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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 29.10.2007
Aktenzeichen: 12 U 5/07
Rechtsgebiete: StVO, ZPO, BGB


Vorschriften:

StVO § 7 Abs. 5
StVO § 10
ZPO § 286
BGB § 823
1. Der Vorgang des Einfahrens aus einer Grundstückseinfahrt ist erst beendet, wenn sich der Einfahrende vollständig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, wobei der Einfahrvorgang nicht dadurch unterbrochen wird, dass der Einfahrende bereits einige Zeit in einer wartenden Position weitgehend auf der Fahrbahn gestanden hat.

2. Der Schutzzweck des § 7 Abs.5 StVO dient nicht dem aus einem Grundstück ausfahrenden Verkehrsteilnehmer.

3. Der Umstand, dass das angebliche "Opferfahrzeug" eines angeblich vorsätzlich herbeigeführten Unfalls zur Zeit des Ereignisses ein nicht vorgeschädigter, gerade 3 Monate alter Mercedes E mit einer Laufleistung von nur 4.951 km war, spricht nachdrücklich gegen eine Unfallmanipulation.


Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 12 U 5/07

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Grieß, den Richter am Kammergericht Dr. Wimmer und die Richterin am Kammergericht Zillmann am 29. Oktober 2007 beschlossen:

Tenor:

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung nach § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

2. Die Berufungskläger erhalten gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO Gelegenheit, hierzu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen.

Gründe:

Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Beides ist nicht der Fall.

Der Senat folgt den im Wesentlichen zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils, die durch die Berufungsangriffe nicht entkräftet werden.

1. Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass den Beklagten zu 2) das alleinige Verschulden an dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall vom 19. November 2005 trifft.

Der Beklagte zu 2) ist, worauf das Landgericht zu Recht abgestellt hat, unstreitig aus einer Grundstücksausfahrt auf die Hertzstraße eingefahren, wobei sich der Zusammenstoß mit dem Fahrzeug des Klägers ereignet hat, als der Beklagte zu 2) mit seinem Fahrzeug noch nicht auf die Hertzstraße eingefahren war und sich in den fließenden Verkehr eingeordnet hatte.

Bereits daraus ergibt sich die volle Haftung des Beklagten zu 2). Der Vorgang des Einfahrens aus einer Grundstückseinfahrt ist nämlich nach der ständigen Rechtsprechung erst beendet, wenn sich der Einfahrende vollständig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, wobei der Einfahrvorgang auch nicht dadurch unterbrochen wird, dass der Einfahrende bereits einige Zeit (bspw. 2-3 Minuten) in einer wartenden Position weitgehend auf der Fahrbahn (bspw. 1,10 m in eine insgesamt 5,70 m breite Straße hineinragend) gestanden hat (vgl. KG, Urteil vom 15. März 2007 - 22 U 119/06 - ; OLG Köln, Urteil vom 19. Juli 2005 - 4 U 35/04 - VRS 109, 99 = DAR 2006, 27 = VM 2006, 18 Nr. 19; Senat, Beschlüsse vom 27. November 2006 - 12 U 181/06 - VRS 112, 17 = NZV 2007, 359 = VM 2007, 37 Nr.40; vom 28. Dezember 2006 - 12 U 178/06 - VRS 112, 332 = KGR 2007, 722).

Das Vorfahrtrecht erstreckt sich dabei auf die gesamte Fahrbahn, wobei der sonst geltende Grundsatz, das der Wartepflichtige, dem die Sicht auf die Vorfahrtstraße verwehrt ist, sich in diese soweit hineintasten darf, bis er Einblick in sie gewinnt, beim Herausfahren aus einer Grundstücksausfahrt nicht gilt (vgl. OLG Celle, Urteil vom 1. März 1990 - 14 U 307/88 - NZV 1991, 195).

Das Landgericht hat deshalb zu Recht darauf abgestellt, dass nach dem Beweis des ersten Anscheins davon auszugehen ist, dass der Unfall darauf beruhte, dass der Beklagte zu 2) die ihm nach § 10 StVO obliegende äußerste Sorgfaltspflicht nicht in ausreichenden Maße beachtet hat.

Soweit die Berufung darauf abstellt, dass nach dem Vorbringen der Beklagten davon auszugehen sei, dass sich der Beklagte zu 2) bis zur Sichtlinie in die bevorrechtigte Straße langsam hinein-bewegte, ändert dies an der Beurteilung auch dann nichts, wenn von dem Vorbringen der Beklagten auszugehen wäre, der Kläger hätte eine Fahrbewegung nach rechts gemacht.

Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Anfahren vom Fahrbahnrand, bzw., wie hier, aus einer Grundstücksausfahrt, zu einer Kollision mit einem Fahrzeug des fließenden Verkehrs das nach rechts den Fahrstreifen wechselt, ohne den Anfahrenden rechtzeitig erkennen zu können, so haftet der Anfahrende allein, denn der Schutz-zweck des § 7 Abs. 5 StVO dient nicht dem ruhenden Verkehr oder dem Anfahrenden (vgl. Senat, Urteil vom 11. März 2004 - 12 U 285/02 - DAR 2004, 387 = VRS 106, 443 = KGR 2004, 282 = NZV 2004, 632; Beschluss vom 4. Januar 2006 - 12 U 202/05 - NZV 2006, 369 = ZfS 2006, 445 = VRS 110, 343).

Weder aus dem Vorbringen der Beklagten, noch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ergibt sich, dass der Kläger das Fahrzeug des Beklagten zu 2) erkennen konnte und musste. So tragen die Beklagten mit der Berufung selbst vor, dass der Beklagte zu 2) und die Zeugin ???? im Termin vom 8.11.2006 angegeben hätten, an der Stelle, an der sie angehalten hatten, noch keinen vollständigen Einblick in die bevorrechtigte Straße gehabt zu haben. Weshalb auf der anderen Seite der Kläger das Fahrzeug des Beklagten zu 2) hätte rechtzeitig erkennen können und müssen, ergibt sich daraus nicht, auch wenn dessen Front sich vor dem Kopf des Fahrers befunden hat.

Ob das Fahrzeug des Beklagten zu 2) zum Zeitpunkt des Unfalls stand, ist nach den obigen Ausführungen unerheblich, da die von dem Beklagten behauptete Standzeit von mindestens 4-5 Sekunden nicht bewiesen ist (vgl. UA 5ff).

2. Entgegen den Angriffen der Berufung ist in dem erstinstanzlichen Urteil auch keine fehlerhafte Beurteilung der festgestellten Tatsachen zu bemängeln.

Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen. Dies ist nicht der Fall, wenn zwar der Berufungskläger die Beweiswürdigung des Gerichts des ersten Rechtszuges angreift, dieses sich bei der Tatsachenfeststellung aber an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen (Senat, Urteil vom 11. März 2004 - 12 U 285/02 - DAR 2004, 387 = VRS 106, 443 = KGR 2004, 282 = NZV 2004, 632; Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 - 12 U 184/02 -KGR 2004, 269).

§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze, an Erfahrungssätze sowie ausnahmsweise an gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 25. Aufl., § 286 Rn 13; Senat, Urteil vom 24. Januar 2002 - 12 U 4324/00 - NZV 2004, 355).

Ferner sind die leitenden Gründe und wesentlichen Gesichtspunkte für die Überzeugungsbildung nachvollziehbar im Urteil darzustellen (BGH NJW 1991, 1894).

An diese Grundsätze der freien Beweiswürdigung hat sich das Landgericht in dem angegriffenen Urteil gehalten. Es hat die Aussagen der von ihm gehörten Zeugen erschöpfend gewürdigt und daraus - auch nach Auffassung des Senats zu Recht - den Schluss gezogen, dass nicht beweisen ist, dass den Kläger an dem Unfall ein (Mit) Verschulden trifft.

3. Soweit die Berufung meint, dass Landgericht habe es fehlerhaft unterlassen, ein Unfallrekon-struktionsgutachten einzuholen, ist nicht ersichtlich, welche Tatsachen hier hätten festgestellt werden sollen, die eine (Mit) Haftung des Klägers begründen würden. Hinsichtlich des von den Beklagten behaupteten Schlenkers ist erneut darauf hinzuweisen, dass sich die Vorfahrt auf die gesamte Straßenbreite erstreckt und ein Unfallrekonstruktionsgutachten nichts dafür hergeben kann, ob der Kläger das Fahrzeug des Beklagten rechtzeitig erkennen konnte und musste.

Aus diesem Grunde war es auch nicht erforderlich, ein Unfallrekonstruktionsgutachten zu dem von den Beklagten behaupteten Zurückschieben des Fahrzeugs des Beklagten zu 2) durch den Unfall einzuholen.

