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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 17.01.2000
Aktenzeichen: 12 U 6678/98
Rechtsgebiete: BGB, StVG, StVO


Vorschriften:

BGB § 254 Abs. 1
StVG § 17 Abs. 1
StVO § 3
StVO § 8
ZPO § 91 Abs. 1.
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
ZPO § 546 Abs. 2
Im Rahmen der Abwägung nach 17 Abs. 1 StVG dürfen nur unfallursächliche Umstände berücksichtigt werden.

Dies gilt grundsätzlich auch für eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den Vorfahrtberechtigten. Kammergericht, Urteil vom 17. Januar 2000 - 12 U 6678/98 -


KAMMERGERICHT

Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer:

12 U 6678/98 24 O 388/97 LG Berlin

Verkündet am:

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts in Berlin auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Kammergericht Hartig sowie die Richter Grieß und Hinze für Recht erkannt:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 7. August 1998 verkündete Urteil der Zivilkammer 24 des Landgerichts Berlin abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer übersteigt 60.000.00 DM nicht.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten hat Erfolg; denn entgegen der Auffassung des Landgerichts lassen sich Tatsachen für eine Mithaftung der Beklagten zu 25 % für den Schaden des Klägers nicht feststellen, der ihm infolge des Verkehrsunfalls vom 29. April 1996 gegen 19.10 Uhr in 15831 G auf der Kreuzung D Straße/K Straße entstanden ist.

1. Zutreffend hat das Landgericht festgestellt, dass gegen den wartepflichtigen Kläger der Beweis des ersten Anscheins spricht, dass der Unfall durch dessen schuldhafte Vorfahrtverletzung verursacht worden ist.

Darüber hinaus steht nach dem eigenen Vorbringen des Klägers, er sei in die bevorrechtigte Straße "hineingerollt", also unter Schrittgeschwindigkeit in diese hineingefahren (Schriftsatz vom 13. August 1997, Bl. 28). fest, dass der Kläger seinen Pflichten aus § 8 StVO nicht nachgekommen ist.

Wer die Vorfahrt zu beachten hat, darf nach § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtberechtigten weder gefährdet noch wesentlich behindert. Kann er dies nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, darf er sich nach § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO vorsichtig in die Kreuzung hineintasten, bis er Übersicht hat. "Hineintasten" bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit sofort anzuhalten (BGH NJW 1985, 2757; Senat NZV 1999, 85; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl. 1999, StVO § 8 Rdnr. 58). Der Wartepflichtige genügt seiner Pflicht nicht, wenn er die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise die Fahrspur eines bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers sperrt.

Nach seinem eigenen Vorbringen ist der Kläger in die Vorfahrtstraße "hineingerollt"; hieraus folgt ohne weiteres, dass er nicht zentimeterweise, also Zentimeter für Zentimeter, vorgerollt ist bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten, sich also nicht i. S. d. § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO "hineingetastet hat". Dies hätte nämlich bedeutet, dass er mit seinem Wagen jeweils nur wenige Zentimeter langsam vorgerollt und dann wieder angehalten und dieses Fahrmanöver über einen längeren Zeitraum mehrfach wiederholt hätte (vgl. Senat., a. a. O.).

2. Entgegen der Auffassung des Landgerichts führt die von ihm angenommene Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h an der Unfallstelle durch den Beklagten zu 3. um 12 km/h nicht zu einer Mithaftung der Beklagten.

a) Das Landgericht hat seine Auffassung damit begründet, der Kläger habe nicht damit rechnen müssen, dass der Beklagte zu 3. mit dem von ihm geführten Lkw statt der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eine Geschwindigkeit von 62 km/h fahren würde.

