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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 09.05.2005
Aktenzeichen: 12 U 14/04
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 286
ZPO § 412
Für die Verletzung der Halswirbelsäule als Erstverletzung muss der Kläger den Vollbeweis gemäß § 286 ZPO erbringen. Ein Anscheinsbeweis für das Vorliegen einer unfallbedingten Verletzung der HWS kann nach ständiger Rechtsprechung des Senats nur bejagt werden, wenn eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung ab 15 Km/h bewiesen ist; das gilt auch dann, wenn der Geschädigte ärztliche Atteste vorlegt, in denen ihm auf Grund der Diagnose einer HWS - Verletzung für die Zeit nach dem Unfall Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wird. Ein Blick in den Innenspiegel des Fahrzeugs ist nicht als verletzungsfördernde "out of position" - Sitzposition anzusehen; mangels besonderer verletzungsfördernder Faktoren ist die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (hier: 11,3 km/h) im Verhältnis zur Belastbarkeit der Wirbelsäule des Klägers für die Feststellung einer unfallbedingten HWS - Verletzung wesentlich.
Kammergericht Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 12 U 14/04

verkündet am: 9. Mai 2005

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 9. Mai 2005 durch die Richterin am Kammergericht Zillmann als Einzelrichterin für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 3. Dezember 2003 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin - 17 O 204/02 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

A. Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Das Landgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass der Klägerin kein Anspruch auf Erstattung von Zuzahlungen zu Behandlungskosten, Fahrtkosten zu Ärzten und auf Zahlung eines Schmerzensgeldes auf Grund des Unfalls vom 19. Mai 1999 gegen die Beklagten zusteht.

Der Klägerin ist es, wovon bereits das Landgericht ausgegangen ist, nicht gelungen nachzuweisen, dass sie bei dem unstreitig durch den Beklagten zu 1. verschuldeten Verkehrsunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule überhaupt erlitten hat.

Das Landgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Klägerin hierfür den Vollbeweis gemäß § 286 ZPO erbringen muss.

Bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 15 km/h auf Grund eines Unfalls mit Heckaufprall spricht nach ständiger Rechtsprechung des Senats kein Beweis des ersten Anscheins für eine unfallbedingte Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule; für den Beweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten des Schädigers und einer Körperverletzung ist vielmehr nach § 286 ZPO der volle Beweis erforderlich (vgl. Senat, Urteil vom 12. Februar 2004 - 12 U 219/02 - = NZV 2004, 460 = KGR 2004, 523; Urteil vom 28. August 2003 - 12 U 88/02 - = KGR 2004, 85 = NZV 2004, 252; Urteil vom 1. Juli 2002, 12 U 8427/00; Urteil vom 21. Oktober 1999 - 12 U 8303/95 - = NJW 2000, 877).

Dies gilt auch dann, wenn der Geschädigte ärztliche Atteste vorlegt, in denen ihm auf Grund der Diagnose einer HWS-Verletzung für die Zeit nach dem Unfall Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde (Senat, Urteil vom 27. Februar 2003 - 12 U 8408/00 - KGR 2003,156 = NZV 2003, 281 = VRS 105, 94).

Der Anscheinsbeweis kommt nämlich nur dann zum Tragen, wenn ein Sachverhalt als feststehend angenommen werden kann, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder einen bestimmten Geschehensablauf hinweist. Der nach einem Unfall behandelnde Arzt erstellt naturgemäß seine Diagnose jedoch lediglich aufgrund der Angaben des Patienten und zwar auch dann, wenn er diese nicht verifizieren kann.

Es gibt in Fällen der vorliegenden Art weder eine allgemeine Lebenserfahrung, dass Heckauffahrunfälle mit einer geringen Geschwindigkeitsänderung, wie hier zwischen 7 und 11 km/h, grundsätzlich zu einer Verletzung der Halswirbelsäule führen, noch eine so genannte Harmlosigkeitsgrenze, wonach eine Verletzung der Halswirbelsäule in Fällen mit geringer Geschwindigkeitsänderung grundsätzlich ausgeschlossen ist (vgl. BGH, Urteil vom 28. Januar 2003 - VI ZR 139/02 - NZV 2003, 167, mit Übersicht zur bisherigen Rechtsprechung).

