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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 14.09.2005
Aktenzeichen: 1 AR 951/05 - 5 Ws 399/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2 Satz 1
Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist Im Vollstreckungsverfahren besteht aber in weitaus geringerem Maße als im Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach einer Mitwirkung eines Verteidigers.
1 AR 951/05 - 5 Ws 399/05

In der Strafsache gegen

wegen schweren Raubes u.a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 14. September 2005 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin - Strafvollstreckungskammer - vom 27. Juni 2005 aufgehoben. Dem Verurteilten wird für das Widerrufsverfahren Rechtsanwalt Dr. H... als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:

I.

1. Das Landgericht Berlin verurteilte den Beschwerdeführer am 30. März 1992 wegen schweren Raubes, Diebstahls in elf Fällen und unerlaubten Waffen- und Munitionsbesitzes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und neun Monaten. Durch Beschluß der Strafvollstreckungskammer vom 25. September 2000 ist die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe ab dem 29. September 2000 zur Bewährung ausgesetzt worden. Am 4. Juli 2001 verlängerte die Kammer die Bewährungszeit um ein Jahr auf vier Jahre, da der Verurteilte am 10. Oktober 2000 erneut straffällig geworden war und ihn das Amtsgericht Tiergarten in Berlin daraufhin wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt hatte. Mit Beschluß vom 23. Januar 2003 widerrief die Strafvollstreckungskammer die Strafaussetzung mit der Begründung, der Verurteilte habe sich beharrlich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzogen. Der Widerrufsbeschluß wurde dem Verurteilten öffentlich zugestellt. Er wurde am 28. Februar 2003 rechtskräftig. Am 10. November 2003 wurde der Verurteilte bei einem Ladendiebstahl in Oldenburg festgenommen.

Wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels gegen den o.g. Widerrufsbeschluß beantragte der Verurteilte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, legte sofortige Beschwerde gegen diesen ein und beantragte gleichzeitig die Vollstreckung der Strafe gemäß § 47 Abs. 2 StPO zu unterbrechen. Der Senat lehnte mit Beschluß vom 3. Dezember 2003 - 5 Ws 611/03 - die Wiedereinsetzung und den Unterbrechungsantrag ab, ordnete jedoch gleichzeitig an, daß dem Verurteilten rechtliches Gehör im Wege des Nachverfahrens gemäß § 33a StPO zu gewähren sei.

Die Strafvollstreckungskammer hob daraufhin den Widerrufsbeschluß auf und lehnte den Antrag der Staatsanwaltschaft, die Strafaussetzung zu widerrufen, ab. Der Beschluß wurde sogleich rechtskräftig. Am 23. Januar 2004 wurde der Verurteilte aus der Haft entlassen.

2. Am 18. Mai 2005 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, da der Verurteilte am 10. November 2003 erneut straffällig geworden war und das Landgericht Oldenburg - (12 Ns) 328 Js 61860/03 (372/04) - im zweiten Rechtszug ihn am 4. März 2005 deswegen zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt hatte. Am 27. Mai 2005 beantragte der Verteidiger des Verurteilten, ihn als Pflichtverteidiger für das Widerrufsverfahren beizuordnen. Mit Beschluß vom 27. Juni 2005 lehnte die Strafvollstreckungskammer den Antrag ab. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit Beschwerde vom 13. Juli 2005. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

II.

Die Voraussetzungen der Beiordnung eines Verteidigers im Verfahren über die Strafaussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung sind erfüllt.

Im Vollstreckungsverfahren ist in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig oder sonst ersichtlich ist, daß sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann (vgl. BVerfG 70, 297, 323 = NJW 1986, 767, 771; OLG Stuttgart StV 1993, 378; Meyer-Goßner, 48. Aufl., § 140 StPO Rdn. 33 m. Nachw.) oder wenn die Entscheidung von besonders hohem Gewicht ist (vgl. BVerfG NJW 1992, 2947, 2954 für die Aussetzung einer lebenslangen Strafe). § 140 Abs. 1 StPO gilt nur im Erkenntnisverfahren. Im Vollstreckungsverfahren besteht in weitaus geringerem Maße als in dem kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach einer Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten (vgl. BVerfG NJW 2002, 2773, 2774).

Im Vollstreckungsverfahren sind die drei abschließend genannten Merkmale des § 140 Abs. 2 StPO einschränkend zu beurteilen (vgl. KG StraFO 2002, 244). Die Schwierigkeit beurteilt sich nicht nach den Verhältnissen im Erkenntnisverfahren; denn der Beschwerdeführer muß sich nicht gegen einen Tatvorwurf verteidigen. Das Vollstreckungsgericht ist an die rechtskräftigen Feststellungen des Tatrichters in dem Urteil gebunden, dessen Vollstreckung den Gegenstand des Verfahrens bildet (vgl. KG ZfStrVO 1996, 247). Für dieses Gericht ist maßgebend, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. So liegt es hier.

Das Beschwerdevorbringen wirft vorliegend in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht Fragen auf, die über die Probleme hinausgehen, die in einem die Aussetzung einer Reststrafe betreffenden Verfahren regelmäßig zu beurteilen sind.

Schon die oben dargestellte Prozeßgeschichte macht deutlich, daß der Vollstreckungs- und Bewährungszeitverlauf recht verworren und ungewöhnlich ist.

Die Strafvollstreckungskammer wird sich auch damit auseinanderzusetzen haben, wie die Frage zu beurteilen ist, daß der Beschwerdeführer die Straftat wegen derer die Staatsanwaltschaft den Widerruf der Strafaussetzung beantragt hat, vor der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 23. Januar 2004 begangen hatte. Da er dabei verhaftet worden war und sich daraus der prozessuale Anlaß zum Tätigwerden der Strafvollstreckungskammer entwickelt hatte, war ihr der Diebstahl bereits zum damaligen Zeitpunkt bekannt; gleichwohl hat sie die weitere Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.

Somit sind hier nicht allein Fragen betroffen, die nach §§ 57 Abs. 3, 56 f StGB regelmäßig auftauchen. Sondern es sind rechtlich und tatsächlich schwierige Fragen zu beantworten, die eine eingehende Aktenkenntnis zum zeitlichen Ablauf der Geschehnisse sowie juristisches Fachwissen voraussetzen, das der Verurteilte nicht hat.

Aus den dargelegten Gründen war die Beiordnung eines Pflichtverteidigers vorliegend geboten.

Die Kosten des Rechtsmittels fallen der Landeskasse zur Last, da kein anderer dafür haftet. Eine Auslagenentscheidung ergeht nicht, weil es sich um ein Zwischenverfahren handelt.

Ende der Entscheidung

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