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Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 11.05.2005
Aktenzeichen: 1 AR 558/05 - 3 Ws 222/05
Rechtsgebiete: StPO, JGG


Vorschriften:

StPO § 154 Abs. 2
JGG § 72 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Geschäftsnummer: 1 AR 558/05 - 3 Ws 222/05

In der Strafsache gegen O. u. a.,

hier nur gegen

wegen versuchten Totschlags u. a.

hat der 3. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 11. Mai 2005 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluß des Landgerichts Berlin vom 18. April 2005 wird verworfen.

Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen.

Gründe:

Das Landgericht Berlin hat den Angeklagten am 18. April 2005 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie wegen versuchter räuberischer Erpressung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in drei Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine zweijährige Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis angeordnet. Über seine Revision muß noch entschieden werden. Mit dem Urteil hat das Landgericht den Beschluß verkündet, daß die Untersuchungshaft, die aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 20. Oktober 2004 - 352 Gs 4057/04 - wegen Fluchtgefahr seit diesem Tage an dem Angeklagten vollzogen wird, mit der Maßgabe fortdauert, daß er der im Tenor des Urteils bezeichneten Taten überführt ist. Die Beschwerde des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.

Die Voraussetzungen für die angeordnete Haftfortdauer liegen vor.

1. Das Vorliegen des dringenden Tatverdachts (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) nach Maßgabe des Urteilsspruchs steht außer Frage; denn dieser ist das Ergebnis der Überzeugung, die das Landgericht aus der Hauptverhandlung gewonnen hat. Der sachliche Gehalt der Vorwürfe ergibt sich, solange die schriftlichen Urteilsgründe nicht vorliegen, aus der Anklageschrift in Verbindung mit dem Beschluß des Landgerichts vom 14. April 2005 über die einzelne Vorwürfe betreffende vorläufige Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO.

2. Es besteht weiterhin Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Das bemißt sich, da der Beschwerdeführer inzwischen sechzehn Jahre alt ist, nach dem allgemeinen Maßstab unter Berücksichtigung aller Umstände und nicht nach der restriktiven Regelung in § 72 Abs. 2 JGG für Jugendliche, die das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, was noch bei Ergehen des Haftbefehls auf den Beschwerdeführer zutraf. Denn da aufgrund der Vollendung des sechzehnten Lebensjahres jetzt die Anordnung der Untersuchungshaft ohne die Einschränkung des § 72 Abs. 2 JGG möglich wäre, kann auch für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nichts anderes gelten (vgl. Kammergericht, Beschluß vom 16. September 2003 - 5 Ws 487/03 - ).

Die Fluchtgefahr ergibt sich aus dem starken Fluchtanreiz, der von der hohen Straferwartung ausgeht, die der Beschwerdeführer vor Augen hat. Da er damit rechnen muß, daß seine Revision keinen Erfolg hat, steht für ihn in Aussicht, daß es bei der Jugendstrafe in der erkannten Höhe verbleiben wird und demnach, wenn auch die nahezu sieben Monate bereits erlittener Untersuchungshaft anzurechnen sind, immer noch weit mehr als zwei Jahre Jugendstrafe zur Vollstreckung anstehen. Der Beschwerdeführer kann auch nicht etwa sicher sein, daß ihm die Verbüßung eines erheblichen Teils davon durch Strafrestaussetzung zur Bewährung (§ 88 JGG) erspart bleiben wird. In Betracht kommt nicht mehr als allenfalls eine vage Hoffnung darauf. Denn wenn auch bei erstmaligem Erfahren des Jugendvollzugs, so wie hier, im allgemeinen angenommen werden kann, daß dieser seinen Eindruck nicht verfehlt und der Begehung neuer Straftaten entgegenwirkt, verhält es sich doch nicht so, daß allein die Tatsache der Erstverbüßung zwangsläufig zu einer Vollstreckungsverkürzung mit Reststrafenaussetzung zur Bewährung führt. Es kommt auf das im Vollzug vermittelte Persönlichkeitsbild im einzelnen dafür an, ob im Hinblick auf die Entwicklung des Jugendlichen, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, die Reststrafenaussetzung zur Bewährung verantwortet werden kann. Dabei wird gerade dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit im Falle des Angeklagten besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sein. Er kommt dafür in Betracht, als für jedermann gefährlicher, unberechenbarer Gewalttäter eingeschätzt zu werden. Denn er steht aufgrund des Urteils des Landgerichts insbesondere in dem dringenden Verdacht, eine belanglose Auseinandersetzung mit einem ihm bis dahin unbekannten Fußgänger zum Anlaß genommen zu haben, diesen unter Inkaufnahme seiner Tötung gezielt mit einem Pkw angefahren zu haben. Gegenstand der Verurteilung ist auch, daß er bei anderer Gelegenheit einen Passanten an der Oberbekleidung angepackt und ihm die Herausgabe eines Mobiltelefons abverlangt haben soll.

Die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten sind nach dem aus den Akten darüber zu gewinnenden Bild nicht geeignet, der Fluchtgefahr ins Gewicht fallend entgegenzuwirken. Insofern kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen (§ 116 Abs. 1 StPO) als deren Vollzug erreicht werden.

Die Eltern des Angeklagten leben getrennt. Er lebt bei der Mutter. Der Vater ist im Zusammenhang mit dem Vorwurf eines Tötungsdelikts im August 2004 in Untersuchungshaft geraten. Die Mutter leidet seit 1994/95 an einer Nervenkrankheit und ist ersichtlich nicht in der Lage, erzieherisch auf den Angeklagten einzuwirken. Sie hat es nicht vermocht, den Angeklagten zu regelmäßigem Schulbesuch anzuhalten. Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, daß für den durch den Verteidiger in der Beschwerdeschrift bekundeten Willen des Angeklagten, die Schule nunmehr regelmäßig zu besuchen, den auch die Mutter unterstützen soll, eine Aussicht auf Verwirklichung besteht. Denn es ist nichts dafür zu ersehen, daß sich an den Verhältnissen, vor deren Hintergrund es zu den den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildenden schweren Straftaten gekommen sein soll, tiefgreifend etwas geändert hat. Allein der den Angeklagten mitbetreffende Wohnortwechsel innerhalb Berlins aufgrund des Umzugs der Mutter gibt nichts Greifbares für die Annahme einer Verbesserung der Situation her.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft steht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis (§§ 112 Abs. 1 Satz 2, 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Vom zeitlichen Umfang her läßt sich nichts Durchgreifendes einwenden. Dafür daß das Gebot besonders beschleunigter Verfahrensdurchführung verletzt worden ist, das eingreift, wenn ein Jugendlicher sich in Untersuchungshaft befindet (§ 72 Abs. 5 JGG), und das über das ohnehin in Haftsachen geltende allgemeine Beschleunigungsprinzip noch hinausgeht, ist hier weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich. Das Verfahren ist denn auch, gerade in Anbetracht der Tatsache, daß ein Unfallanalysegutachten und ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten über den Reifegrad sowie die Schuldfähigkeit des Angeklagten einzuholen waren, überaus zügig durchgeführt worden. Ebensowenig ist die Anordnung von Untersuchungshaft, auch unter Berücksichtigung der besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche, vom Gewicht des Eingriffs her unverhältnismäßig (§ 72 Abs. 1 JGG). Angesichts der Schwere der Fehlentwicklung des Angeklagten, die sich an dem vorliegenden Tatverdacht abzeichnet, spricht nichts dafür, daß andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe, ausreichen (§ 72 Abs. 1 Satz 3 JGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 74 JGG.

Ende der Entscheidung

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