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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 25.04.2005
Aktenzeichen: 1 AR 460/05 - 5 Ws 202/05
Rechtsgebiete: StPO, StGB, StrVollstrO


Vorschriften:

StPO § 33a
StPO § 33a Satz 1
StPO § 310 Abs. 1
StPO § 453 Abs. 1 Satz 3
StGB § 56f
StrVollstrO § 29 Abs. 3 Nr. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
1 AR 460/05 - 5 Ws 202/05

In der Strafsache

wegen Hehlerei

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 25. April 2005 beschlossen:

Tenor:

Die weitere Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin vom 15. März 2005 wird als unzulässig verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin wird angewiesen, unverzüglich das Nachverfahren nach § 33a Satz 1 StPO durchzuführen. Gründe:

Das Landgericht Berlin verurteilte den Beschwerdeführer am 7. Juni 2002 im Berufungsrechtszug wegen Hehlerei in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung. Es bestimmte die Bewährungszeit auf die Dauer von vier Jahren und unterstellte den Beschwerdeführer der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers. Das Urteil ist seit dem 15. Juni 2002 rechtskräftig.

Mit Beschluß vom 7. Juni 2004 widerrief das Amtsgericht Tiergarten die Strafaussetzung, weil der Beschwerdeführer in der Bewährungszeit den Kontakt zum Bewährungshelfer nicht hielt, seit dem 30. April 2003 unbekannten Aufenthalts und beim Landeseinwohneramt nicht gemeldet war und in anderen Verfahren per Vollstreckungshaftbefehl gesucht wurde. Wegen des unbekannten Aufenthalts des Verurteilten erging der Beschluß ohne vorherige Anhörung nach § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO, und das Amtsgericht ordnete dessen Bekanntmachung durch öffentliche Zustellung (§ 40 StPO) an. Während diese Verfügung seit dem 16. September 2004 in der Kanzlei bearbeitet wurde, ging am 17. September 2004 eine neue Anklageschrift vom 9. Juli 2004 gegen den Verurteilten ein, in der als Wohnanschrift "L...straße 16 bei S. ..., ... Berlin" angegeben war (Bl. 257-260 d. A.). Die Anordnung der öffentlichen Zustellung wurde gleichwohl ausgeführt. Das Schriftstück war vom 8. bis zum 26. Oktober 2004 an die Gerichtstafel geheftet.

Am 11. Januar 2005 kam der Verurteilte in Haft. Seitdem verbüßt er mehrere Freiheitsstrafen. Die Vollstreckung der vorbezeichneten Strafe ist für den 27. April 2005 bis zum 26. Januar 2006 vorgemerkt. Mit dem angefochtenen Beschluß vom 15. März 2005 hat das Landgericht die am 10. Februar 2005 eingegangene sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Widerruf als verspätet verworfen. Seine weitere Beschwerde ist unzulässig. Dem Beschwerdeführer ist aber unverzüglich vor dem Amtsgericht in einem Nachverfahren rechtliches Gehör zu gewähren (§ 33a Satz 1 StPO).

1. Die sofortige Beschwerde ist nicht statthaft. Beschlüsse des Landgerichts, die auf die Beschwerde hin erlassen worden sind, können ihrerseits nicht angefochten werden (§ 310 Abs. 2 StPO). Eine Ausnahme besteht nach § 310 Abs. 1 StPO nur insoweit, als sie die Verhaftung oder die einstweilige Unterbringung betreffen. Das ist nur dann der Fall, wenn sie unmittelbar Bestand oder Vollzug eines Haftbefehls oder Unterbringungsbefehls in einem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren berühren (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 15; KG NJW 1979, 2626; Beschluß vom 22. September 2000 - 5 Ws 666/00 -; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl., § 310 Rdn. 7); für die Entscheidung nach § 56f StGB gilt diese eng auszulegende Ausnahmevorschrift nicht (vgl. BGHSt 25, 120; Meyer-Goßner, § 310 Rdnrn. 5, 7).

