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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 30.12.2005
Aktenzeichen: 1 AR 1496/05 - 5 Ws 612/05
Rechtsgebiete: StPO, ZPO


Vorschriften:

StPO § 37 Abs. 1
StPO § 40 Abs. 1
StPO § 40 Abs. 3
StPO § 45 Abs. 1 Satz 1
StPO § 170 Abs. 2
StPO § 310 Abs. 1
StPO § 310 Abs. 2
ZPO §§ 166 ff.
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
1 AR 1496/05 - 5 Ws 612/05

In der Strafsache gegen

wegen Betruges u.a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 30. Dezember 2005 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 9. November 2005 aufgehoben.

2. Dem Verurteilten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 21. Juli 2004, mit dem die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen worden ist, gewährt.

3. Dem Verurteilten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den vorbezeichneten Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten gewährt.

4. Der Verurteilte ist unverzüglich aus der Strafhaft zu entlassen.

5. Die Landeskasse Berlin hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Beschwerdeführer dadurch entstanden notwendigen Auslagen zu tragen. Die Kosten der Wiedereinsetzung hat der Verurteilte selbst zu tragen.

Gründe:

Das erweiterte Schöffengericht Tiergarten verurteilte den Beschwerdeführer am 14. Juli 2000, rechtskräftig seit dem 22. Juli 2000, im wesentlichen wegen Betruges und versuchten Betruges in insgesamt 31 Fällen, größtenteils in Tateinheit mit Urkundenfälschung begangen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und setzte deren Vollstreckung zur Bewährung aus. Die Bewährungszeit bemaß es auf drei Jahre. Dem Verurteilten gab das Gericht auf, 100 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten und sich der Aufsicht und Leitung eines hauptamtlichen Bewährungshelfers zu unterstellen. Am 2. Juni 2003 verlängerte das Amtsgericht die Bewährungszeit um ein Jahr bis zum 21. Juli 2004, weil der Beschwerdeführer am 21. Mai 2002 einen Ladendiebstahl begangen hatte.

Weil der ausweislich des Berichts des Bewährungshelfers vom 18. Juni 2003 beruflich im Ausland weilende Verurteilte trotz mehrerer Mahnungen seit Ende 2002 den zuvor recht guten Kontakt zum Bewährungshelfer abgebrochen hatte, widerrief das Amtsgericht mit Beschluß vom 21. Juli 2004 die Strafaussetzung. Nachdem der Bewährungshelfer dem Gericht mitgeteilt hatte, weder ihm noch dem Landeseinwohneramt sei die Anschrift des unbekannt verzogenen Beschwerdeführers bekannt, ordnete das Amtsgericht am 25. August 2004 die öffentliche Zustellung des Beschlusses vom 21. Juli 2004 an. Die Beschlußausfertigung wurde auf Anordnung des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 29. September 2004 in der Zeit vom 4. Oktober bis zum 20. Oktober 2004 an der Gerichtstafel ausgehängt; am 18. Oktober 2004 war die öffentliche Zustellung damit bewirkt.

Aufgrund des daraufhin von der Staatsanwaltschaft Berlin ausgestellten Vollstreckungshaftbefehls wurde der Beschwerdeführer am 6. Oktober 2005 festgenommen. Seither verbüßt er Strafhaft in dieser Sache. Am 20. Oktober 2005 stellte ihm die Staatsanwaltschaft Berlin den Widerrufsbeschluß (erneut) zu.

Mit auf seinem Umschlag auf den 21. Oktober 2005 datiertem Schreiben - in der Justizvollzugsanstalt Moabit postalisch behandelt am 22. Oktober 2005 - wandte er sich an die Staatsanwaltschaft Berlin als die ihm bekannte Vollstreckungsbehörde und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluß. Dieser sei "überwiegend haltlos". Diese Ausführungen waren, da sie sich inhaltlich gegen den Beschluß wandten, gleichzeitig als Einlegung der sofortigen Beschwerde auszulegen (§ 300 StPO). Der Brief ging am 26. Oktober 2005 bei der gemeinsamen Briefannahmestelle der Justizbehörden Moabit ein. Auf dem Begleitumschlag der Justizvollzugsanstalt Moabit befindet sich daneben ein weiteres Handzeichen unbekannter Herkunft vom 28. Oktober 2005. Die Rechtspflegerin der Staatsanwaltschaft erreichte der Rechtsbehelf am 2. November 2005. Die Staatsanwaltschaft leitete ihn am 4. November 2005 als sofortige Beschwerde an das Landgericht Berlin weiter, wo er am 8. November 2005 eintraf. Das Amtsgericht Tiergarten, wo die sofortige Beschwerde hätte eingelegt werden müssen (§ 306 Abs. 1 StPO) erreichte es nicht.

