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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 28.03.2006
Aktenzeichen: 1 W 71/06
Rechtsgebiete: FGG, GG


Vorschriften:

FGG § 19 Abs. 1
FGG § 27
FGG § 34
FGG § 68 Abs. 2 Nr. 1
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 1 W 71/06

In der Betreuungssache

Der 1. Zivilsenat des Kammergerichts hat auf die Beschwerde des Betroffenen gegen die Verfügung des Vorsitzenden der Zivilkammer 83 des Landgerichts Berlin vom 18. Juli 2005, der das Landgericht Berlin mit Beschluss vom 14. Februar 2006 nicht abgeholfen hat, am 28. März 2006 beschlossen:

Tenor:

Unter Abänderung des Beschlusstenors zu 2. des Beschlusses des Landgerichts Berlin vom 14. Februar 2006 wird dem Betroffenen Akteneinsicht gewährt.

Gründe:

A.

Im Rahmen der Beschwerde des Betroffenen vom 1. Juni 2005 gegen die Bestellung eines Betreuers hat das Landgericht Berlin dem Betroffenen mit Verfügung vom 18. Juli 2005 persönlich Einsicht in die Gerichtsakte gewährt, aber die ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes vom 29. September 2004 und vom 23. Februar 2005 sowie im weiteren Verlauf des Beschwerdeverfahrens das ärztliche Zeugnis des Sozialpsychiatrischen Dienstes vom 26. August 2005 hiervon ausgenommen. Statt dessen hat das Landgericht dem Betroffenen mit Beschluss vom 22. September 2005 eine Verfahrenspflegerin bestellt. Der gegen die Versagung der Akteneinsicht gerichteten Beschwerde des Betroffenen vom 4. August 2005 hat das Landgericht mit Beschluss vom 14. Februar 2006 nicht abgeholfen und die Akte dem Kammergericht zur Entscheidung vorgelegt.

B.

I. Nachdem das Landgericht der Beschwerde des Betroffenen gegen die teilweise Versagung von Akteneinsicht mit Beschluss vom 14. Februar 2006 nicht abgeholfen hat, ist der Senat zur Entscheidung über die eingelegte Beschwerde vom 4. August 2005 berufen. Es ist in der jüngeren Rechtsprechung und in der Literatur anerkannt, dass gegen die Versagung der Akteneinsicht durch das Beschwerdegericht in entsprechender Anwendung von § 19 Abs. 1 FGG die Erstbeschwerde gegeben ist (Senat, FGPrax 2006, 18; BayObLG, FamRZ 2001, 1246; OLG Düsseldorf, FamRZ 1997, 1361; Keidel/Kahl, FGG, 15. Aufl., § 19, Rdnr. 25; Bumiller/Winkler, FGG, 8. Aufl., § 19 Rdnr. 18). Dieser Auffassung hat sich der Senat unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung angeschlossen (Senat, FGPrax 2006, 18; anders noch Senat, Rpfleger 1960, 375 m. kritischer Anm. von Keidel, Rpfleger 1960, 358 ff.). Zwar sind nach dem Wortlaut des § 19 Abs. 1 FGG, wonach das Rechtsmittel der Beschwerde gegen Verfügungen des Gerichts erster Instanz stattfindet, die Verfügungen nicht beschwerdefähig, die das Landgericht im Lauf eines Beschwerdeverfahrens trifft. Solche Verfügungen sind keine Verfügungen des Gerichts erster Instanz. Doch ist die Versagung der Akteneinsicht im Hinblick auf das jedem Verfahrensbeteiligten zustehende rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) von einschneidender Bedeutung. Eine Entscheidung unter Verstoß gegen diesen Grundsatz stellt einen Verfahrensfehler dar, der im Verfahren der weiteren Beschwerde nicht heilbar ist, sondern zur Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdegerichts führen muss. Gründe der Verfahrensökonomie, die gegen die selbständige Anfechtbarkeit von Zwischenentscheidungen des Beschwerdegerichts angeführt werden (Jansen, FGG, 2. Aufl. § 19 Rdnr. 4), sprechen hier gerade dafür, gegen eine solche Entscheidung des Landgerichts, die im Falle ihrer Fehlerhaftigkeit zur Aufhebung des Verfahrens (vgl. § 562 II ZPO) und Zurückverweisung an das Landgericht führt, die Beschwerde zuzulassen (vgl. Keidel, a.a.O., S. 360).

Die Zulassung der Nachprüfung einer die Akteneinsicht betreffenden Zwischenentscheidung des Beschwerdegerichts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht - im Rahmen der Erstbeschwerde, §§ 19, 23 FGG -, widerspricht im Übrigen auch nicht grundsätzlich der Aufgabe, die dem Gericht des dritten Rechtszuges zugewiesen ist (so aber Jansen, a.a.O., § 19 Rdnr. 48). Endentscheidungen des Beschwerdegerichts dürfen vom Gericht der weiteren Beschwerde nach § 27 FGG zwar nur auf Rechtsfehler überprüft werden. Doch kann ein Gesuch auf Akteneinsicht nach § 34 FGG in jedem Stadium des Verfahrens gestellt werden. Das Rechtsbeschwerdegericht ist zur Entscheidung über ein solches Gesuch auch dann ohne jede Einschränkung seiner Prüfungsbefugnis berufen, wenn sich die Akten im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens bei ihm befinden.

