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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Urteil verkündet am 13.02.2006
Aktenzeichen: 12 U 70/05
Rechtsgebiete: StVG, StVO


Vorschriften:

StVG § 17
StVG § 17 Abs. 1
StVO § 4 Abs. 1
StVO § 4 Abs. 1 Satz 2
Treffen starkes Bremsen ohne zwingenden Grund sowie Unaufmerksamkeit und/oder unzureichender Sicherheitsabstand zusammen, so fällt der Beitrag des Auffahrenden grundsätzlich doppelt so hoch in Gewicht; das führt dazu, dass der Auffahrende vom Vorausfahrenden regelmäßig Schadensersatz nach einer Quote von 1/3 verlangen kann. Die Mithaftung des Vorausfahrenden ist umso größer, je unwahrscheinlicher ein starkes plötzliches Abbremsen ist. Vollzieht der mit einem Automatik-Fahrzeug nicht vertraute Vorausfahrende in einem Abstand von 75 - 100 m vor einer roten Ampel plötzlich eine Vollbremsung, weil er mit dem linken Fuß - in der Vorstellung, eine Kupplung zu treten - kräftig auf die Bremse tritt, kommt im Verhältnis zu dem unaufmerksamen Auffahrenden eine Haftungsverteilung 50 : 50 in Betracht.
Kammergericht Im Namen des Volkes

Geschäftsnummer: 12 U 70/05

verkündet am: 13.02.2006

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2006 durch den Richter am Kammergericht Spiegel als Einzelrichter

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird das am 24. Februar 2005 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin - 17 0 370/04 - teilweise abgeändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.058,14 € nebst 5% Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 20. März 2004 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger zu 1/3 und die Beklagten zu 2/3 zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

I

Gründe:

Die Berufung ist zulässig und hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Das Landgericht hat die Klage zu Unrecht in voller Höhe abgewiesen.

Die Beklagten sind verpflichtet, dem Kläger den ihm bei dem Verkehrsunfall vom 27. August 2003 gegen 14:30 Uhr in Berlin-Charlottenburg, Autobahn 100 in Richtung Norden, Ausfahrt Kaiserdamm, entstandenen und in Höhe von 75% eingeklagten Schaden zur Hälfte zu ersetzen.

Soweit das Landgericht eine Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers festgestellt hat, ist dies allerdings nicht zu beanstanden; das Landgericht hat aber nicht hinreichend den Fahrfehler der Beklagten zu 1. in die Abwägung nach § 17 StVG eingestellt.

A

Die Ausführungen des Landgerichts zur Sorgfaltspflichtverletzung des Klägers auf den Seiten 4 f. des angefochtenen Urteils sind nicht zu beanstanden.

1. Entgegen der Auffassung des Klägers auf S. 1 der Berufungsbegründung hat es das Landgericht nicht verfahrensfehlerhaft unterlassen, vom Kläger angebotene Beweise zu erheben.

Nach den - übereinstimmenden - Angaben sowohl des Klägers selbst in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 13. Januar 2005 (S. 2 des Protokolls) als auch der Beklagten zu 1) (S. 3 des Protokolls) war der Kollisionsort ca. 75 - 100 m von den vor der roten Ampel stehenden Fahrzeugen entfernt.

Der Ort der Kollision war damit unstreitig und nicht beweisbedürftig; den von den Parteien übereinstimmend bezeichneten Kollisionsort hat das Landgericht auch seiner Beurteilung zugrunde gelegt (vgl. S. 5 des Urteils).

2. Nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht will der Kläger bei einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h etwa 30 m Abstand zum Pkw der Beklagten zu 1) eingehalten haben (S. 2 des Protokolls vom 13. Januar 2005). Insoweit hat das Landgericht auf S. 5 oben des angefochtenen Urteils zutreffend darauf hingewiesen, dass in diesem Falle dem Kläger bei einer Notbremsung das Anhalten ohne Kollision hätte gelingen müssen; denn der Anhalteweg auf der laut polizeilicher Unfallaufnahme trockenen Straße beträgt nach den Angaben des Klägers zwischen 27,7 und 25,2 m (vgl. Anhaltewegtabelle bei Kuckuk/Werny, Straßenverkehrsrecht, 8. Aufl., S. 1341).