2. Das Amtsgericht hat den Beschwerdeführer aber im Nachverfahren nach § 33a Satz 1 StPO zu hören. § 33a StPO gewährt das Recht auf nachträgliches rechtliches Gehör nicht nur dann, wenn kein Rechtsmittel statthaft ist, sondern in entsprechender Anwendung auch dann, wenn der Verurteilte die Frist zur Einlegung des an sich möglichen Rechtsmittels versäumt hat und Tatsachen vortragen will, zu denen er bisher nicht gehört werden konnte; denn anders läßt sich das von Art. 103 Abs. 1 GG geschützte Recht auf rechtliches Gehör nicht ungeschmälert verwirklichen (vgl. BGHSt 26, 127 = NJW 1975, 2211; Maul in KK, StPO 5. Aufl., § 33a Rdn. 6; Fischer in KK, § 453 StPO Rdn. 8; Meyer-Goßner, § 33a Rdn. 4; Hanack JR 1974, 113). Das gilt sowohl nach einer wirksamen öffentlichen Zustellung (vgl. Senat, Beschluß vom 23. Dezember 1980 - 5 Ws 323/80 - mit Nachw.) als auch nach einer Zustellung, von deren Inhalt der Empfänger aus anderen schuldhaft verursachten Gründen keine Kenntnis hatte. Denn die Interessenlage im Hinblick auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs ist dieselbe (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. März 2001 - 5 Ws 134/01 - Juris -; 6. April 2000 - 5 Ws 251/00 -; 25. November 1999 - 5 Ws 695/99 - und 26. Oktober 1999 - 5 Ws 546/99 -). Die entsprechende Anwendung rechtfertigt sich im Falle des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung damit, daß es angesichts der schweren Konsequenzen, die ein Widerruf nach sich zieht, problematisch wäre, einem Verurteilten keine Möglichkeit zum nachträglichen Gehör zu geben, obwohl die Rechtskraft möglicherweise nur aufgrund einer geringen Nachlässigkeit des Verurteilten eingetreten ist (vgl. Maul aaO). Auf die Möglichkeit des Nachverfahrens hätte der Verurteilte bei der Aufnahme in die Justizvollzugsanstalt Moabit gemäß § 29 Abs. 3 Nr. 2 StrVollstrO hingewiesen werden müssen (vgl. Fischer aaO).

Die durch Art. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügengesetz) vom 9. Dezember 2004 (BGBl. I, S. 3220) mit Wirkung vom 1. Januar 2005 in Kraft getretene Neufassung des § 33a StPO beseitigt nicht die Grundlagen dieser Rechtsprechung. Zwar betont der Wortlaut der Vorschrift nunmehr stärker als zuvor, daß das Gericht den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör "verletzt" haben muß, was nahelegt, daß das Gehör nur nachgeholt werden soll, wenn dem Gericht ein Vorwurf gemacht werden kann. Nach der bisherigen Fassung genügte es, daß das Gericht "zum Nachteil eines Beteiligten Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hatte, zu denen er noch nicht gehört worden war"; der Grund für diese Unterlassung war dem Wortlaut zufolge gleichgültig.

Der Gesetzgeber wollte mit der Neufassung jedoch den Anwendungsbereich der Vorschrift auf keinen Fall einschränken, sondern als Folge des Plenumsbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02 - (BVerfGE 107, 395 = NJW 2003, 1924) die Sicherung des rechtlichen Gehörs in einer vom Bundesverfassungsgericht angemahnten institutionalisierten Form von diesem Gericht weg auf die Instanzgerichte verlagern (vgl. Gehb DRiZ 2005, 121). Mit diesem Zweck unvereinbar wäre es, die bisherige Rechtsprechung, die der umfassenden und wirksamen Durchsetzung des Rechts auf rechtliches Gehör dient, als mit dem neuen Wortlaut unvereinbar zu betrachten und aufzugeben.

Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß das Amtsgericht das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör tatsächlich nicht in der gebotenen Weise gesichert hat. Denn es hat den im September 2004 eingegangenen Hinweis auf eine neue Anschrift nicht zum Anlaß genommen, die Entscheidung, den Widerrufsbeschluß öffentlich zuzustellen, und auch den Beschluß selbst zu überprüfen. Dazu war es berechtigt und verpflichtet. Denn der Beschluß war noch nicht mit Außenwirkung erlassen und somit noch der Änderung zugänglich. Seine Entscheidung nicht mehr ändern darf das Gericht erst dann, wenn die Geschäftsstelle sie an eine Person außerhalb des Gerichts bekanntgegeben hat (vgl. KG NZV 1992, 123, 124; Senat, Beschluß vom 19. Dezember 1995 - 5 Ws 463-465/95 Vollz - mit weit. Nachw.). Das war aber erst am 6. Oktober 2004 der Fall, als der Widerrufsbeschluß an der Gerichtstafel angebracht wurde.

Im Nachverfahren dürfte das Amtsgericht es zuungunsten des Verurteilten berücksichtigten, wenn er während der Bewährungszeit eine neue Straftat begangen haben sollte. Denn der Widerrufsgrund darf ausgewechselt werden (vgl. OLG Düsseldorf MDR 1983, 68). Einen Grund für diese Annahme bietet die Anklageschrift vom 9. Juli 2004 - 155 PLs 4473/03 - (Bl. 260 f. d.A.) Das setzt aber voraus, daß er wegen dieser Tat im Schuldspruch verurteilt worden ist oder sie glaubhaft gestanden hat (vgl. EGMR StraFO 2003, 47).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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