Maßnahmen, die darauf zielen, einen Aufenthalt tatsächlich zu beenden.

Die Regelungen über die Abschiebung, insbesondere die Regelung in § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG über die zwingende Abschiebung von Ausländern u.a. dann, wenn deren Ausreisepflicht vollziehbar ist, unterliegt keinen grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zweifeln. Diese Regelung enthält allerdings selbst keine besonderen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Abschiebungen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist deshalb bei der Frage Rechnung zu tragen, ob im Einzelfall die Abschiebung rechtlich unmöglich ist, sodass sie nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 - wiederum zwingend - auszusetzen ist. Eine Abschiebung, die im Einzelfall dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspricht, ist in diesem Sinne rechtlich unmöglich.

Es spricht viel dafür, dass mit der Abschiebung die Handlungsfreiheit des Antragstellers nach diesen Maßstäben in einer Weise eingeschränkt wird, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht mehr entspricht. Seine Handlungsfreiheit umfasst das Recht, mit dem jetzt knapp 13 Jahre alten A. , dessen biologischer Vater der Antragsteller ist, in Deutschland Umgang zu pflegen. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ihm dieses Umgangsrecht zusteht. Es ergibt sich aus § 1685 Abs. 1 und 2 BGB. Danach haben enge Bezugspersonen des Kindes ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn sie für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben und wenn der Umgang dem Wohl des Kindes dient. Wie sogar das nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht ist dieses Umgangsrecht auf das Kindeswohl ausgerichtet und deshalb ein Recht im Interesse des Kindes (zu Art. 6: BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287). Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen vorliegen. Auf die vom VGH Mannheim aufgeworfene (und verneinte) Frage, ob sich aus § 1685 Abs. 2 BGB ein rechtliches Abschiebungshindernis ergeben könne (Beschl. v. 22.11.2006, AuAS 2007, 38), kommt es bei einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht an.

Es kann dahingestellt bleiben, in welchem Umfang es dem Antragsteller gelungen ist, sich - wie er geltend macht - nach seiner Wiedereinreise im August 2005 aus der sich anschließenden Strafhaft heraus durch ständige Telefonate und regelmäßige Besuche um das Kind zu kümmern. Der Antragsteller hatte nämlich bereits in der Vergangenheit, als er ab August 1996 bis April 1998 mit dem Kind als dessen Vater in häuslicher Gemeinschaft lebte, Verantwortung für das Kind getragen. Dies ergibt sich unabhängig von seinem konkreten Erziehungs- und Verantwortungsbeitrag bereits aus der Regelvermutung des § 1685 Abs. 2 Satz 2 BGB. Dass er anschließend wegen der Strafhaft und seines Aufenthalts in der Türkei hierzu jahrelang keine Gelegenheit hatte, ist unerheblich. Denn für die Verwirklichung des Tatbestands dieser Norm - soweit es um den umgangsberechtigten Personenkreis geht - genügt es, dass die Bezugsperson Verantwortung in der Vergangenheit getragen hat, dass damit eine sozial-familiäre Beziehung zu dem Kind begründet wurde und dass die Person deshalb für das Kind - jedenfalls in der Vergangenheit - eine enge Bezugsperson war (BGH, Beschl. v. 9.2.2005, FamRZ 2005, 705). Es kommt hinzu, dass der Antragsteller seit seiner Entlassung am 21. April 2008 offenbar diese Verantwortung erneut trägt.

Ob der Antragsteller deshalb - wenn nicht als Vater, so zumindest als sonstige enge Bezugsperson im Sinne des § 1685 Abs. 2 BGB - ein eigenes Umgangsrecht mit dem Kind hat, hängt entscheidend davon ab, ob dieser Umgang dem Wohl des Kindes dient. Nach dem Vorbringen des Antragstellers und den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen kann hiervon ausgegangen werden. Hiernach deutet alles darauf hin, dass der Antragsteller - jedenfalls heute - die entscheidende Bezugsperson für das Kind ist, die ihm den nötigen Halt gibt. Die Eltern des Antragstellers (und Adoptiveltern des Kindes) scheinen nach den eigenen Angaben des Antragstellers zwar bemüht zu sein, dem Wohl des Kindes Rechnung zu tragen. So hat der Antragsteller in seinem Schreiben an die Antragsgegnerin vom 1. Juni 2007 erklärt, es sei für ihn gut zu wissen, dass sein Sohn, der bei seinen Eltern und seinem Bruder aufwachse, dort "gut behütet" werde. Allerdings wird hier nicht unberücksichtigt bleiben können, dass der Antragsteller nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen in der Familie offenbar durchgehend als der Vater von A. in Erscheinung getreten ist, und zwar auch nach dessen Adoption durch die Eltern des Antragstellers. So hat die Mutter des Antragstellers in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 7. Mai 2008 (die Datumsangabe 7.5.2007 ist ersichtlich ein Schreibversehen) u.a. ausgeführt, dass sie und ihr Ehemann zwar A. über alles liebten, dass sie für ihn jedoch seine Oma geblieben sei und dass sie ihm den Vater nicht ersetzen könnten. Seit der Entlassung des Antragstellers aus der Haft gehe es A. gut; er weiche seinem Vater nicht mehr von der Seite. Auch das - auszugsweise eingereichte - Schulzeugnis vom 31. Januar 2008 drückt aus, dass A. unter den familiären Verhältnissen vor der Haftentlassung des Antragstellers gelitten hat. So heißt es dort, dass ihm die erforderliche Unterstützung außerhalb der Schule fehle. Schließlich hat auch die Kinderärztin, die A. offenbar seit Jahren kennt, in ihrer Bescheinigung vom 30. April 2008 angeführt, dass er schon mehrere Therapien hinter sich habe und dringend eine feste starke Bezugsperson brauche, die sich intensiv um ihn kümmern könne. Sie habe den Antragsteller als den Vater des Kindes kennen gelernt und den Eindruck gewonnen, dass er den deutlichen Willen zeige, diese Position zu übernehmen; eine Trennung von seinem Vater - gemeint ist auch hier der Antragsteller - berge die Gefahr, dass sich die psychosomatischen Beschwerden des Kindes verstärkten. Auch an der Richtigkeit dieser ersten Einschätzungen zum Kindeswohl hat die Antragsgegnerin keine Zweifel geäußert. Sollten an der Richtigkeit dieser Einschätzungen begründete Zweifel bestehen, bietet es sich an, gutachtliche Stellungnahmen etwa des Allgemeinen Sozialen Dienstes bzw. des Jugendamtes zur familiären Situation des Kindes einzuholen.