§ 4 Abs. 1 StVO verlangt, den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug grundsätzlich so zu wählen, dass auch dann hinter ihm angehalten werden kann, wenn plötzlich stark gebremst wird (vgl. Senat VersR 2002, 1571 = NZV 2003, 41 KGR 2003, 31 = VRS 104, 103).

B

Soweit das Landgericht allerdings auf Seite 5 des angefochtenen Urteils ausführt, die Beklagte habe "nicht ohne zwingenden Grund gebremst" und der Kraftfahrer dürfe "plötzlich stark bremsen, ohne nicht den rückwärtigen Verkehr zu beobachten", ist dieser Grundsatz in dieser Allgemeinheit nicht zutreffend und passt nicht auf den Streitfall. Vielmehr betreffen die vom Landgericht zitierten Entscheidungen des Kammergerichts das Anhalten vor einer Ampel, die unmittelbar vor dem Kraftfahrer auf "Gelb" schaltet mit der Folge, dass er deshalb scharf bremst.

So war es im Streitfall jedoch nicht; vielmehr hat die Beklagte zu 1) im Abstand von etwa 75 - 100 m von vor der roten Ampel stehenden Fahrzeugen eine Vollbremsung vollzogen, weil sie mit dem Automatik-Fahrzeug nicht vertraut war und mit dem linken Fuß - in der Vorstellung die Kupplung zu treten - eine Vollbremsung vollzogen hat.

§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVO ordnet an: "Der Vorausfahrende darf nicht ohne zwingenden Grund bremsen".

Gegen dieses Gebot hat die Beklagte zu 1) verstoßen. Auch wenn damit - wie das Landgericht zutreffend bemerkt - der zu Lasten des Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis nicht erschüttert ist, steht damit jedoch eine Sorgfaltspflichtverletzung der vorausfahrenden Beklagten zu 1) fest, die im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile nach § 17 Abs. 1 StVG zu berücksichtigen ist.

Treffen starkes Bremsen ohne zwingenden Grund und unzureichender Sicherheitsabstand und/oder Unaufmerksamkeit zusammen, so fällt der Beitrag des Auffahrenden nach der Rechtsprechung des Kammergerichts grundsätzlich doppelt so hoch ins Gewicht (vgl. Senat, NZV 2003, 41 = KGR 2003, 21 = VersR 2002, 1571). Das führt dazu, dass der Auffahrende vom Vorausfahrenden in der Regel Schadensersatz nach einer Quote von 1/3 verlangen kann.

Eine ungünstigere Mithaftungsquote zu Lasten des Abbremsenden ist jedoch dann geboten, wenn der Auffahrende den Verkehrsraum vor dem Vorausfahrenden überschauen konnte und er aus diesem Grund nicht mit einem Abbremsen rechnen musste. Je nach den Umständen des Einzelfalles kommt eine Haftung des Abbremsenden nach einer Quote von 1/2 (vgl. KG VM 1982, 88) oder sogar dessen volle Haftung in Betracht (KG VM 1993, 27; Anfahren nach Umschalten der Ampel auf Grün und dann plötzliche Vollbremsung).

Die Mithaftung des Vorausfahrenden ist um so größer, je unwahrscheinlicher nach der Verkehrssituation ein starkes plötzliches Abbremsen ist (vgl. Senat, Urteil vom 30. Mai 1995 - 12 U 5941/93 - m. w. N.).

Im Streitfall hält der Senat eine Haftungsverteilung 50: 50 für angezeigt, und zwar insbesondere im Hinblick auf den groben Fahrfehler der Beklagten zu 1) und den großen Abstand des Unfallortes von den vor der roten Ampel wartenden Fahrzeugen von 75 - 100 m; andererseits musste der Kläger - wegen der roten Ampel ohnehin mit einem Bremsen der Beklagten zu 1) rechnen (im Unterschied zur Vollbremsung nach Ampelstart).

C

Die Schadenshöhe ist unstreitig, die Zinsen waren zuzusprechen, da sich die Beklagten mit Ablauf der ihnen gesetzten Frist in Verzug befanden.

II Die Revision war nicht zuzulassen, da weder die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Absatz 1 Nr.1, Absatz 2 ZPO n. F.).

III Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Absatz 1 ZPO. Die weiteren prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.



Ende der Entscheidung

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