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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 08.07.2004
Aktenzeichen: 1 AR 615/04 - 5 Ws 321/04
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 153
StPO § 153 Abs. 2
StPO § 153a
StPO § 154 Abs. 2
StPO § 467 Abs. 1
StPO § 473 Abs. 3
StGB § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Beschluß

1 AR 615/04 - 5 Ws 321/04

In der Strafsache

wegen Geldfälschung u. a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 08. Juli 2004 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 14. Mai 2004 aufgehoben.

Der Antrag der Staatsanwaltschaft, die mit dem Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 04. Oktober 1999 bewilligte Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zu widerrufen, wird zurückgewiesen.

Der nicht vollstreckte Rest der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 14. Januar 1997 wird erlassen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer im Rechtsmittelzug entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

Das Landgericht Berlin hat den Beschwerdeführer am 14. Januar 1997, rechtskräftig seit dem 28. Januar 1997, wegen Geldfälschung in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Den bis zum 08. Oktober 1999 nicht verbüßten Strafrest von 821 Tagen hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluß vom 04. Oktober 1999, rechtskräftig seit dem 13. Oktober 1999, zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit auf drei Jahre bestimmt, den Beschwerdeführer der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt und ihn angewiesen, jeden Wohnsitzwechsel dem Bewährungshelfer unverzüglich anzuzeigen. Die Unterstellung hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluß vom 27. Mai 2002 aufgehoben.

Weil der Beschwerdeführer (angeblich) am 17. Januar 2002 fahrlässig ein nicht haftpflichtversichertes Kraftfahrzeug geführt hat, hat ihn das Amtsgericht Tiergarten in Berlin - 304a Cs 443/02 - durch den Strafbefehl vom 12. September 2002, rechtskräftig seit dem 06. November 2002, zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 Euro verurteilt.

Am 03. August 2002 hat der Beschwerdeführer sich einer Beleidigung schuldig gemacht und ist deshalb durch dasselbe Gericht - 250 Ds 902/02 - am 05. November 2003, rechtskräftig seit dem 13. November 2003, zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30,00 Euro verurteilt worden.

Die Staatsanwaltschaft Berlin - 68 Js 132/00 - hat ihm mit der Anklageschrift vom 28. November 2000 vorgeworfen, ohne Erlaubnis eine halbautomatische Selbstladewaffe (Länge unter 60 Zentimeter) besessen, tateinheitlich gewerbsmäßig eine Schußwaffe und Munition vertrieben und verbotene Hohlspitzgeschosse besessen und vertrieben zu haben. Nach mehrtägiger Hauptverhandlung hat das Landgericht das Verfahren betreffend den Beschwerdeführer mit Beschluß vom 06. März 2001 nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.

Aufgrund der beiden den Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten in Verbindung mit dem durch die Einstellung nicht ausgeräumten "hinreichenden" Tatverdacht der Straftaten nach dem Waffengesetz sah die Strafvollstreckungskammer "in der Gesamtschau" ein strafrechtlich relevantes Verhalten des Beschwerdeführers in der Bewährungzeit und widerrief deshalb die Reststrafenaussetzung (§§ 57 Abs. 3, 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB). Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO) des Verurteilten hat Erfolg.

1. Die Voraussetzungen des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB liegen nicht vor. Diese Vorschrift verlangt zunächst, daß der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue Straftat begangen hat und weiterhin, daß er dadurch die der Strafaussetzung zugrunde liegende Erwartung - er werde künftig keine Straftaten mehr begehen - widerlegt hat.

