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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 24.07.2008
Aktenzeichen: 12 U 142/07
Rechtsgebiete: StVO


Vorschriften:

StVO § 5 Abs. 4 S. 4
StVO § 10
StVO § 20 Abs. 5
Der Fahrer eines Linienbusses muss beim Anfahren von der Haltestelle nicht abwarten, bis ein Radfahrer, der sich noch etwa ein bis zwei Fahrzeuglängen hinter dem Heck des Busses befindet, vorbeigefahren ist (§§ 10, 20 Abs.5 StVO).

Der Radfahrer, der den anfahrenden Linienbus überholt und nur knapp vor ihm nach rechts einschert, verstößt gegen § 5 Abs.4 Satz 4 StVO.

Kommt es beim Einscheren zur Kollision der Fahrzeuge, kann im Rahmen der Abwägung die Betriebsgefahr des Busses gegenüber dem (groben) Verschulden des Radfahrers zurücktreten.


Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 12 U 142/07

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts am 24. Juli 2008 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Kläger wird gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO darauf hingewiesen, dass der Senat nach Vorberatung beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat.

2. Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.

Gründe:

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg.

I. Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder nach § 529 ZPO zu Grunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

II. Beides ist hier nicht der Fall. Die Berufungsbegründung führt nicht zu einer anderen Beurteilung der Sache.

1. Die Auffassung des Klägers, das Landgericht sei grundsätzlich davon ausgegangen, "dass der Beklagte zu 2. ohne Vorrang nach § 20 Absatz 5 StVO von der Haltestelle abgefahren ist" und habe in diesem Zusammenhang ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 2. an der Kollision zwischen dem von ihm gesteuerten Bus und dem Kläger auf seinem Rennrad bejaht (Seite 3 und 9 der Berufungsbegründung), findet in den Urteilsgründen keine Stütze.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme vielmehr gerade keinen unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zwischen dem Anfahren des Busses und der Kollision festgestellt, sondern den Zusammenstoß als Folge eines pflichtwidrigen Wiedereinscherens des Klägers nach einem riskanten Überholmanöver angesehen.

2. Diese Würdigung des Landgerichts ist richtig.

a) Zutreffend hat das Landgericht eine Haftung des Beklagten zu 2. für vom Kläger erlittene materielle und immaterielle Folgen wegen schuldhafter Herbeiführung der Kollision verneint.

(1) Ein Anscheinsbeweis gegen den Beklagten zu 2. als Einfahrenden (Verstoß gegen die Pflichten nach § 10 StVO) scheidet bereits im Ansatz aus. Die entsprechende Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis (vgl. die Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Aufl. 2007, § 10 StVO, Rn. 11) beruht auf der erfahrungsgestützten Annahme, dass bei einer Kollision im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Anfahren in die Fahrbahn die Verhaltenspflichten nach § 10 StVO missachtet worden sind. Für den Fahrer eines abfahrenden Busses gelten diese strengen Sorgfaltspflichten jedoch wegen der Sonderregelung des § 20 Abs. 5 StVO nicht (so zutreffend das Landgericht, UA 5; vgl. auch Hentschel, a.a.O., § 20 StVO, Rn. 12).

(2) Ebensowenig steht fest, dass der Beklagte zu 2. die Kollision nach den konkreten Umständen durch Unaufmerksamkeit beim Anfahren mit dem Bus und damit unter Verstoß gegen § 10 StVO schuldhaft herbeigeführt hat, sie also bei gebotener Aufmerksamkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden hätte.

Die auf Seite 5 der Berufungsbegründung wiederholte Behauptung, er habe sich etwa in Höhe des hinteren Drittels des Busses befunden, also im Bereich zwischen Heck und Gelenk des Busses, als dieser angefahren sei, bezieht sich zwar auf ein aussagekräftiges Indiz für die Missachtung der Rückschau- und Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO durch den Beklagten zu 2., denn danach war es geboten, sich vor dem Anfahren zu vergewissern, dass kein Fahrzeug neben dem Bus vorbeifuhr, und an der Erkennbarkeit des überholenden Klägers für den Beklagten zu 2. bei ordnungsgemäßer Rückschau vor dem Anfahren bestehen kaum Zweifel.

Allerdings hat der Kläger für diesen Unfallhergang nicht nur keinen Beweis angetreten.

Er ist vielmehr bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht am 23. Mai 2007 davon abgerückt, indem er erklärt hat, der Bus sei ausgeschert, als er sich mit seinem Rad in Höhe des Bushecks befunden habe. Darauf hat das Landgericht auf Seite 5/6 UA ausdrücklich hingewiesen. Außerdem ist das Landgericht in beanstandungsfreier Würdigung der Aussage des Zeugen ... zu der Gewissheit gelangt, dass der Kläger sich abweichend von seinen Angaben noch eine bis anderthalb Fahrzeuglängen hinter dem Bus befunden habe und noch "richtig kräftig in die Pedale getreten" habe, um am Bus noch vorbeizukommen. Der Senat folgt dieser Würdigung. Damit ist nicht festzustellen, dass der Beklagte zu 2. auch bei ordnungsgemäßer Rückschau Veranlassung hatte, die Vorbeifahrt des noch entfernten Klägers auf seinem Rad abzuwarten. Der Beklagte zu 2. hat in seiner persönlichen Anhörung angegeben, er habe den Kläger zwar im Rückspiegel gesehen; er sei aber noch so weit weg gewesen, dass er an eine Gefahrenlage nicht gedacht habe. Etwas anderes hat der Kläger nicht beweisen können.

