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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 18.12.2008
Aktenzeichen: (4) 1 Ss 453/08 (292/08)
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 93
1. Ist das Ergebnis eines Augenscheins eine wesentliche Grundlage der Entscheidung, müssen die Urteilsgründe in nachprüfbarer Weise darlegen, auf welche festgestellten Einzelheiten und welchen daran anknüpfenden Erwägungen sich die Beweiswürdigung des Gerichts stützt.

2. Nimmt das Gericht eigene Sachkunde in Anspruch, müssen die Urteilsgründe Ausführungen enthalten, aus denen entnommen werden kann, dass sich der Tatrichter zu Recht die erforderliche Sachkunde zugetraut hat.

3. Die Schriftvergleichung erfordert in der Regel die Zuziehung eines Sachverständigen.


KAMMERGERICHT Beschluss

Geschäftsnummer: (4) 1 Ss 453/08 (292/08)

In der Strafsache gegen

wegen Beleidigung

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 18. Dezember 2008 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. Juni 2008 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revisionen - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat die Angeklagte wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 10,00 € verurteilt. Das Landgericht Berlin hat ihre hiergegen eingelegte Berufung verworfen. Die Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung sachlichen und formellen Rechts rügt, hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrüge nicht bedarf.

Nach den Urteilsfeststellungen soll gegen die Angeklagte durch die zuständige Richterin Dr. des Amtsgerichts Tiergarten am 12. Februar 2007 ein Strafbefehl wegen Bedrohung erlassen worden sein. Nachdem die Angeklagte hiergegen Einspruch eingelegt haben soll, soll sie am 3. März 2007 die Richterin persönlich angeschrieben haben. Dabei habe sie auf vier handschriftlich abgefassten Seiten ihre Wut und Verärgerung über die Justiz im Allgemeinen und die Richterin im Besonderen zum Ausdruck gebracht. Unter anderem soll der Brief die folgenden Äußerungen enthalten haben, mit denen die Angeklagte die Ehre der Richterin Dr. Jahnke bewusst habe herabwürdigen wollen:

"Sehr geehrte Frau Dr. Sau - Richterin (-)!",

"... Sie und Ihre Kollegen lassen sich obschon Juristen auf das Niveau frauenprügelnder Polizisten herab."

"Ich wünsche Ihnen alleinstehende berliner Frau Richterin das Opfer eines Albert Henry de Salvo zu werden."

Bei de Salvo soll es sich um einen 1972 verstorbenen mutmaßlichen Serienkiller gehandelt haben, dem in der Zeit von 1962 bis 1964 Morde an 13 Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika zur Last gelegt worden sind.

Zur Begründung ihrer Überzeugung, dass die Angeklagte, die in der Berufungshauptverhandlung sich zur Sache nicht eingelassen hat, die Verfasserin des Briefs vom 3. März 2007 gewesen ist, hat die Kammer Folgendes ausgeführt: Zum einen habe ein gründlicher Vergleich des Originalschriftstücks mit den zahlreichen ganz unzweifelhaft von der Angeklagten verfassten Eingaben in dem hiesigen Verfahren die Urheberschaft der Angeklagten ergeben. Diese Schreiben seien in der äußeren Struktur, der räumlichen Aufteilung, des Schriftbildes sowohl in Größe als auch Form der einzelnen Buchstaben in einem Grade identisch, dass es dafür keines grafologischen Gutachtens bedürfe, sondern die Identität der Autorenschaft jedermann ins Auge springe. Beispielhaft sei auf die groß geschriebenen Buchstaben "B", "R" und "S" hingewiesen. Zum anderen, so führt die Kammer aus, habe die Angeklagte in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung - insoweit sei ihre geständige Einlassung verlesen worden - selbst eingestanden, den in Rede stehenden Brief vom 3. März 2007 verfasst zu haben. Soweit sie dort bestritten habe, das Wort "Sau" gebraucht zu haben, sei sie wiederum durch einen Abgleich des Schriftbildes widerlegt. Im Übrigen frage es sich, welche andere Person im Namen der Angeklagten verfahrensbezogene Korrespondenz mit dem Amtsgericht geführt haben soll und/oder nachträgliche Einfügungen in ihrem Schreiben vorgenommen haben könnte.

Diese Beweiswürdigung ist rechtsfehlerhaft. Zwar ist die Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO Sache des Tatrichters. Das Revisionsgericht hat jedoch auf die Sachrüge zu prüfen, ob dem Tatrichter hierbei Rechtsfehler unterlaufen sind. Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung dann, wenn sie in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (Senat, Beschluss vom 8. September 2008 - (4) 1 Ss 271/08 (177/08) -; Meyer-Goßner, StPO 51. A., § 337 Rdnr. 27 m.w.N.). So verhält es sich hier. Denn die Beweiswürdigung wird den besonderen Anforderungen, die an die Feststellung der Urheberschaft von Schriftstücken zu stellen sind, nicht gerecht und erweist sich auch im Übrigen als lückenhaft.