Deshalb war es entgegen der Auffassung des Landgerichts auch nicht entbehrlich, das Gutachten eines orthopädischen Sachverständigen einzuholen um feststellen zu können, ob die Klägerin die von ihr in der Zeit nach dem Unfall beklagten Gesundheitsbeschädigungen durch den Unfall erlitten hat. Insoweit ist es entgegen der Annahme des Landgerichts nicht erforderlich, dass ein medizinischer Sachverständiger einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verkehrsunfall und den Beschwerden des Verletzten mit hundertprozentiger Sicherheit bestätigt. Ein solches Gutachten muss vielmehr geeignet sein, dem Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Akten und der Verhandlung die freie Überzeugung zu vermitteln, dass die Behauptungen - hier der Klägerin - der Wahrheit entsprechen, wobei die Überzeugung einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, erfordert (vgl. BGH aaO.).

Eine solche Überzeugung kann im vorliegenden Fall nicht erlangt werden.

Der vorliegende Auffahrunfall führte nach dem überzeugenden Gutachten des bereits vom Landgericht beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. Rn zu einer Geschwindigkeitsänderung des Fahrzeugs der Klägerin von 7,0 bis maximal 11,3 km/h. Beide Fahrzeuge wurden ausweislich der vorliegenden Angaben zum Reparaturaufwand nur relativ leicht beschädigt. Die Klägerin war angeschnallt und es befanden sich eingestellte Kopfstützen in ihrem Fahrzeug.

Nach den Ausführungen des gerichtlich beauftragten orthopädischen Sachverständigen Prof. Dr. Cnnn in seinem Gutachten vom 25. Januar 2005, kann dieser eine Verletzungsmöglichkeit für die Halswirbelsäule der Klägerin durch den Verkehrsunfall vom 19. Mai 1999 aus orthopädischer Sicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen.

Der Sachverständige Prof. Dr. Cnnn führt hierzu in seinem einleuchtenden und nachvollziehbaren Gutachten aus, dass eine Verletzungsmöglichkeit nur bei einem Missverhältnis zwischen der einwirkenden biomechanischen Belastung und der Belastbarkeit des betroffenen Körperteils der Person zum Unfallzeitpunkt besteht. Dabei sei zu prüfen, ob individuelle verletzungsfördernde Faktoren die Belastbarkeit weiter reduziert haben können.

Auf Seite 27 seines Gutachtens führt der Sachverständige aus, dass sich weder auf Grund der persönlichen Begutachtung der Klägerin am 16. November 2004, noch aus der Aktenlage Hinweise für verletzungsfördernde Faktoren finden ließen. Solche lagen insbesondere, wie Prof. Dr. Cnnn im Einzelnen darlegt, auch nicht in der Tatsache, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls nach ihren Angaben in den Innenspiegel blickte. Im Rahmen von Untersuchungen mit Freiwilligen, die an der Wnnnnnn Wnnnn -Universität Mnnn durchgeführt wurden, ergaben sich nach den Ausführungen von Prof. Dr. Cnnn Mittelwerte in der Neigung der auf Aufforderung durchgeführten Kopfdrehungen der Probanden, die dazu führen, dass ein Blick in den Innenspiegel nicht als so genannte "out of position"- Sitzposition und damit verletzungsfördernd angesehen werden kann.

In Ermangelung von verletzungsfördernden Faktoren kommt der Sachverständige auf Seite 28 seines Gutachtens unter Berücksichtigung der feststehenden eingetretenen Belastung von maximal 11,3 km/h Geschwindigkeitsänderung im Verhältnis zur Belastbarkeit der Halswirbelsäule der Klägerin zu dem bereits dargelegten Schluss, dass eine Verletzungsmöglichkeit nahezu sicher ausgeschlossen werden kann.

Dies spricht nicht dafür, dass die Klägerin unfallbedingt eine Verletzung der Halswirbelsäule erlitten hat (vgl. insoweit auch Senat, Urteil vom 28. August 2003, aaO.)

Auch die von der Klägerin eingereichten Atteste der behandelnden Ärzte vermögen dem Gericht nicht die Überzeugung zu vermitteln, dass sie bei dem streitgegenständlichen Unfall eine Verletzung der Halswirbelsäule erlitten hat. Insoweit führt der Sachverständige Prof. Dr. Cnnn auf Seite 29 seines Gutachtens aus, dass die festgehaltenen, von der Klägerin geäußerten Beschwerden und die Befunde nach dem Unfall, wie Nackenschmerzen, starke Bewegungseinschränkung, Kopfschmerzen und erhöhter Muskeltonus im Wesentlichen unspezifisch sind, mithin sowohl unfallunabhängig, als auch bei Unfall bedingten Erkrankungen auftreten können. Sie sind nach den weiteren Angaben des Sachverständigen in der Praxis häufig und werden auch ohne Unfallzusammenhang berichtet.