(3) Gleiches gilt für das Verhalten des Beklagten zu 2. im Zusammenhang mit dem Einscheren des Klägers vor den Bus nach dem Überholen (möglicher Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltspflichten nach § 1 Abs. 2 StVO). Zutreffend hat das Landgericht auf Seite 8 UA auf die unvorhersehbare Verkürzung des Anhalteweges durch das knappe Einscheren des Klägers vor den fahrenden Bus hingewiesen. Es steht nicht fest, dass es dem Beklagten zu 2., der vor dem Landgericht nur eingeräumt hat, den Kläger im Seitenspiegel als Schatten noch gesehen zu haben und nach dem Einscheren sofort ein Bremsmanöver eingeleitet hat, möglich war, sich in dieser Lage auf das Fahrmanöver des Klägers einzustellen und unfallverhütend zu reagieren. Der beweislosen und nicht weiter erläuterten Behauptung des Klägers auf Seite 11/12 der Berufungsbegründung, der Beklagte zu 2. hätte den Unfall noch leicht verhindern können, wenn er sich vergewissert hätte, worum es sich bei dem vorbeifahrenden Schatten gehandelt habe, folgt der Senat nicht. Immerhin befand sich der Bus bereits in Fahrt.

b) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht umgekehrt ein grobes Verschulden des Klägers am Zustandekommen der Kollision durch sein waghalsiges Überholmanöver bejaht. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger auf seinem Fahrrad überhaupt zum Überholen des Busses ansetzen durfte, muss er sich entgegenhalten lassen, dass er nach dem Verlauf des vom Landgericht zutreffend als "verunglückt" bezeichneten Überholmanövers auf keinen Fall knapp vor dem anfahrenden Bus nach rechts einscheren durfte (§ 5 Abs. 4 Satz 4 StVO, Landgericht, UA 7).

Es drängte sich auf, dass eine solche Fahrweise die akute Gefahr in sich barg, Leben und Gesundheit des Klägers sowie anderer Personen im Bus zu gefährden. Notfalls hätte er das Überholmanöver abbrechen und den Bus rechts neben ihm passieren lassen müssen. Im Verlauf des Rechtsstreits sind keine Umstände vorgetragen oder anderweitig bekannt geworden, die ein solches Fahrmanöver unmöglich gemacht hätten, etwa herannahender Gegenverkehr. Selbst dann wäre der Kläger gehalten gewesen, die Fahrbahn notfalls in Richtung der gegenüberliegenden, von ihm aus gesehen linken Straßenseite zu verlassen). In dem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass der Kläger nach seinem erstinstanzlichen Vorbringen Freizeitfahrer ist und der Unfall sich am Ende einer Radtour ereignet hat (Schriftsatz vom 22. Mai 2007, Seite 3). Um so weniger hatte er Veranlassung zu der Annahme, am anfahrenden Bus erfolgreich "vorbeisprinten" zu können.

c) Auch die Abwägung der verbleibenden Gefährdungshaftung des Beklagten zu 1. gegen das grobe Verschulden des Klägers im angegriffenen Urteil ist nicht zu beanstanden. Das Argument des Klägers, bauartbedingte Schwierigkeiten bei der Rückschau aus dem Bus müssten zu einer größeren Gewichtung der Gefährdungshaftung führen, die nicht vollständig zurücktreten dürfe, überzeugt den Senat nicht. Selbst wenn dies so wäre, steht nicht fest, dass sich gerade diese Besonderheit hier unfallursächlich ausgewirkt hat. Den herannahenden Radfahrer hat sich der Beklagte zu 2. nach eigenem Bekunden gesehen, allerdings noch in der Ferne. Für die letztlich schadenstiftende Kollision beim Einscheren war die abstrakte Rückschaumöglichkeit ohne Bedeutung, denn sie hat sich vor dem Bus ereignet.

d) Entgegen der Berufungsbegründung hat das Landgericht nach alledem nicht ein zusammengehörendes Geschehen künstlich in zwei Handlungsabschnitte aufgeteilt, indem es zwischen dem Anfahrvorgang des Busses und dem Einschermanöver des Radfahrers unterschieden hat. Beide Teilvorgänge bieten mögliche Anknüpfungspunkte für haftungsbegründendes Verhalten der Unfallbeteiligten und verlangen daher nach gesonderter rechtlicher Prüfung.

III. Im übrigen hat die Sache weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Senats zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO.

Es wird angeregt, die Fortführung des Berufungsverfahrens zu überdenken. Der Berufungsstreitwert soll auf 19.820,15 EUR festgesetzt werden (Antrag zu 1.: 3.320,15 EUR, Antrag zu 2.: 14.000,- EUR; Antrag zu 3.: 2.500,- EUR).

Ende der Entscheidung

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