Mit dieser Erwägung läßt sich die vom Landgericht angenommene Mithaftung der Beklagten nicht rechtfertigen; denn die Verkehrsteilnehmer dürfen nicht generell darauf vertrauen, dass die 50 km/h-Grenze innerorts genau eingehalten wird; vielmehr müssen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung von anderen Kraftfahrern auch erhebliche Überschreitungen in Rechnung gestellt werden (vgl. BGH NJW 1984, 1962, 1963; Jagusch/Hentschel, a. a. O., StVO § 3 Rdnr. 52 m. w. N.; § 8 Rn. 53, 54 a), soweit diese bei sorgfältiger Beobachtung der Fahrbahn erkennbar waren; Schätzungsfehler gehen zu Lasten des Wartepflichtigen (BGH, a. a. O.); der Wartepflichtige darf generell lediglich darauf vertrauen, dass kein bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer aus einer nicht einzusehenden Position (Kuppe, stark gewölbte Brücke, Kurve) überschnell herankommen werde (BGH VersR 1966, 936; Senat, DAR 1992, 433, 434 f. = VerkMitt 1992, 100). Für einen solchen Sachverhalt bestehen keine Anhaltspunkte.

Dagegen darf der Vorfahrtberechtigte darauf vertrauen, dass aus einer Seitenstraße herannahende, nicht sichtbare Wartepflichtige seine Vorfahrt beachten werden (vgl. OLG Hamm MDR 1999, 1194).

b) Darüber hinaus ist der vom Landgericht zu Gunsten des Wartepflichtigen herangezogene Vertrauensgrundsatz für sich allein gesehen hier nicht geeignet im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG eine Mithaftung der Beklagten zu begründen, weil der Beklagte zu 3. mit dem Lkw an der Unfallstelle eine Geschwindigkeit von 62 km/h gefahren sei.

aa) Zwar sind erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitungen des bevorrechtigten Verkehrs geeignet, zur Mithaftung des Vorfahrtberechtigten - in Sonderfällen auch zur Alleinhaftung - zu führen. Das Maß der Mithaftung hängt von der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung sowie den weiteren Umständen des Einzelfalles ab (BGH NJW 1984, 1962 = DAR 1984, 220; Senat, VerkMitt 1982, 94; NZV 1999, 85, 86).

Stets ist jedoch für eine Mithaftung wegen Geschwindigkeitsüberschreitung erforderlich, dass diese Sorgfaltspflichtverletzung unfallursächlich war; denn im Rahmen der Vorschrift des § 17 StVG dürfen nur Umstände berücksichtigt werden, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH VersR 1982, 442 = NJW 1982, 1149; NJW 1988, 58; Senat VerkMitt 1984, 36; NZV 1999, 85, 86 = KG Report 1999, 315, 318 sowie zuletzt Urteile vom 24. September 1998 - 12 U 3283/96 - sowie vom 25. März 1999 - 12 U 9746/97 -; OLG Celle VersR 1973, 1174; OLG Bremen NZV 1988, 42, 43; OLG Hamm NZV 1996, 69; 70; OLG Stuttgart DAR 1997, 26, 27; OLG Rostock DAR 1999, 550, Ls.; LG Augsburg r + s 1987, 338; für alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit: BGH NJW 1995, 1029 = NZV 1995, 145; ferner generell Jagusch/Hentschel, a. a. O., StVG § 17 Rdnr. 5; StVO § 3 Rdnr. 67).

Daher kommt es für eine bei der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG zu berücksichtigende Sorgfaltspflichtverletzung darauf an, ob sich der Beklagte zu 3. infolge überhöhter Geschwindigkeit außerstande gesetzt hat, unfallverhütend zu reagieren oder ob ihm dies auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht möglich gewesen wäre (BGH VersR 1982, 442, 443; BGH NJW 1988, 58; BGH NZV 1991, 23, 24); dies gilt nicht nur für Geschwindigkeitsüberschreitungen bis zu 10 km/h, die auch nur dann zu vernachlässigen sind, wenn sie nicht unfallursächlich waren (BGH VersR 1980, 868, 869; VersR 1982, 442, 443; so ausdrücklich auch Senat, Urteil vom 31. Januar 1994 - 12 U 3121/92 -; vgl. auch Senat VerkMitt 1987, 86, 87 sowie VerkMitt 1990, 51, jeweils unter Bezugnahme auf BGH VersR 1982, 442).

bb) Eine Unfallursächlichkeit der Geschwindigkeitsüberschreitung des Beklagten zu 3. hat der Kläger weder dargelegt noch bewiesen.

Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, hat er zunächst seine Behauptung nicht bewiesen, der Beklagte zu 3. sei vor dem Unfall mit etwa 70 km/h gefahren.

Ob der Kläger bewiesen hat, dass der Beklagte zu 3. tatsächlich 62 km/h gefahren ist und dies zwischen den Parteien nach Vorliegen des Gutachtens der Mannesmann VDO AG vom 13. Mai 1998 (64 ff.) unstreitig geworden ist, kann letztlich dahinstehen; insoweit ist nur darauf hinzuweisen, dass im Gutachten unter "Toleranzen bei der mikroskopischen Auswertung" (Bl. 69) darauf aufmerksam gemacht wird, dass die tatsächlich vorhandenen Meßfehler im Betrieb +/- 3 km/h betragen, so dass es naheliegt, dass tatsächlich nur eine Geschwindigkeit von 59 km/h als erwiesen angesehen werden kann; auch aus dem Schriftsatz der Beklagten vom

8. Juni 1998 (Bl. 78) folgt nicht zwingend, dass die Beklagten eine Geschwindigkeit von 62 km/h hätten unstreitig stellen wollen; vielmehr vertreten sie dort die Auffassung, dass die etwas überhöhte und mit 62 km/h gemessene Geschwindigkeit nicht zu einer Mithaftung führen könne.

Entscheidend ist letztlich, dass keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen oder ersichtlich sind, dass es dem Beklagten zu 3. bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h noch möglich gewesen wäre, unfallverhütend zu reagieren. Denn der Kläger trägt nicht vor, in welchem Abstand sich der Lkw des Beklagten zu 1. befand, als er - der Kläger - in die Vorfahrtstraße hineingerollt ist; der Kläger hat auch das Vorbringen der Beklagten auf S. 3 ihres Schriftsatzes vom 25. August 1997 (Bl. 31) nicht bestritten, aufgrund des zwischen den beiden unfallbeteiligten Fahrzeugen bestehenden Sichtkontaktes (gemeint wohl: aufgrund der bestehenden Sichtmöglichkeit) habe der Beklagte zu 3. nicht davon ausgehen müssen, dass der Kläger sein Vorfahrtsrecht nicht beachten und in die von ihm befahrene bevorrechtigte Karl-Marx-Straße hineinfahren würde.

Jedenfalls gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich der Kläger infolge einer überhöhten Geschwindigkeit außerstande gesetzt hat, unfallverhütend zu reagieren oder sonst eine sich auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage in dem Unfall aktualisiert hat (vgl. BGH NJW 1988, 58); ohne nähere Anhaltspunkte kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung generell abstrakt die Gefährdung durch den Lkw erhöht hat. Insbesondere kann sich der Kläger auch nicht darauf berufen, dass von dem vom Beklagten zu 3. geführten Lkw eine erhöhte Betriebsgefahr ausgegangen sei, da es sich um ein schweres Fahrzeug gehandelt habe (vgl. S. 2 der Klagebegründung, Bl. 10 d. A.); denn selbst die Betriebsgefahr eines Lastzuges ist gleich hoch mit der des wartepflichtigen Pkw, der in eine Vorfahrtstraße hineinragt (BGH VersR 1966, 338) und gleich hoch bei Vorfahrtverletzung durch einen Pkw (OLG Hamburg VersR 1966; 195).

3. Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 Abs. 1. 708 Nr. 10, 713, 546 Abs. 2 ZPO.



Ende der Entscheidung

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