Bei der Bewertung, ob die Abschiebung in unverhältnismäßiger Weise dieses Recht auf Umgang einschränkt, ist ebenfalls das Kindeswohl zu berücksichtigen, dem das Umgangsrecht entscheidend dient. Je stärker das Wohl des Kindes von diesem Umgang abhängt, desto gewichtiger müssen die Gründe sein, die es rechtfertigen, das Kindeswohl gleichwohl zurücktreten zu lassen.

Nach diesen Maßstäben erscheint hier der mit der Abschiebung des Antragstellers verbundene Eingriff in seine Handlungsfreiheit und in das hiermit in untrennbarem Zusammenhang stehende Kindeswohl nicht gerechtfertigt. In welchem Umfang das Kindeswohl tatsächlich von der Anwesenheit des Antragstellers abhängt, steht bislang zwar nicht mit Sicherheit fest. Wie oben ausgeführt, spricht alles dafür, dass der Umgang des Antragstellers dem Kindeswohl dient. Nicht geklärt ist hingegen, wie erheblich der Schaden für das Wohl des Kindes wäre, wenn es auf den Umgang mit dem Antragsteller verzichten müsste. Die Antragsgegnerin, die sich mit dem Kindeswohl bislang überhaupt nicht befasst hat, hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Angesichts der herausragenden Bedeutung, die der Umgang des Kindes mit seinen Eltern für seine Entwicklung hat (vgl. BVerfG, Urt. v. 1.4.2008, NJW 2008, 1287, juris Rn. 79 und 85), dürfte im Regelfall von einer erheblichen Gefahr für das Kindeswohl beim Abbruch des Umgangs auszugehen sein. Das gilt auch hier, obwohl der Antragsteller nicht mehr im Rechtssinne der Vater des Kindes ist. Denn das offenbar tatsächlich gelebte Vater-Kind-Verhältnis dürfte nicht deshalb belastbarer sein, weil die Bezugsperson, die das Kind als Vater ansieht und die auch tatsächlich der biologische Vater ist, im Rechtssinne diese Rolle nicht mehr innehat.

Demgegenüber sind keine öffentlichen Belange von solchem Gewicht erkennbar, denen der Vorrang gegenüber dem Umgangsrecht des Antragstellers und dem Kindeswohl einzuräumen wäre. Trotz der ganz erheblichen Straftaten unter Gewaltanwendung, die der Antragsteller in der Vergangenheit begangen hat, dürfte gegenwärtig wohl keine konkrete Wiederholungsgefahr mehr anzunehmen sein. Eine Wiederholungsgefahr nimmt auch die Antragsgegnerin nicht an. Hiergegen spricht bereits, dass die letzte Straftat in Deutschland offenbar im April 1998 begangen wurde und dass der Antragsteller ausweislich der im früheren Klageverfahren eingereichten türkischen Strafregisterauszugs vom 25. Juni 2003 (Bl. 42 der Akte 11 VG 1879/2002) nach seiner im Sommer 2000 erfolgten Abschiebung offenbar in der Türkei keine Straftaten begangen hat. Gegen eine noch fortbestehende Wiederholungsgefahr spricht aber vor allem, dass die Therapien, denen sich der Antragsteller in der Haft zwei Jahre lang unterzogen hat, offenbar eine grundlegende Änderung seines Verhaltens bewirkt haben. So hat er nach der zusammenfassenden Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel vom 15. Februar 2008 in der Sozialtherapie gelernt, seine Gefühle in Konfliktsituationen, die regelmäßig Anlass für Gewalttaten waren, angemessener zu bewältigen. In dem Abschlussbericht der sog. R&R-Gruppe vom Januar 2008 heißt es u.a., er habe von dem R&R-Programm sehr profitiert. Er habe das Erlernte immer wieder in Alltagssituationen ausprobiert und es sei deutlich geworden, wie er sich u.a. durch das kontrollierte Selbstgespräch in Konfliktsituationen auf ein angemessenes Erregungsniveau habe bringen und dadurch sein impulsives und aggressives Verhalten habe besser steuern können; er habe viel gelernt und sei auf einem sehr guten Weg. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berichte (Bl. 11 bis 15 der Gerichtsakte) Bezug genommen. Sonstige öffentliche Belange von ähnlich hohem Gewicht wie die Gefahr drohender Straftaten, die sich gegen Leben und körperliche Unversehrtheit Dritter richten, sind nicht ersichtlich. Zwar hat der Antragsteller bei seiner Wiedereinreise ohne Visum und trotz der Sperrwirkung seiner früheren Ausweisung und Abschiebung gegen die Einreisevorschriften verstoßen und den Straftatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfüllt. Dieser Verstoß ist auch unter Berücksichtigung des generalpräventiven Zwecks, der mit der Bestrafung dieses Verstoßes verfolgt wird, nicht so gewichtig, dass das - nach den obigen Darlegungen wesentlich bedeutsamere - Kindeswohl zurückzutreten hätte.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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