Mit dem angefochtenen Beschluß hat die Strafkammer des Landgerichts Berlin die Wiedereinsetzung versagt und die sofortige Beschwerde als verspätet verworfen. Mit seiner rechtzeitigen (§§ 46 Abs. 3, 311 Abs. 2 StPO) sofortigen Beschwerde gegen die Versagung der Wiedereinsetzung macht der Verurteilte geltend, der Beschluß des Amtsgerichts sei ihm zu Unrecht öffentlich zugestellt worden. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Dem Verurteilten muß die Wiedereinsetzung gewährt werden. Dadurch entfällt die Rechtskraft des Widerrufs.

1. Mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand muß der Betroffene vorbringen und glaubhaft machen, daß er ohne Verschulden gehindert war, eine Frist einzuhalten (§§ 44, 45 StPO). Der Beschwerdeführer trägt allerdings vor, daß die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung nicht vorgelegen hätten. Darin liegt nicht das Vorbringen, schuldlos eine Frist versäumt zu haben, sondern die Behauptung, die Frist habe nicht zu laufen begonnen. Das genügt nach der Rechtsprechung des Kammergerichts in der Regel nicht, um einen Wiedereinsetzungsantrag zu begründen, sondern kann nur Gegenstand eines Rechtsmittels wie der Revision oder der sofortigen Beschwerde sein. Gegen die Bewertung der am 18. Oktober 2004 bewirkten öffentlichen Zustellung als wirksam durch das Landgericht Berlin kann sich der Beschwerdeführer aber nur noch durch den Angriff wehren, das Landgericht habe ihm zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Denn im übrigen ist die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts nach § 310 Abs. 2 StPO nicht mit der weiteren Beschwerde anfechtbar. Eine Ausnahme bestünde nach § 310 Abs. 1 StPO nur insoweit, als sie unmittelbar die Verhaftung oder die einstweilige Unterbringung in einem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren berührte (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 15). So liegt es bei einem Bewährungswiderruf nicht, weil er ein rechtskräftig abgeschlossenes Erkenntnisverfahren voraussetzt. Der Senat hat jedoch entschieden, daß in diesem Fall die Gründe des vom Grundgesetz gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) es gebieten, das Vorbringen gleichwohl im Wiedereinsetzungsverfahren zu prüfen (vgl. KG wistra 2002, 37 mit Nachw.).

2. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist allerdings nicht rechtzeitig innerhalb einer Woche nach Wegfall des Hindernisses (§ 45 Abs. 1 StPO) bei der dafür zuständigen Stelle eingegangen. Für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde war das Landgericht Berlin zuständig, weil es zur Entscheidung in der Sache selbst berufen war (§ 46 Abs. 1 StPO). Einzulegen war die sofortige Beschwerde indes - und damit auch das Wiedereinsetzungsgesuch - bei dem Amtsgericht Tiergarten (§ 306 Abs. 1 StPO). Die Staatsanwaltschaft, an die der Beschwerdeführer sein am 26. Oktober 2005 bei der gemeinsamen Briefannahmestelle eingegangenes Schreiben vom 21. Oktober 2005 gerichtet hatte, war dafür jedenfalls nicht zuständig. Daß das Landgericht Berlin und das Amtsgericht Tiergarten an dieselbe Briefannahmestelle angeschlossen sind, ändert nichts, weil diese Stelle die Postsendungen nur für den auf ihnen bezeichneten Empfänger wirksam annehmen kann (vgl. KG, Beschluß vom 17. April 2002 - (3) 1 Ss 77/02 (42/02) -). Der Beschwerdeführer ist aber von Amts wegen in diese Frist wiedereinzusetzen (§ 45 Abs. 2 Satz 3 StPO), weil sich aus den Verfahrensakten ergibt, daß der Antrag aufgrund amtlichen Verschuldens nicht rechtzeitig weitergeleitet worden ist (vgl. KG aaO).