Schließlich führt der Sachverständige aus, dass die auf der Kernspintomographieaufnahme der Halswirbelsäule der Klägerin vom 3. Dezember 1999 erkennbare Steilstellung aus orthopädischer Sicht bereits deshalb nicht zwingend unfallspezifisch ist, weil sie gemäß - auch gerichtsbekannten - Untersuchungen bei 42 % der Normalbevölkerung vorliegt (siehe hierzu Senat, Urteil vom 28. August 2003, aaO.).

Das Vorbringen der Klägerin ist schließlich auch deshalb nicht geeignet, das Gericht entgegen den Ausführungen des Sachverständigen davon zu überzeugen, dass sie die vorgetragenen Verletzungen bei dem streitgegenständlichen Unfall erlitten hat, weil eine deutliche Zunahme und Steigerung der Beschwerden ersichtlich ist. Der Prof. Dr. Cnnn führt zu dem sich später zeigenden Bandscheibenvorfall und dem von der Klägerin vorgetragenen Totalausfall ihres linken Armes im Juni 2001 auch an, dass es in der Orthopädie/Traumatologie sicher nicht die Regel sei, dass Beschwerden erst zwei Jahre nach einem Unfallereignis auftreten. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass ein durch einen Unfall eingetretener Körperschaden im Lauf der Jahre zu einer Ausweitung des Beschwerdebildes führt (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 3. September 1999 - 9 U 144/99 - NZV 2002, 322).

Die durch die Klägerin an dem Gutachten geübte Kritik begründet keine Zweifel an der Fachkunde des Sachverständigen oder der Richtigkeit der Ergebnisse des Gutachtens.

Das Gutachten ist weder in sich widersprüchlich, noch unschlüssig; ebenso wenig geht es von falschen Tatsachen aus.

Die Klägerin gibt bereits nicht an, worin eine Widersprüchlichkeit des Gutachtens liegen soll. Soweit der Gutachter angibt, dass eine Steilstellung der Halswirbelsäule nicht zwingend unfallspezifisch ist, liegt darin, was die Klägerin möglicherweise aufzeigen will, kein Widerspruch zu der Angabe des Sachverständigen, eine Verletzungsmöglichkeit der Klägerin sei bei dem Unfall nicht gegeben gewesen. Widersprüchlich wäre das Gutachten nur dann, wenn der Sachverständige ausgeführt hätte, eine derartige Steilstellung sei nur auf Grund eines Unfallgeschehens zu erwarten. Dies ist aber, wie auch gerichtsbekannt ist, gerade nicht der Fall. Dass eine Steilstellung der Halswirbelsäule eine unfallspezifische Folgeerscheinung sein kann, führt jedoch nicht dazu, dass die Klägerin allein dadurch den Vollbeweis einer Verletzung durch den streitgegenständlichen Unfall erbracht hätte.

Ein von dem Sachverständigen Prof. Dr. Cnnn angegebenes Unfalldatum 20.5.1999 findet sich allein auf Seite 6 des Gutachtens unter Bezugnahme auf den ärztlichen Befundbericht des Dr. Wnnn vom 1.12.2000, Bl. 36 Bd. I der Akten, auf welchem sich eben dieser Fehler im Unfalldatum befindet. Das Zitat von Prof. Cnnn ist mithin gerade korrekt. Im Übrigen erscheint im gesamten Gutachten ausschließlich das richtige Unfalldatum, der 19.05.1999.

Die von der Klägerin geschilderten Gefühlsstörungen in Arm und Händen sowie die Problematik des Hebens der Arme sind von dem Sachverständigen auf Seite 11 seines Gutachtens festgehalten.

Zusammenfassend besteht keinerlei Anlass, das sorgfältig und erkennbar fachkundig erstellte Gutachten des gerichtsbekannten Spezialisten für Fragen in Halswirbelsäulenverletzungen in Zweifel zu ziehen. Die Angriffe der Klägerin sind, wie vorstehend aufgezeigt, nicht zutreffend. Eine erneute Begutachtung, wie von der Klägerin im Schriftsatz vom 9. Mai 2005 beantragt, kommt deshalb nicht in Betracht. Die Voraussetzungen der Einholung eines neuen Gutachtens gemäß § 412 ZPO liegen ersichtlich nicht vor.

B. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordern (§ 543 Abs. 2 ZPO).

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den § 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Ende der Entscheidung

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