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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 30.12.2008
Aktenzeichen: 1 AR 1831/08 - 2 Ws 642/08
Rechtsgebiete: StGB, EuAlÜbkREO, IRG


Vorschriften:

StGB § 56f
EuAlÜbkREO § 14
IRG § 11
IRG § 72
Der Senat hält an seiner Ansicht fest, daß das bisherige Fehlen einer Auslieferungsbewilligung für das Verfahren, in dem der Widerruf der Strafaussetzung beantragt ist, den Widerruf nicht verhindert, sondern erst der Vollstreckung entgegensteht.
KAMMERGERICHT Beschluß

Geschäftsnummer: 1 AR 1831/08 - 2 Ws 642/08

In der Strafsache

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge

hat der 2. (ehemals 5.) Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 30. Dezember 2008 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin vom 18. November 2008 wird aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen (§ 473 Abs. 1 StPO).

Das Beschwerdevorbringen gibt allein Anlaß, zur Frage der Spezialität (S. 4 des angefochtenen Beschlusses) Stellung zu nehmen. Der Senat hält an seiner Ansicht fest, daß das bisherige Fehlen einer Auslieferungsbewilligung für das hiesige Verfahren den Widerruf nicht verhindert (vgl. Senat, Beschluß vom 13. Juni 2006 - 5 Ws 225/06 -), sondern erst der Vollstreckung entgegensteht (vgl. KG, Beschluß vom 17. August 2000 - 3 Ws 386/00 -). Diese Auffassung entspricht nicht nur vollständig der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OLG Zweibrücken NStZ 1991, 497 = StV 1993, 37 mit abl. Anm. Lagodny; OLG Bamberg NStE Nr. 4 zu Art 14 EuAlÜbk; OLG Stuttgart NJW 1983, 1987); sondern sie hat auch im strafrechtlichen Schrifttum Zustimmung gefunden (vgl. Groß in Münchener Kommentar, StGB, § 56f Rdn. 39; Hubrach in Leipziger Kommentar, StGB 12. Aufl., § 56f Rdn. 2; Fischer, StGB 55. Aufl., § 56f Rdn. 9).

Die Gegenansicht (vgl. Lagodny StV 1993, 37; Schomburg/ Hackner in Schomburg/ Lagodny/ Gleß/ Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 4. Aufl., § 72 IRG Rdn. 18) überzeugt den Senat nicht. Der Spezialitätsgrundsatz schützt allein die Souveränität des ausliefernden Staates (vgl. Schomburg/ Hackner aaO Rdn. 11). Das Widerrufsverfahren steht strukturell in keiner kausalen Verbindung zur Auslieferung. Denn der Widerruf wegen neuerlicher Straffälligkeit ist bereits möglich, während sich der Verurteilte noch im Ausland aufhält, die in Art. 14 Abs. 1 EuAlÜbk beschriebene tatsächliche Lage also noch gar nicht besteht, mithin die Souveränität des Aufenthaltsstaates noch nicht berührt ist. Der vorherigen Auslieferung des Verurteilten - und damit der Mithilfe des ersuchten Staates - bedarf es zur Bewirkung des Widerrufs nach § 453 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht, weil keine mündliche Verhandlung stattfindet und gemäß Satz 2 der Vorschrift der Verurteilte sowie die Staatsanwaltschaft nur Gelegenheit zum rechtlichen Gehör haben müssen. Es wird in der Regel schriftlich gewährt; Satz 3 gilt nur für den Widerruf wegen Weisungs- oder Auflagenverstoßes, was Lagodny (StV 1993, 37, 38) und mit ihm die Beschwerde verkennen. Ferner ist weder eine Handlung oder Erlaubnis des ersuchten Staates erforderlich, und die unmittelbare Vollstreckungshandlung des Verurteilungsstaates wird nur vorbereitet. Daß im Streitfall mit der Widerrufsentscheidung zugewartet werden mußte, bis die Begehung der zum Widerruf führenden Straftat durch das erkennende deutsche Gericht festgestellt war (vgl. EGMR StV 2003, 82 mit Anm. Pauly) - und daher die vorherige Auslieferung für jenes Verfahren voraussetzte -, wurzelt in der Unschuldsvermutung und hat mit der in die Souveränität des Aufenthaltsstaates grundsätzlich nicht eingreifenden Struktur des Widerrufsverfahrens nichts zu tun. Den sachlich-rechtlichen Anlaß für den Widerruf bietet nicht die - erst durch die Auslieferung möglich gewordene - Verurteilung, sondern die von dem Probanden begangene neue Straftat (vgl. Senat NStZ 2005, 94; NStZ-RR 2001, 136).

Der Senat teilt auch nicht die Auffassung Lagodnys (aaO), daß das OLG Zweibrücken einer unzutreffenden Übersetzung "aufgesessen" sei. Der deutsche Text des Art. 14 Abs. 2 EuAlÜbk lautet (soweit hier von Interesse): "Der ersuchende Staat kann jedoch die Maßnahmen treffen, um ... nach seinen Rechtsvorschriften die Verjährung zu unterbrechen, sowie ein Abwesenheitsverfahren durchführen." Der englische Originaltext lautet: "The requesting party may, however, take ... any measures necessary under its law, including proceedings by default, to prevent any legal effects of lapse of time" (bedeutsame Abschnitte vom Senat unterstrichen). Wörtlich übersetzt, bedeutet das: "Die ersuchende Partei darf jedoch alle Maßnahmen ergreifen, die nach ihrem Gesetz notwendig sind, um jedweden rechtlichen Effekt des Zeitablaufs zu verhindern, einschließlich von Abwesenheitsverfahren." Lagodny ist insoweit Recht zu geben, als "einschließlich (including)" die Möglichkeit des Abwesenheitsverfahrens nicht, wie die deutsche Fassung des Art. 14 Abs. 2 EuAlÜbk nahelegt, zu jedwedem Zweck erlaubt, sondern nur zu demjenigen, den Effekt von "lapse of time" zu verhindern. "Lapse of time" bedeutet indes nicht nur "Verjährung", sondern ganz allgemein "Ablauf einer Frist" "Ablauf der Zeit", "Ablauf von Zeit", "Ablauf einer Zeitspanne". Darunter fällt auch das Widerrufsverfahren; denn der Widerruf ist nicht zeitlich unbegrenzt möglich (vgl. Senat NJW 2003, 2468 mit zahlr. weit. Nachw.). Würde schon vor der Entscheidung des Widerrufsgerichts - wie hier: nachdem lange Zeit nach der erfolgten Auslieferung die Widerrufsvoraussetzungen prozessual geschaffen worden sind - und nicht erst vor deren Vollstreckung ein weiteres Auslieferungsersuchen erforderlich sein, bestünde die Gefahr, daß dem Verurteilten ein Vertrauen erwächst, daß es nicht mehr zum Widerruf kommen werde. Auf das Erfordernis der Zügigkeit hat bereits der 3. Strafsenat des Kammergerichts in seinem - den Vollstreckungshaftbefehl nach § 457 Abs. 2 StPO betreffenden Beschluß vom 17. August 2000 - 3 Ws 386/00 - (Verfassungsbeschwerde nicht angenommen - 2 BvR 1668/00 -) hingewiesen und ausgeführt: "Erfahrungsgemäß ist dieser Weg jedoch langwierig und verspricht wenig Aussicht auf Erfolg, da viele ausländische Staaten - wenn die Auslieferung einmal vollzogen ist - entsprechende Ersuchen, wenn überhaupt, nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung beantworten".

Ende der Entscheidung

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