2. Maßgebend für die Erfüllung der ersten formellen Voraussetzung ist sonach die Begehung einer neuen Tat, nicht notwendig indes ihre (rechtskräftige) Aburteilung. Jedenfalls muß die. schuldhafte (vgl. KG StV 1988, 26) Begehung der Tat zur Überzeugung des Widerrufsgerichts feststehen (vgl. BVerfG NStZ 1987, 118). Ihre Berücksichtigung als Widerrufsgrund hindert es folglich nicht, daß sie noch nicht rechtskräftig abgeurteilt ist, sofern sich das Widerrufsgericht die Überzeugung von der Schuld des Täters verschafft hat (vgl. BVerfG aaO. und StV 1996, 163; EGMR StV 2003, 82 mit Anmerkung Pauly = StraFo 2003, 49 = NJW 2004, 43 und StV 1992, 282; OLG Jena NStZ-RR 2003, 316; HansOLG NStZ 1992, 130; KG NStZ-RR 2001, 136, 137 und StV 1988, 26; Gribbohm in LK, StGB 11. Aufl., § 56f Rdn. 9; Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl., § 56f Rdnrn. 4 - 7 m. weit. Nachw. auch zur Gegenmeinung). Diese Überzeugung kann das Gericht sich zwar nicht durch die eigene Vernehmung von Zeugen, wohl aber etwa aufgrund eines glaubhaften Geständnisses verschaffen (vgl. EGMR StV 2003, 82, 85; OLG Jena aaO.; OLG Hamburg NStZ 1992, 130; OLG Düsseldorf NStZ 1992, 131; mit Einschränkungen OLG Schleswig NJW 1992, 2646; Gribbohm in LK, § 56f StGB Rdn. 8; Tröndle/Fischer, § 56f StGB Rdn. 7).

Bei rechtskräftiger Aburteilung der neuen Tat ist zu unterscheiden, ob dies durch das Urteil eines erkennenden Gerichts nach einer Hauptverhandlung oder durch Strafbefehl geschehen ist (vgl. KG NStZ-RR 2001, 136, 137). Im Fall eines rechtskräftigen Urteils verschafft dieses regelmäßig die ausreichende Gewißheit von der Begehung der neuen Tat, und eine Abweichung ist nur bei anderweitig feststehender Unschuld des Verurteilten denkbar (vgl. KG aaO.; Gribbohm in LK, § 56f StGB Rdn. 11). Bei einem Strafbefehl sind dagegen die Unsicherheiten des summarischen Verfahrens in Rechnung zu stellen. Die durch ihn abgeurteilte Straftat ist als Widerrufsgrund ungeeignet, wenn der Strafbefehl nur aufgrund eines Tatverdachts ergangen ist und - kumulativ - ohne anerkennende Willensentschließung des Verurteilten nur aufgrund prozessualer Versäumnisse Rechtskraft erlangt hat (KG aaO.; ähnlich OLG Zweibrücken StV 1991, 270).

3. An diesen Grundsätzen gemessen ergibt sich hinsichtlich der von der Strafvollstreckungskammer als Widerrufsgrund erachteten neuen Taten folgendes:

a) Die Begehung der in dem Urteil vom 05. November 2003 festgestellten Beleidigung begegnet danach keinen Bedenken.

