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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 08.11.2006
Aktenzeichen: (4) 1 HEs 59/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
StPO § 122
Die Prüfungskompetenz des OLG im Verfahren der besonderen Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO endet mit dem Beginn der Hauptverhandlung in der anhängigen Strafsache. Das gilt auch dann, wenn das Bundesverfassungsgericht auf eine Verfassungsbeschwerde einen in diesem Verfahren ergangenen Haftfortdauerbeschluss eines Strafsenates des OLG aufgehoben und die Sache an denselben Senat zurückverwiesen hat (Anschluss an OLG Düsseldorf NStZ 1992, 402 f. und OLG Dresden NStZ 2004, 644 f.).
KAMMERGERICHT Beschluss

Geschäftsnummer: (4) 1 HEs 59/05 (4) 1 HEs 43/06 (4) 1 HEs 44/06 (4) 1 HEs 45/06 (4) 1 HEs 46/06 (4) 1 HEs 47/06 (4) 1 HEs 49/06

In dem Strafverfahren

wegen bandenmäßig begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a.

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 8. November 2006 beschlossen:

Tenor:

Eine Entscheidung des Senats über die Fortdauer der Untersuchungshaft der Angeklagten ist derzeit nicht veranlasst.

Gründe:

Der Senat hat am 2. August 2006 gemäß den §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 4 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft unter anderem gegen die Angeklagten U., H., E.-N., I., A. und M. angeordnet. Am 27. September 2006 hat die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin erneut begonnen. Auf die Verfassungsbeschwerden der Angeklagten U., H., A. und M. hat das Bundesverfassungsgericht durch Beschluss vom 20. Oktober 2006, der dem Senat am 27. Oktober 2006 bekannt gemacht worden ist, festgestellt, dass der Beschluss des Senats die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt, die Entscheidung aufgehoben und die Sache an das Kammergericht zurückverwiesen. Am 25. Oktober 2006 hat das Landgericht den Angeklagten H. von dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont und das Verfahren gegen ihn sowie eine Mitangeklagte zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung abgetrennt. Der Angeklagte U. hat beantragt, ihn bis zu einer Entscheidung des Senats vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft zu verschonen. Die Angeklagten E.-N. und I. haben beantragt, über die Fortdauer ihrer Untersuchungshaft gemäß § 122 Abs. 6 StPO zu entscheiden. Der Senat, dem die Verfahrensakten am 3. November 2006 vorgelegt worden sind, ist gegenwärtig im Verfahren nach den §§ 121, 122 StPO zu einer Entscheidung nicht berufen.

1. Infolge der Aufhebung des beanstandeten Beschlusses des Senats und der Zurückverweisung der Sache an das Kammergericht gemäß § 93 c i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG durch das Bundesverfassungsgericht ist das Verfahren der Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO wiederum bei dem Senat anhängig. Zwar hat die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG zur Folge, dass das Ausgangsverfahren in den Zustand vor Ergehen dieser Entscheidung (status quo ante) zurückversetzt wird (vgl. Schmidt-Bleibtreu in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 95 Rdnr. 26; Stark in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG 2. Aufl., § 95 Rdnr. 72), doch ist das Oberlandesgericht auch in diesem Verfahren der erneuten besonderen Haftprüfung an die in den maßgeblichen einfachgesetzlichen Verfahrensvorschriften im Einzelnen enthaltenen Regelungen gebunden (vgl. OLG Düsseldorf NStZ 1992, 402; OLG Dresden NStZ 2004, 644, 645). Insbesondere im Hinblick auf das Rechtsstaatsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG) ist auszuschließen, dass das Kammergericht mit dem ihm in den Entscheidungsgründen (BA S. 19) erteilten Auftrag, "erneut eine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft herbeizuführen", seitens des Bundesverfassungsgerichts veranlasst werden sollte, die Regelungen in den §§ 121, 122 StPO teilweise als unbeachtlich anzusehen, und ihm etwa Entscheidungskompetenzen zugewiesen werden sollten, die ihm nach diesen Vorschriften nicht zustehen.

Für die erneute besondere Haftprüfung ist nicht der Stand des Strafverfahrens, in dem sich dieses vor der aufgehobenen Entscheidung des Senats befunden hat, maßgeblich. Es sind vielmehr die aktuellen Haftverhältnisse und der Fortgang des Strafverfahrens zu berücksichtigen. Das ergibt sich bereits daraus, dass § 121 Abs. 1 StPO den tatsächlichen Vollzug der Untersuchungshaft zum Zeitpunkt der Entscheidung voraussetzt, die besondere Haftprüfung mithin nicht stattfindet, wenn der Haftbefehl vor der Entscheidung aufgehoben oder der Angeklagte von dessen weiterem Vollzug verschont worden ist. Die Prüfung des Oberlandesgerichts kann sich daher allein auf die Frage erstrecken, ob die Fortdauer der Untersuchungshaft gerechtfertigt i s t , nicht aber darauf, ob in der Vergangenheit erlittene Untersuchungshaft gerechtfertigt w a r (vgl. KG JR 1967, 266, 267; OLG Düsseldorf aaO; OLG Dresden aaO). Die Beachtlichkeit des Fortgangs des Verfahrens folgt weiter daraus, dass in § 121 Abs. 3 Sätze 2 und 3 StPO Regelungen über das Ruhen des Fristenlaufs nach Beginn der Hauptverhandlung und bei rechtzeitiger Vorlage der Akten nach Aussetzung der Hauptverhandlung getroffen worden sind. Das hat das Bundesverfassungsgericht bereits ausdrücklich anerkannt und bei der Zurückverweisung an das zuständige erkennende Gericht gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG berücksichtigt (vgl. StV 1997, 535, 536). Denn es hat in einem mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Verfahren die Sache nicht an das Oberlandesgericht, das den aufgehobenen Beschluss nach den §§ 121, 122 StPO erlassen hatte, zurückverwiesen, sondern unter Hinweis auf § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO an das gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständige Landgericht, das während des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde mit der Hauptverhandlung begonnen hatte. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Senat an einer Haftfortdauerentscheidung betreffend den Angeklagten H. bereits deshalb gehindert, weil gegen ihn aufgrund des Haftverschonungsbeschlusses des Landgerichts vom 25. Oktober 2006 nicht mehr gemäß § 121 Abs. 1 StPO die Untersuchungshaft vollzogen wird.