a) Die einwöchige Frist für den Wiedereinsetzungsantrag begann nicht am 6. Oktober 2005, dem Tag der Verhaftung des Beschwerdeführers. Denn das Hindernis, das der rechtzeitigen Einlegung eines Rechtsmittels entgegensteht, ist nicht schon dadurch entfallen, daß der Betroffene durch die Verhaftung oder die Ladung zum Strafantritt die Wirkung der anzufechtenden Entscheidung spürt. Sondern es entfällt erst, wenn er die Gelegenheit erhält, vom Gegenstand der Zustellung - hier: der Widerrufsentscheidung im Wortlaut - Kenntnis zu nehmen (vgl. KG, Beschlüsse vom 26. Oktober 1999 - 5 Ws 546/99 - und 21. Februar 1994 - 4 Ws 50/94 -). Die - auch von diesem Senat einst vertretene - Gegenauffassung, die das Hindernis bereits entfallen sehen will, wenn der Verurteilte - auf welchem Weg auch immer - bemerkt, daß die Strafaussetzung widerrufen ist (vgl. KG, Beschlüsse vom 27. Oktober 1999 - 3 Ws 517/99 - und 3. September 1999 - 5 Ws 507/99 -), überzeugt nicht. Denn ein Rechtsmittel kann erst dann sinnvoll und mit einer wirksamen Begründung versehen eingelegt und an den zutreffenden Adressaten gerichtet werden, wenn die Entscheidung dem Betroffenen im Wortlaut bekannt ist und er das Gericht kennt, das sie getroffen hat. Diese Voraussetzungen sind am 20. Oktober 2005 eingetreten. Da dieses Datum aktenkundig ist, war der Beschwerdeführer nicht verpflichtet, es in seinem Antrag zu benennen (vgl. BVerfG NJW 1995, 2544 mit umfangr. Nachw.).

b) Der Eingang des Wiedereinsetzungsantrages und der sofortigen Beschwerde bei dem Landgericht Berlin am 8. November 2005 wahrte nicht die Frist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO. In diese Frist muß der Beschwerdeführer von Amts wegen wiedereingesetzt werden. Denn der bereits einen Tag nach dem Wegfall des Hindernisses verfaßte und am nächsten Tag postalisch behandelte Antrag hätte bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang das Amtsgericht (§ 306 Abs. 1 StPO) innerhalb der Wochenfrist erreichen müssen. Bereits die Dauer von vier Tagen Postlauf von der Justizvollzugsanstalt Moabit bis zur im Nebengebäude befindlichen gemeinsamen Briefannahmestelle entspricht nicht den Erfordernissen eines wirksamen Rechtsschutzes. Zieht man in Erwägung, daß die Behandlung der ausgehenden Gefangenenpost in einer Haftanstalt nicht genauso reibungslos vonstatten gehen kann wie bei einem Logistikunternehmen, dessen Hauptaufgabe - anders als die einer Vollzugsanstalt - im Transport von ihm überantworteten Gegenständen besteht, so ist gleichwohl die Laufzeit eines Briefes, der - weil an die Staatsanwaltschaft gerichtet - erkennbar keinen privaten Charakter trug, von mehr als zwei Tagen unangemessen lang und beeinträchtigt den Gefangenen an der wirksamen Wahrnehmung seiner Rechte. Wäre das Schreiben bei ordnungsgemäßem Transport indes am 24. Oktober 2005 bei der gemeinsamen Briefannahmestelle eingegangen, so hätte es die Staatsanwaltschaft spätestens am 25. Oktober 2005 erreicht. Diese wäre dann unschwer in der Lage gewesen, es im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsganges innerhalb der erst am 27. Oktober 2005 endenden Frist an das nahegelegene zuständige Gericht weiterzuleiten (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 1999, 147 mit weit. Nachw.; KG, Beschluß vom 17. April 2002 - (3) 1 Ss 77/02 (42/02) -).