b) Anders verhält es sich hinsichtlich des Strafbefehls vom 12. September 2002. Der Tatvorwurf des fahrlässigen Führens eines nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeuges beruht ersichtlich nur auf einen Verdacht. Nach dem Inhalt der Strafanzeige steht zwar fest, daß der Beschwerdeführer den objektiven Tatbestand dieses Deliktes verwirklicht hat. Seine dort wiedergegebene Äußerung, er habe "das" - die fehlende Haftpflichtversicherung - "nicht gewußt", stünde der fahrlässigen Begehungsweise nicht entgegen, wenn ihm diese Unkenntnis vorzuwerfen wäre. Zweifel daran ergeben sich schon aus dem weiteren. Inhalt der Strafanzeige, wonach die Ehefrau des Beschwerdeführers und Halterin des von ihm gefahrenen Wagens, die sich mit einem anderen Fahrzeug am Feststellungsort befand, den überprüfenden Beamten zu diesem Fahrzeug eine Versicherungsdoppelkarte vorlegte, die allerdings nur bis zum 10. Januar 2002 gültig war. Legt schon dies nahe, daß ein Tatvorwurf (Fahrenlassen mit einem nicht haftpflichtversicherten Kraftfahrzeug) eher gegen die Halterin zu richten war, findet dies seine Bestätigung durch das plausible und glaubhafte Beschwerdevorbringen. Danach erledigte die Ehefrau des Beschwerdeführers, weil er selbst des Lesens und Schreibens unkundig ist, sämtliche schriftlichen Arbeiten, so auch Versicherungsangelegenheiten, und der Beschwerdeführer konnte und hat sich bisher immer auf deren ordnungsgemäße Bearbeitung verlassen und nicht damit gerechnet, mit der Versicherung des von ihm geführten Wagens könnte etwas nicht stimmen. Ein dem Beschwerdeführer übersandter Anhörungsbogen ist nicht zur Akte zurückgelangt. Danach liegt es nahe, daß der Beschwerdeführer - wie die Beschwerde nachvollziehbar vorträgt - sich gegen den ihm zugestellten Strafbefehl deshalb nicht gewehrt hat, weil, ein Tatvorwurf, wenn auch nicht gegen ihn, so doch gegen seine Ehefrau berechtigt gewesen wäre. Damit ist die Voraussetzung prozessualer Versäumnisse zwar nicht in der üblichen Weise feststellbar; eine den Tatvorwurf anerkennende Willensentschließung kann darin aber nicht gesehen werden. Das Unterlassen des Einspruches läßt sich keineswegs als Schuldeingeständnis deuten; denn dafür, kann es - wie etwa hier - die verschiedensten Gründe geben (vgl. Stree NStZ 1992, 153, 157). Aufgrund dieser Besonderheiten des Einzelfalles vermag der Senat jedenfalls nicht festzustellen, daß der Beschwerdeführer die Tat begangen hat, deretwegen er durch den Strafbefehl verurteilt worden ist.

c) Entsprechendes gilt für die Tatvorwürfe in der Anklageschrift vom 28. November 2000. Die Tatsache, daß eine Anklage vorliegt, läßt einen Widerruf ohnehin nicht zu (vgl. BVerfG StV 1996, 163, 164). Die Einstellung eines Verfahrens nach den §§ 153, 153a StPO steht der Überzeugungsbildung des Widerrufsgerichts von der Begehung der zugrunde liegenden Straftat nicht stets entgegen (vgl. für § 154 Abs. 2 StPO: KG, Beschluß vom 15. September 1999 - 5 Ws 131/99 -); Stree in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl., § 56f Rdn. 3a; Tröndle/Fischer, § 56f StGB Rdn. 7). Jedoch ist der Einstellung nach dieser Vorschrift weder zu entnehmen, daß die zugrunde liegende Straftat begangen wurde, noch reicht die Zustimmung eines Angeklagten zur Einstellung als Beweis dafür aus (vgl. BVerfG aaO.; OLG Karlsruhe MDR 1993, 780).

Ein Geständnis oder ein naturwissenschaftlich-kriminalistisch sicherer Schuldnachweis (vgl. Gribbohm in LK, § 56 StGB Rdn. 11; Stree, NStZ 1992, 153, 156 ff.) welche die Überzeugung des Widerrufsgerichts von der Begehung der Waffendelikte begründen könnten, fehlen. Gegen den Beschwerdeführer besteht allenfalls der Verdacht, die angeklagten Delikte begangen zu haben. Er hat dies im Ermittlungsverfahren bestritten und sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache eingelassen. Objektive Beweismittel, die den Tatvorwurf bestätigen könnten, wurden nicht gefunden. Der Zeuge A der - als Informant der Polizei - den Beschwerdeführer ohnehin nicht unmittelbar bezüglich des Tatvorwurfes belastet hatte, ist mit Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin - 233 Cs 853/00 - vom 31. Juli 2000 rechtskräftig im Wege der Wahlfeststellung wegen falscher Verdächtigung oder uneidlicher Falschaussage verurteilt worden. Die einzig konkrete Belastung des Beschwerdeführers beruht auf den Angaben des wohl zunächst als Vertrauensperson der Polizei geheim gehaltenen und späteren Mitbeschuldigten F der wegen Vergehens wegen des Waffengesetzes und das Ausländergesetz am 13. März 2003 rechtkräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde und dessen Angaben nicht ohne weiteres verläßlich sind.