Betreffend die Angeklagten U., A. und M. hat der Senat gegenwärtig keine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu treffen, weil entsprechend der einfachgesetzlichen Regelung in § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO der Fristenlauf zurzeit ruht. Denn das Landgericht führt die Hauptverhandlung gegen unter anderem diese Angeklagten seit dem 27. September 2006 erneut durch. Diese Hauptverhandlung hat zwar nicht bereits vor Ablauf der durch die Beschlüsse des Senats vom 11. Januar 2006 - (4) 1 HEs 59/05 (99-105/05) - (betreffend u.a. den Angeklagten A.) und 9. Februar 2006 - (4) 1 HEs 59/05 (8-9/06) - (betreffend die Angeklagten U. sowie M.) gemäß § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO festgesetzten Fristen begonnen. Darauf kommt es jedoch nicht an. Der Senat wendet die Regelung des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO in sonstigen Verfahren der besonderen Haftprüfung stets auch dann sinngemäß an, wenn mit der Hauptverhandlung begonnen worden ist, bevor er über die Haftfortdauer entschieden hat. Denn auch in diesem, vom Wortlaut des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht ausdrücklich erfassten Fall besteht kein Bedürfnis mehr zur Überwachung der Vollzugsdauer durch das Oberlandesgericht (vgl. OLG Düsseldorf aaO; OLG Celle Nds. RPfl. 1997, 34; OLG Hamm wistra 1998, 198, 199; OLG Dresden aaO; Boujong in Karlsruher Kommentar, StPO 5. Aufl., § 121 Rdnr. 5; Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl., § 121 Rdnr. 19, § 122 Rdnr. 26). Denn während der Hauptverhandlung obliegt es dem Tatrichter, im Rahmen des § 120 Abs. 1 StPO ständig die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu prüfen. Dafür stehen ihm aufgrund seiner aktuellen Befassung mit der Sache ohnehin bessere Beurteilungsgrundlagen zur Verfügung als dem Oberlandesgericht (vgl. OLG Düsseldorf aaO; OLG Dresden aaO). Der Senat war nach alldem auch nicht befugt, über den Antrag des Angeklagten U. auf Verschonung von dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft bis zu der hiesigen Entscheidung zu befinden.

Es besteht kein Anlass, im vorliegenden Verfahren von der entsprechenden Anwendung des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO abzuweichen. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Bundesverfassungsgericht der Beginn der neuerlichen Hauptverhandlung am 27. September 2006 zwar bekannt war, es auf diese neue prozessuale Lage in seiner Entscheidung aber nicht eingegangen ist. Anhaltspunkte dafür, dass mit dem dem Kammergericht erteilten Auftrag (BA S. 19) die in dem vorerwähnten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (StV 1997, 535, 536) vertretene Rechtsauffassung, das Oberlandesgericht sei nach dem Beginn der Hauptverhandlung nicht mehr für das besondere Haftprüfungsverfahren zuständig, aufgegeben worden ist, lassen sich weder der Entscheidungsformel noch den Entscheidungsgründen entnehmen. Für die entscheidungserhebliche Frage, ob der Beschluss des Senats vom 2. August 2006 die Beschwerde führenden Angeklagten in ihren Grundrechten verletzt, kam es auf die Auslegung des § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO ohnehin nicht an. Im Übrigen ist die Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts im konkreten Einzelfall allein Aufgabe der Instanzgerichte, hier des Senates.

Nach alldem obliegt es gegenwärtig dem Landgericht als dem nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständigen Gericht, unter besonderer Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 120 Abs. 1 StPO) die weiteren richterlichen Entscheidungen und Maßnahmen zu treffen, die sich auf die Untersuchungshaft der Angeklagten oder die Aussetzung des Haftvollzuges beziehen.

Die Angeklagten sind durch die Beendigung der Prüfungskompetenz des Oberlandesgerichts, hier des Senats, nach dem Beginn der Hauptverhandlung nicht schlechter gestellt, da sie im Rahmen der §§ 117, 120 StPO auch selbst eine Überprüfung der Fortdauer der Untersuchungshaft durch das erkennende Gericht erreichen und gegen eine die Haftfortdauer anordnende Entscheidung Beschwerde einlegen können (vgl. OLG Düsseldorf aaO; OLG Dresden aaO).

Eine Verweisung der Sache an das Landgericht kam nicht in Betracht. Denn es ist in keinem Fall das zur Prüfung der Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO berufene Gericht.

2. Es kann dahinstehen, ob eine Entscheidung gemäß den §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 6 StPO betreffend die Angeklagten E.-N. und I., wie von ihnen beantragt, bei dem derzeitigen Verfahrensstand überhaupt zulässig wäre. Denn darauf kommt es hier nicht an, weil der Senat aus den vorstehend dargelegten Gründen bereits betreffend die Angeklagten U., A. und M. nicht zu einer Entscheidung nach den §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 4 StPO veranlasst ist.

Ende der Entscheidung

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