1. Soweit die Kammer hinsichtlich ihrer Überzeugungsbildung auf einen Vergleich des Schreibens vom 3. März 2007 mit anderen, "unzweifelhaft" von der Angeklagten stammenden Eingaben abgestellt hat, hat sie diese Schriftstücke ersichtlich in Augenschein genommen und aufgrund eigener Sachkunde einen Schriftvergleich vorgenommen. Ist das Ergebnis eines Augenscheins eine wesentliche Grundlage der Entscheidung, müssen die Urteilsgründe in nachprüfbarer Weise darlegen, auf welche festgestellten Einzelheiten und welchen daran anknüpfenden Erwägungen sich die Beweiswürdigung des Gerichts stützt (Gollwitzer in LR, StPO 25. A., § 267 Rdnr. 62). Bereits hieran fehlt es vorliegend. Denn die Kammer stellt lediglich auf Übereinstimmungen in der äußeren Struktur, der räumlichen Aufteilung, des Schriftbildes sowohl in Größe als auch Form der einzelnen Buchstaben ab und weist beispielhaft auf die groß geschriebenen Buchstaben "B", "R" und "S" hin. Diese - noch dazu sehr allgemein-gehaltenen - Übereinstimmungen werden lediglich pauschal behauptet, aber nicht durch konkrete Umstände bzw. Besonderheiten etwa hinsichtlich der Strichbeschaffenheit (Merkmale der Strichführung), der Druckgebung (Schreibtiefe), des Bewegungsflusses (Strichgeschwindigkeit, Grad und Art der Verbundenheit der Buchstaben), der Bewegungsführung und Formgebung, der Bewegungsrichtung (Neigungswinkel, Verlaufseigentümlichkeiten), der horizontalen und vertikalen Flächengliederung (Ober- und Unterrand, Zeilenabstand, Seitenränder, Wortabstände) und Ausdehnung der Schrift, Interpunktion, Orthografie und Abkürzungen konkret belegt und beschrieben, obwohl dies Umstände sind, die bei der wissenschaftlichen Anforderungen genügenden Schriftvergleichung im allgemeinen berücksichtigt werden müssen (vgl. Krause in LR, StPO 25. A., § 93 Rdnr. 1; Eisenberg, Beweisrecht der StPO 6. A., Rdnr. 1971 ff.). Auch teilt das Urteil nichts über Art, Umfang und Beschaffenheit der "unzweifelhaft" von der Angeklagten stammenden, als Vergleichmaterial verwendeten schriftlichen Eingaben mit, so dass sich deren Geeignetheit als Vergleichsmaterial nicht erschließt. Die Überzeugungsbildung der Kammer ist daher für das Revisionsgericht nicht nachprüfbar.

Hinzu kommt, dass in den Urteilsgründen nachgewiesen werden muss, dass das Gericht zu Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat, sofern die betreffenden Fachfragen das Allgemeinwissen des Gerichts überschreiten (Gollwitzer in LR, a.a.O., § 244 Rdnr. 303). Die Urteilsgründe müssen daher Ausführungen enthalten, aus denen das Revisionsgericht entnehmen kann, dass sich der Tatrichter zu Recht die erforderliche Sachkunde zugetraut hat, wobei sich Notwendigkeit und Umfang solcher Darlegungen nach der Schwierigkeit der Beweisfrage richten (Gollwitzer in LR, a.a.O.). Gerade bei einem Wissensgebiet, dass eine besondere, langjährige Ausbildung voraussetzt, sind die Anforderungen an die Darlegungspflicht besonders hoch (Gollwitzer, a.a.O., Rdnr. 304). Solche Darlegungen fehlen in dem angefochtenen Urteil völlig. Sie wären umso mehr erforderlich gewesen, als die Schriftvergleichung in der Regel die Zuziehung eines Sachverständigen - auf dessen Zuziehung nur in ganz eindeutigen Fällen verzichtet werden kann (Krause in LR, a.a.O., § 93 Rdnr. 3) - erfordert (Meyer-Goßner, a.a.O., § 93 Rdnr. 1; Rogall in SK-StPO, § 93 Rdnr. 18), da das Gericht nur selten über hinreichende eigene Sachkunde verfügt (Eisenberg, a.a.O., Rdnr. 1965) und selbst Schriftgutachten durch Schriftvergleich häufig fehlerbehaftet sind, so dass ihre Ergebnisse in aller Regel mit besonderer Vorsicht gewürdigt (Senat StV 1993, 628, 629) bzw. - in besonderen Fällen - Zweitgutachten von Amts wegen eingeholt werden müssen (OLG Düsseldorf StV 1986, 376, 377; 1991, 456, 457). Ob es sich hier um einen solchen eindeutigen (Ausnahme-) Fall handelt, in dem die Einholung eines Schriftgutachtens entbehrlich ist, kann der Senat aufgrund der nur lückenhaften Ausführungen in dem angefochtenen Urteil nicht überprüfen.