4. Schließlich ist die Beurteilung des Landgerichts, es lägen keine ausreichenden Indizien dafür vor, von einem absichtlichen Ereignis, mithin einem provozierten Unfall, auszugehen, nicht zu beanstanden.

Das Landgericht hat zutreffend darauf abgestellt, das zwar der Nachweis einer erheblichen Wahrscheinlichkeit für ein unredliches Verhalten ausreichend sein kann, wenn eine Gesamtschau eine ungewöhnliche Häufung von Beweisanzeichen ergibt. Es ist jedoch ebenso zutreffend davon ausgegangen, dass dies vorliegend nicht der Fall ist.

Die Beklagten haben, was das Landgericht richtig feststellt, im Wesentlichen darauf abgestellt, dass gegen den Kläger im Zusammenhang mit zwei weiteren Unfällen, die sich nach dem hiesigen Geschehen zugetragen haben, polizeiliche Ermittlungen eingeleitet worden sind.

Soweit die Beklagten in der Berufungsbegründung darauf abstellen, dass es sich bei dem Fahrzeug des Klägers um ein neues Fahrzeug handelte, welches zum Zeitpunkt des hier streitgegenständlichen Unfalls gerade drei Monate alt, erst 4.951 km gelaufen und unstreitig unfallfrei war, spricht dies in höchstem Maße gegen einen gestellten/provozierten Unfall, da für einen solchen ohne besondere weitere Umstände, zu denen hier keinerlei Anhaltspunkte vorgetragen wurden, keinerlei Motiv ersichtlich ist.

Auch wenn die Beklagten darauf abstellen, dass es in hohem Maße unwahrscheinlich sei, dass der Kläger innerhalb von einem halben Jahr in drei unverschuldete Verkehrsunfälle verwickelt gewesen sei und sie hierzu vorbringen, dass in den nachfolgenden beiden Verkehrsunfällen ebenfalls jeweils eine klare Haftungsgrundlage präsentiert worden sei, so ergibt sich daraus keine Indizienkette, die einen Rückschluss darauf zuließe, dass der Kläger mit seinem unstreitig neuen, drei Monate alten nicht vorgeschädigten Mercedes E Klasse Fahrzeug absichtlich gegen das stehende Fahrzeug des Beklagten zu 2) gefahren sei, um hierdurch einen" Gewinn" in Höhe der Klageforderung zu realisieren.

Vielmehr sprechen verschiedene Indizien gegen einen manipulierten Unfall. Dies ist neben der Neuwertigkeit des klägerischen Fahrzeugs nicht zuletzt die Tatsache, dass der Kläger bei einer vorsätzlichen Vorgehensweise sozusagen innerhalb von Sekundenbruchteilen hätte beschließen und dies sofort ausführen müssen, gegen ein aus einer Ausfahrt ausfahrendes Fahrzeug zu fahren. Unstreitig befand sich der Kläger ja im fließenden Verkehr und konnte deshalb nicht bereits zuvor wissen, dass er sogleich an dem Fahrzeug des Beklagten zu 2) vorbeifahren würde. Auch das Vorhandensein eines Beifahrers und damit potenziellen Zeugen im Opferfahrzeug ist für diese Vorgehensweise untypisch.

Für ein derartiges Geschehen sind die von den Beklagten vorgetragenen Auffälligkeiten anhand der weiteren Unfälle keinesfalls ausreichend.

5. Die Beiziehung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten, die die Beklagten beantragen, ist bereits deshalb nicht erforderlich, weil sich aus dem Vorbringen der Beklagten nicht ergibt, was sich aus dieser für den hiesigen Vorfall entnehmen lassen sollte. Zwar tragen die Beklagten in der Berufungsbegründung vor, es ergäben sich aus der beizuziehenden Ermittlungsakte neue Gesichtspunkte, die auch im vorliegenden Rechtsstreit von Bedeutung sein könnten. Welche dies in Bezug auf den streitgegenständlichen Verkehrsunfall sein sollten, lässt sich der Berufung jedoch nicht entnehmen.

6. Soweit die Beklagten mit der Berufung erstmals die Höhe des geltend gemachten Schadens und das Erfordernis der geltend gemachten Reparaturkosten bestreiten, ist dies neu und nicht ersichtlich, weshalb es gemäß § 531 Abs.2 Nr.3 ZPO zuzulassen wäre.

7. Nach alledem wird anheim gestellt, die weitere Durchführung der Berufung zu überdenken.

Ende der Entscheidung

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