II. Die Beschwerde ist auch begründet. Es besteht kein Grund mehr, dem Betroffenen die persönliche Einsicht in die gutachtlichen Stellungnahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes vom 29. September 2004, 23. Februar 2005 sowie in das ärztliche Zeugnis vom 26. August 2005 nach § 34 Abs. 1 Satz 1 FGG in Verbindung mit § 68 Abs. 2 FGG zu verwehren. a) Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 S. 1 FGG für die Bewilligung von Akteneinsicht liegen zweifellos vor. Nach dieser Vorschrift kann die Einsicht der Gerichtsakten jedem insoweit gestattet werden, als er ein berechtigtes Interesse glaubhaft macht. Der Betroffene hat als Verfahrensbeteiligter auch ohne besondere Glaubhaftmachung grundsätzlich ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht (Keidel/Kahl, a. a. O., § 34 Rdnr. 14). Das dem Gericht eingeräumte Ermessen ist dann wesentlich eingeschränkt, weil die Versagung der Akteneinsicht nicht zu einer Verkürzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und damit zu einer Beschränkung des Beteiligten bei der Rechtsverfolgung führen darf (Keidel/ Kahl, a. a. O. § 34 Rdnr. 13a; Mertens in Jürgens, Betreuungsrecht, 3. Aufl., § 34 Rdnr. 3; Jansen, a. a. O., § 34 Rdnr. 6).

b) Die persönliche Einsicht in die gutachtlichen Stellungnahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes vom 29. September 2004, 23. Februar 2005 sowie vom 26. August 2005 darf dem Betroffenen auch nicht im Hinblick auf § 68 Abs. 2 FGG versagt werden. Nach dieser Vorschrift kann in einem Betreuungsverfahren die Bekanntmachung von ärztlichen Gutachten ebenso wie die persönliche Anhörung des Betroffenen (§ 68 Abs. 2 FGG) dann unterbleiben, wenn nach ärztlichem Gutachten hiervon erhebliche Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen zu besorgen sind (OLG Düsseldorf, FamRZ 1997, 1361; BayObLG, FamRZ 1994, 1059 und Rpfleger 1979, 422; Bienwald, Betreuungsrecht, 4. Aufl., FGG § 68b Rdnr. 90). In diesem Fall ist das rechtliche Gehör des Betroffenen durch die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 1 FGG sicherzustellen (BayObLG, FamRZ 1993, 1489).

Der Arzt des Sozialpsychiatrischen Dienstes hat sich in seiner Stellungnahme vom 26. August 2005 zwar dafür ausgesprochen, dem Betroffenen die ihm bislang vorenthaltenen gutachtlichen Stellungnahmen vom 29. September 2004 und vom 23. Februar 2005 nicht zukommen zu lassen. Die hierfür angeführte Begründung des Arztes erscheint inzwischen jedoch überholt. Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, dass der Inhalt seiner Schreiben beim Betroffenen zu einer verstärkten paranoiden Verarbeitung führen könne mit der Folge, dass die einzig verbliebene Vertrauensperson des Betroffenen - seine Schwester nnnnnnnn - künftig nicht mehr als Kontaktperson zur Verfügung stehen und ihr eine zum Schutz des Betroffenen etwa notwendige Intervention nicht möglich sein werde. Diese - wohl ersichtlich zu Recht befürchtete - Entwicklung ist jedoch eingetreten; der Betroffene hat seiner Schwester das Vertrauen entzogen und den Kontakt zu ihr abgebrochen. Dies hat bereits die Verfahrenspflegerin in ihrer Stellungnahme vom 20. Oktober 2005 mitgeteilt, es wird vom Betreuer mit Schreiben vom 20. Januar 2006 bestätigt und findet auch Ausdruck im Schreiben des Betroffenen selbst vom 2. März 2006. Vor diesem Hintergrund ist es jedoch nicht mehr gerechtfertigt, dem Betroffenen weiterhin den Wortlaut der ärztlichen Stellungnahmen vom 29. September 2004 und vom 23. Februar 2005 vorzuenthalten und ihn wegen ihres Inhalts auf die Mitteilung seiner Therapeutin Frau nnnnnnnnnnnnnn zu verweisen, die er für die Akteneinsicht bevollmächtigt hat. Dies gilt umso mehr, als die verschiedenen ärztlichen Stellungnahmen zeigen, dass sich insbesondere Frau nnnnnnnn gegenüber dem Sozialpsychiatrischen Dienst sehr zurückhaltend und - entgegen der Annahme des Betroffenen in seinem Schreiben vom 2. März 2006 - in keiner Weise verleumderisch geäußert hat.

Ende der Entscheidung

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