Den Urteilen gegen die ursprünglich Mitbeschuldigten M D und F lassen sich keine Feststellungen entnehmen, die eine Täterschaft auch des Beschwerdeführers belegen könnten. Widerrufsgrund kann der Anklagevorwurf deshalb nicht sein. Die Auffassung der Strafvollstreckungskammer, der hinreichende Tatverdacht werde durch die Einstellung des Verfahrens nicht beseitigt, mag zutreffen; rechtsfehlerhaft ist es jedoch, daß sie diesen Umstand in die "Gesamtschau" einbezogen und - nur dadurch - zu der Feststellung gelangt ist, ein "strafrechtlich relevantes Verhalten des Verurteilten während der Bewährungszeit" sei gegeben. Der Senat vermag ein solches nicht festzustellen.

4. Als Widerrufsgrund verbleibt sonach nur die Beleidigung. Daß dieses Delikt mit den früher abgeurteilten weder nach Art und Schwere noch sonst kriminologisch vergleichbar ist, steht dem Widerruf grundsätzlich nicht entgegen (vgl. KG, Beschluß vom 20. Februar 2002 - 5 Ws 110/02 -). Dasselbe gilt für eine Verurteilung nur zu einer Geldstrafe. Denn jede Tat ist geeignet, den Widerruf zu begründen, wenn sie von einigem Gewicht ist (vgl. OLG Koblenz VRS 48, 263, 265; KG BA 2001, 60 und Beschluß vom 21. Mai 2003 - 5 Ws 177/03 -; Tröndle/Fischer, § 56f StGB Rdnrn. 8, 8a m. weit. Nachw.). Für den Widerruf reichen dagegen Bagatell- und Gelegenheitstaten, sofern sie nicht aufgrund ihrer Anzahl Erheblichkeit erlangen, häufig nicht aus, weil sie nicht ohne weiteres belegen, daß der Verurteilte durch sie die mit der Strafaussetzung verbundene Erwartung künftiger Straffreiheit widerlegt hat (vgl. Tröndle/ Fischer, § 56f StGB Rdn. 8a m. weit. Nachw.). So liegt es hier.

Die Beleidigung, ohnehin ein Delikt im unteren Bereich strafbaren Handelns, ist nach den Umständen ihrer Begehung als wenig erhebliche Gelegenheitstat zu werten, die nicht den Schluß zuläßt, der Beschwerdeführer habe sich die Verurteilung, die teilweise Strafvollstreckung und die Reststrafenaussetzung nicht zur Warnung dienen lassen und die keine ungünstige Legalprognose begründet. Der Beschwerdeführer, zur Tatzeit angetrunken, hat die - wenn auch üble - Beleidigung auf seiner Geburtstagsfeier und aus Verärgerung darüber begangen, daß diese, durch das Eingreifen der Polizei gestört wurde. Die Beamten suchten in dem Lokal nach Frauen und Kindern, die angeblich nach Tätlichkeiten, außerhalb der Gaststätte in diese und "sodann aus ihr geflüchtet waren. Vorangegangen war auch ein tätliches Eingreifen seines Sohnes, als der Beschwerdeführer, der sich verbal erbost und aggressiv gezeigt hatte, von der Polizei aus dem Lokal geführt werden sollte. Ein Widerruf der Strafaussetzung einer Reststrafe von 821 Tagen wegen Geldfälschung und Fahrens ohne Fahrerlaubnis läßt sich mit diesem Fehlverhalten nicht begründen.

5. In Übereinstimmung mit den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft Berlin war der angefochtene Beschluß daher aufzuheben und zugleich (gemäß § 309 Abs. 2 StPO) die Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil vom 14. Januar 1997 zu erlassen, weil ein weiterer Widerrufsgrund, insbesondere eine neue Straftat in der Bewährungszeit, nicht erkennbar ist.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung, der §§ 467 Abs. 1 i. V. m. 473 Abs. 3 StPO.

Ende der Entscheidung

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