3. Der Beschwerdeführer muß auch gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde in den vorigen Stand wiedereingesetzt werden (siehe oben 1.); denn die öffentliche Zustellung des Widerrufsbeschlusses an ihn war unwirksam.

a) Grundsätzlich ist es möglich, auch einen Widerrufsbeschluß öffentlich zuzustellen (vgl. OLG Düsseldorf NStZ 2003, 167; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl., § 453c Rdn. 11 mit weit. Nachw.).

Ein Verurteilter handelt schuldhaft, wenn er die öffentliche Zustellung dadurch veranlaßt, daß er sich unauffindbar macht (vgl. BGHSt 26, 127; OLG Hamm JMBlNW 1973, 260), so daß er dann - nach wirksamer öffentlicher Zustellung - keine Wiedereinsetzung erhalten kann. Das gilt vor allem dann, wenn ihm auferlegt war, jeden Wohnungswechsel anzuzeigen (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2004, 46; OLG Düsseldorf NStZ 2003, 167; MDR 1992, 985), was auf den Beschwerdeführer allerdings nicht zutrifft. Diese Rechtsprechung, die der Senat teilt (vgl. Beschluß vom 22. November 2000 - 5 Ws 752/00 -), besagt aber nichts darüber, ob die öffentliche Zustellung wirksam war, sondern stellt nur fest, daß der Verurteilte sie verschuldet hat. Die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 StPO knüpfen indes nicht an das Verschulden des Betroffenen an, sondern stellen objektive Anforderungen an die Gerichte, bevor sie diese Zustellungsart anordnen dürfen.

b) Die öffentliche Zustellung bewirkt - anders als jede andere Zustellungsart - keine praktische Möglichkeit für den von ihr Betroffenen, von der Entscheidung tatsächlich Kenntnis zu nehmen, sondern nur eine Fiktion einer Bekanntgabe (vgl. Weßlau in SK-StPO, § 40 Rdn. 1). Die Vorschrift muß daher im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG eng ausgelegt werden (vgl. Weßlau aaO mit Nachw.). Sie ist nur als letztes Mittel zulässig, wenn alle Versuche gescheitert sind, den unbekannten Aufenthaltsort des Empfängers zu ermitteln. Hinsichtlich des Ausmaßes der Nachforschungen, die das Gericht vorzunehmen hat, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. Weßlau aaO Rdn. 12 mit Nachw.), weil andernfalls sowohl das Prozeßgrundrecht des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) als auch die vom Grundgesetz gewährleistete Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt werden (vgl. BVerfG NStZ-RR 2005, 206). Jeder sich bietende Anhaltspunkt für die Ermittlung des Aufenthalts muß genutzt werden, um das Schriftstück gemäß § 37 Abs. 1 StPO, §§ 166 ff. ZPO in einer Weise an den Betroffenen zuzustellen, die ihm die Gelegenheit zu seiner Kenntnisnahme verschafft. Diese Grundsätze gelten für jede öffentliche Zustellung, soweit sie nicht unter die Sondervorschriften der Absätze 2 und 3 des § 40 Abs. 3 StPO fallen, durch die der Gesetzgeber an die bereits einmal veranlaßte Ladung zur Hauptverhandlung eine Erleichterung geknüpft (Abs. 2) und dem Berufungsführer verfahrensspezifische Mitwirkungspflichten auferlegt (Abs. 3) hat. Letztere gelten indes nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht für einen unter Bewährung stehenden Verurteilten.