2. Soweit die Kammer hinsichtlich ihrer Überzeugungsbildung ergänzend das in der Berufungshauptverhandlung verlesene Protokoll über die teilgeständigen Einlassungen der Angeklagten in der Hauptverhandlung erster Instanz - wonach sie eingeräumt habe, den Brief vom 3. März 2007 verfasst, jedoch den Begriff "Sau" nicht verwendet zu haben - verwertet hat, hält dies ebenfalls rechtlicher Überprüfung nicht Stand. Denn die Kammer hat sich nicht damit auseinander gesetzt, dass die Angeklagte im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung erster Instanz ihr Geständnis "zurückgezogen", also widerrufen hat. Zwar teilt das angefochtene Urteil den Widerruf des Geständnisses der Angeklagten in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht mit. Der Widerruf ergibt sich jedoch aus dem auch insoweit in der Berufungshauptverhandlung verlesenen Hauptverhandlungsprotokoll des Amtsgerichts, wovon der Senat aufgrund einer in zulässiger Weise erhobenen Verfahrensrüge Kenntnis erlangt hat. Es ist anerkannt, dass Ergänzungen des Sachvortrags aus anderem Rügevorbringen der Revision entnommen werden können. So wie eine Verfahrensrüge auf Grund der zulässig erhobenen Sachrüge aus den Urteilsgründen ergänzt werden kann (BGH NStZ 1993, 143 - unter d -; BGH bei Miebach NStZ-RR 1998, 3), können auch aus einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge Tatsachen zur Begründung der Sachrüge entnommen werden (Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozess 7. A., Rdnr. 483). Zwar kann ein Geständnis auch dann zur richterlichen Überzeugungsbildung herangezogen werden, wenn es im weiteren Verlauf des Verfahrens bzw. der Hauptverhandlung widerrufen worden ist. Erforderlich ist jedoch, dass sich das Gericht mit dem Umstand, dass das Geständnis widerrufen worden ist, auseinandersetzt und nachvollziehbar begründet, warum es gleichwohl das ursprüngliche Geständnis für zutreffend hält. Denn nur so kann das Einlassungsverhalten umfassend und vollständig gewürdigt werden (vgl. OLG Hamm StV 2007, 630, 631). Da die Kammer sich vorliegend in ihrer Beweiswürdigung nicht damit auseinandergesetzt hat, dass die Angeklagte in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ihr Geständnis widerrufen hat, sondern allein auf ihre ursprüngliche (teil-) geständige Einlassung abgestellt hat, erweist sich die Beweiswürdigung auch insoweit als lücken- und damit rechtsfehlerhaft.

Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen auf und verweist die Sache nach § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.

3. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Zu Recht hat die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift ausgeführt, dass die der Angeklagten u.a. zur Last gelegte Äußerung, "Ich wünsche Ihnen alleinstehende berliner Frau Richterin das Opfer eines Albert Henry de Salvo zu werden", nicht den Tatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) erfüllt. Denn der Tatbestand der Beleidigung setzt einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre eines anderen durch vorsätzliche Kundgabe der Missachtung oder Nichtachtung voraus (Senat, Beschlüsse vom 16. Mai 2008 - (4) 1 Ss 121/06 (242/06) - und vom 26. Oktober 2007 - (4) 1 Ss 289/06 (261/06) -; Fischer, StGB 55. A., § 185 Rdnr. 4). Dem Betroffenen muss der sittliche, personale oder soziale Wert durch das Zuschreiben negativer Qualitäten ganz oder teilweise abgesprochen werden (Senat, a.a.O.; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 27. A., § 185 Rdnr. 2). Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht allein dadurch gegeben, dass einem anderen gewünscht wird, dass er das Opfer eines Massenmörders werde.

Weiterhin hat die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht darauf hingewiesen, dass sich das Urteil, soweit der Angeklagten die Äußerung zur Last gelegt worden ist, "... Sie und Ihre Kollegen lassen sich obschon Juristen auf das Niveau frauenprügelnder Polizisten herab", nicht ausreichend mit einer möglichen Rechtfertigung nach § 193 StGB auseinandersetzt. Denn insoweit handelt es sich um eine Meinungsäußerung, die im Verlauf eines Gerichtsverfahrens getätigt worden ist. Zur Rechtsverteidigung darf jedoch jeder Verfahrensbeteiligte auch starke und eindringliche Ausdrücke verwenden, um seine Rechtsposition zu unterstreichen (Senat, a.a.O., m.w.N. und Beschluss vom 30. April 2008 - (4) 1 Ss 22/08 (35/08) -). Ob die der Angeklagten zur Last gelegte Äußerung, bei der es sich um eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB handelt, nach § 193 StGB gerechtfertigt ist, kann aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen nicht beurteilt werden, da Anlass und Kontext der ersichtlich nicht im Zusammenhang wiedergegebenen Äußerungen nicht mitgeteilt werden.

Ende der Entscheidung

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