Gibt es Hinweise auf eine Zwangsräumung, so muß bei der Sozialbehörde nachgefragt werden (vgl. KG NStE Nr. 15 zu § 453). Besteht neben konkreten, individuellen Ermittlungsanhalten, denen ausnahmslos nachzugehen ist (vgl. BVerfG aaO), die allgemeine Vermutung, daß eine regelhafte Anfrage Erfolg verspricht, so ist auch diese durchzuführen. Im Bereich der Berliner Gerichte wird eine öffentliche Zustellung in einem Verfahren, in dem die zuzustellende Entscheidung einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff zur Folge haben kann, regelhaft Nachfragen bei dem Landesamt für Bürger und Ordnungsaufgaben (LABO), den Verfahrensregistern des Amtsgerichts Tiergarten, der Staatsanwaltschaft Berlin, der Amtsanwaltschaft Berlin und der Berliner Kriminalpolizei gebieten. Die Anfrage, ob noch offene Ermittlungsverfahren bei der Polizei vermerkt sind, wird regelmäßig - so auch im hiesigen Verfahren geschehen - von den Gerichten veranlaßt, bevor sie über einen Straferlaß entscheiden. Ist ein solches Ermittlungsverfahren anhängig, wird zu Recht mit dem Erlaß auf dessen Ausgang gewartet. Es bietet meistens auch einen Ermittlungsansatz für den Aufenthaltsort des Gesuchten. Fragen die Gerichte regelhaft mit Erfolg bei der Polizei an, wenn sich die Antwort zum Nachteil des Probanden auswirken kann, so sind sie erst recht verpflichtet, diese erfolgversprechende Anfragemöglichkeit für die Suche nach der Anschrift des Verurteilten zu nutzen. Geringere Anforderungen an die Erforschungspflicht können nur dann gebilligt werden, wenn die zuzustellende Entscheidung keine oder nur theoretische rechtliche Nachteile für den Empfänger mit sich bringt, wie etwa ein Beschluß über einen Straferlaß.

Ob auch bei allen Berliner Haftanstalten regelhaft angefragt werden muß, läßt der Senat hier offen, weil es für den zu entscheidenden Fall darauf nicht ankommt.

c) Gemessen an diesen Grundsätzen haben die Maßnahmen des Amtsgerichts, den Aufenthaltsort des Verurteilten zu erforschen, nicht ausgereicht. Am 3. August 2005, also noch vor der Anordnung der öffentlichen Zustellung, erfuhr die Polizei anläßlich einer vorläufigen Festnahme des Beschwerdeführers (in einem alsbald nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Verfahren) dessen Aufenthaltsort. Spätestens am 2. September 2005 wurde er der Amtsanwaltschaft Berlin bekannt. Am 13. Oktober 2005 erfuhr ihn das Amtsgericht Tiergarten in dem Verfahren 260 Ds 642/04, in dem es auch gelang, den Beschwerdeführer an seiner Aufenthaltsanschrift zur Hauptverhandlung zu laden. Hätte das Amtsgericht die erforderlichen Anfragen durchgeführt, so wäre ihm von der Polizei zunächst das dort anhängige Verfahren und nachfolgend die zutreffende Anschrift mitgeteilt worden.

4. Mit dem Erlaß dieses Beschlusses entfällt die Rechtskraft des Widerrufsbeschlusses. Folglich entfällt auch seine Vollstreckbarkeit. Der Senat hat die danach unumgängliche Entlassung des Beschwerdeführers aus der Strafhaft selbst angeordnet. Einer Abstimmung mit der Vollstreckungsbehörde nach Wegfall der Rechtskraft durch die Wiedereinsetzungsentscheidung (vgl. BVerfG NStZ 2005, 699; Mosbacher NJW 2005, 3110, 3111) zum Erlaß eines Sicherungshaftbefehls bedurfte es nicht, weil im hiesigen Verfahren - anders als den dort besprochenen Fällen - nie ein Sicherungshaftbefehl bestanden hat, der aktiv zum Wiederaufleben gebracht werden müßte.

5. Inhaltlich über die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Widerruf zu entscheiden, ist dem Senat verwehrt, weil er dafür nicht zuständig ist (§ 310 Abs. 2 StPO). Dies nachzuholen, obliegt im weiteren Verfahrensgang dem Landgericht Berlin im Beschwerderechtszug, nachdem der Senat dem Verurteilten die begehrte Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist gewährt hat.

Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der sofortigen Beschwerde auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 3 StPO und hinsichtlich der Wiedereinsetzung auf § 473 Abs. 7 StPO.

Ende der Entscheidung

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